Brief Nr. 49 – 1.6.1856
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49 1.6.1856
[Sonntag, 1. Juni 1856]
Liebe Mama!

Frau Meier Finsler,327Elisabeth Cleophea Felicitas Meyer-Finsler *1819, war verheiratet mit dem Juristen Heinrich Meyer-Finsler (1817-1896), einem Vetter von Conrad Ferdinand Meyer. Seine Frau Félicie war eine Freundin Johanna Spyris. Meta Heusser erwähnt sie in den Memorabilien der Zeit am 16. August 1854.schliessen die vollständig in unser Geheimniß328Die junge Dame, um die sich Christian in dem Moment bemüht, nennt er leider nirgends mit Namen. So ist nicht zu erschliessen, um wen es sich handelte. Aus den Briefen ergibt sich, dass sie in Rapperswil wohnte. Die Frauen der Familie unterstützten offensichtlich seine Werbung.schliessen eingeweiht ist, hat mir gerathen, die Alpenrosen mit einigen Versen zu begleiten, im Nothfall, wenn ich selbst Nichts zu leisten im Stande sei, dieselben von Hanni machen zu lassen. So ganz unverblümt mag ich mich aber doch nicht mit fremden Federn schmücken; ich habe daher selbst einen Versuch gemacht, obgleich ich dabei das lebhafte Gefühl habe, daß ich kein Dichter bin. Nun möchte ich das Ding einmal Deinem Urtheil vorlegen, ob ich dasselbe, wenn Du vielleicht daran noch einige Härten und Ungereimtheiten ausbesserst, abgehen lassen kann:


Im Blumenkleide der Natur / In Gärten, Wiesen, Auen
Kann jedes Menschenaug die Spur / Des eignen Ich erschauen.
Fühlt nicht (die Lilie?) schlank und groß / Und stolz und farbenprächtig
Viel höher sich, als jenes Moos / Farblos, bescheiden, schmächtig?
 
Die Rose ists, die lange schon / Durch stolzen Bau vor Allen
Durch Wohlgeruch und Farbenton / Dem Menschenaug gefallen.
Sie ist es, die als Mensch gefaßt, / Mit Adel, Feinheit, Bildung
Begabt, die große Menge haßt, / Und ihre falsche Huldigung.
 
Ich kenn ein ander Röschen noch / Das auch die Menge fliehet,
Das nur am Gletscherrande hoch, / Am ewgen Schnee erblühet.
An dieser Rose schlichtem Bau / Die nicht Bewunderung begehrt,
Den kindlich frommen Sinn ich schau, / Der jeden Schweizer ehret.
 
[S.2] Ich kenn ein Drittes Röschen noch, / Seit Kurzem erst, doch mächtig
Ergriff es mich, weil einfach es / Zugleich und farbenprächtig!
O Blümchen, das die Herrlichkeit / Der beiden Rosen einet,
Bleib fort in alle Ewigkeit / Vom Sonnenstrahl bescheinet!

Ich selbst habe an diesem Fabrikat Folgendes auszusetzen: Was den ersten Vers betrifft, so hatte ich diesen Gedanken schon oft, wenn ich verschiedene Blumen sah; ob aber die Wahl der Lilie gelungen ist, weiß ich rein nicht, da ich mir augenblicklich eine Lilie gar nicht vorstellen kann. Dieser Punkt ist auch der Grund, warum ich Dich und nicht Hanni, welches auch Nichts von Blumen versteht, um die Correktur bitte. Im zweiten Vers weiß ich, daß der letzte Vers nicht ins Versmaß paßt, auch dem Sinn nach könnte wohl leicht etwas Besseres gesagt werden.

Was ich in der zweiten Hälfte des dritten Verses sagen will, wirst Du schon merken; indeß finde ich, habe ich dafür die rechten Worte, den rechten Ausdruck gar nicht gefunden.

Im letzten Vers ist die letzte Linie zu prosaisch und gar nicht zu dulden.

[S.3] Wenn Du mir also diese Stellen etwas ausbessern willst, so denke ich, kann ich es vor meinem Gewissen entschuldigen, das so veränderte Gedichtchen abgehen zu lassen. — Weißt Du noch andere Verbesserungen anzubringen, so werden dieselben, wenn sie nicht allzu weit gehen, mit Dank angenommen.

So bald ich das verbesserte Gedicht erhalten haben werde, werde ich dir die Abschrift nebst der Adresse unmittelbar zurücksenden; vor Ende der Woche werden die Blumen wohl nicht blühen; sonst bitte ich Dich zu eilen, da die ersten Blüthen immer die lebhaftesten und schönsten sind, und ich überhaupt die Sache fördern möchte.

Bis jetzt stehen die Chancen für mich ganz gut; nur daß sich eben Alles langsam entwickelt.

Dein tr. Sohn:
J. Ch. Heußer.
Sonntag, den 1t. Juni 1856


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