Brief Nr. 4 – 16.3.1848
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4 16.3.1848
Berlin den 16t. März 1848
Liebe Eltern!

Ich schreibe jetzt schon, wo Ihr vielleicht noch keinen Brief von mir erwartet, da ich erstens nicht weiß, ob vielleicht bei dieser unruhigen Zeit ein Brief von Euch verloren gegangen ist (ich habe nämlich noch keine Antwort erhalten auf meinen Brief vom 30t. Januar) und da ich zweitens denke, Ihr werdet vielleicht beunruhigt durch übertriebene Gerüchte über Verwundungen einzelner Berliner-Studenten. Und weil ich gerade bei diesem Punkt bin, will ich Euch gleich Einiges von den Unruhen in Berlin mittheilen.56Heusser verfasste diesen Bericht schon am 16. März, als die Revolution noch kaum begonnen hatte, ein Hinweis darauf, wie wichtig ihm trotz seinem behaupteten Desinteresse die Ereignisse waren.schliessen Die Nachrichten von den großen Ereignissen in Paris wurden hier in Berlin ganz verschieden aufgenommen, doch auch bei den höhern Ständen nicht mit so allgemeinem Widerwillen, wie man hatte erwarten können; so z.B. hatte die Familie Roose ihre Freude daran, so wie an dem Losreißen von Neuenburg; ferner waren in den Conditoreien, wo man die Zeitungen liest, die Meinungen sehr getheilt, und in Vieler Augen sah man die größte Freude strahlen. Bei der niederen Classe scheint nur Eine Stimme der Freude gewesen zu sein, und bald regte sich der Wunsch, auch mit Fordrungen hervorzutreten, besonders, als es auch in den Süddeutschen Staaten losgieng. Es wurden nun einige Versammlungen gehalten, an denen 3000-4000 meist Arbeiter, Theil nahmen, und eine Petition zur Erlangung von Preßfreiheit, Nationalbewaffnung, Sicherstellung der Arbeit, und einiges Andere beschlossen. Als man hörte, der König habe die Petition sehr ungnädig empfangen, sollte letzten Montag den 13t. wieder eine Versammlung gehalten werden. Aber unterdessen war viel Militär in Berlin zusammengezogen worden; die Versammlung wurde umringt und aufgefordert, auseinander zu gehen, was dann auch zwar mit Murren, aber ohne Widerstand geschah. Nun zog die Volksmasse in einzelnen Haufen durch die Stadt; hier gesellten sich eine Masse Buben von 14-16 Jahren zu ihnen, und zogen mit Zischen und Pfeifen durch die Straßen. Vor dem Palai[s] des Prinzen von Preußen sammelte sich dann eine große Menge, erhob ein schreckliches Gebrüll, Pfeiffen und Zischen, und einige Stimmen riefen: "Es lebe Frankreich"! Das Militär hatte sich mit aller Macht beim königlichen Schloß concentrirt; es kamen etwa 20 Uhlanen angeritten und trieben den ganzen Haufen auseinander. Sobald das Militär sich wieder zurückgezogen hatte, kamen [S.2] die Lehrbuben, die hauptsächlich ihre Freude an dem Skandal hatten und den größten Lärm machten, aus den Häusern und Schlupfwinkeln hervor, fingen den alten Lärm an, und stoben auch wieder aus einander, wenn die Cavallerie anritt. Dies wiederholte sich mehrmals, (ich war selbst Augenzeuge davon) ohne daß ein einziger verwundet wurde, weil in diesen breiten Straaßen, unter den Linden und in jener Gegend, die Volksmenge sich leicht zerstreuen konnte. Schlimmer lief es aber in den engen Straaßen der Königsstadt ab; dort war ganz der gleiche Lärm; aber wenn die Cavallerie ankam, so konnte die große Maße sich nicht gleich zerstreuen; so wurden eben viele verwundet, und zwar gerade die unschuldigen, denn, die den Lärm angehoben hatten, wußten auch gleich sich zu entziehen; dagegen hieb das Militär ziemlich schonungslos auf die Unschuldigen ein, die entweder nur als Zuschauer da waren, oder zufällig diesen Weg gerade gingen. So wurden Frauen verwundet, die am Arme ihrer Männer aus dem Theater kamen, ferner kriegten einige Studenten dort tüchtige Hiebe, und Kinder von 8-10 Jahren sollen sogar verwundet worden sein. Die verwundeten Studenten beklagten sich nun bei ihren Freunden, und in Folge dessen wurde vom Senat57Der Senat der Universität.schliessen eine allgemeine Studentenbewaffnung verlangt; ebenso erregten die Klagen der übrigen Verwundeten, Arbeitern und Bürgern bei ihren Bekannten großen Unwillen, so daß am folgenden Abend, Dienstags den 14t., wo sich noch viel größere Schaaren sammelten und den gleichen Lärm vom vorigen Abend wiederholten, das Volk beim Anrücken des Militärs an einigen Orten Widerstand entgegen setzte und Steine auf sie warf. Natürlich waren sie aber wieder bald zersprengt; und es gab eben wieder viele Verwundete. Dies erhöhte die Aufregung noch mehr und gestern Abend, Mittwoch den 15t. war wieder ganz die gleiche Geschichte, nur noch mehr Widerstand von Seite des Volks. Gestern sperrten sie bereits dem Militär den Durchgang über eine Brücke, und verwundeten Soldaten durch Steinwürfe. Dagegen war auch der Verlust auf ihrer Seite größer, da das Militär dies Mal feuerte, während an den vorigen Abenden nur das Militär eingeritten war. Wie viele an diesen 3 Abenden verwundet und getödtet worden sind, kann ich wirklich auch nicht einmal ungefähr angeben, da keine Zeitung auch nur ein Wort von der ganzen Geschichte veröffentlichen darf. Wahrscheinlich wird ganz das Gleiche heute Abend wieder vorfallen, da die Erbitterung immer größer wird. Das Volk wird zwar Nichts machen können, da es gar keine Waffen hat, und wozu die Sache am Ende führen soll, weiß [S.3] ich freilich nicht; Indeß scheint die ganze Bürgerschaft von Berlin immer mehr auf Seite des Volks treten und bestimmte Wünsche aussprechen zu wollen, umso mehr da die gleichen Unruhen sich in allen Provinzialstädten, Königsberg, Magdeburg, Breslau, Kölln etc. auch zeigen.

So viel von diesen Unruhen. Für mich ist es interessant, sie zu sehen, wenn ich mich auch natürlich ganz passiv dabei verhalte. Froh bin ich, daß diese Geschichten so ans Ende des Semesters gefallen sind, da man in dieser aufgeregten Zeit doch nicht so ruhig im alten Gleise der Arbeit fortgehen kann, und auch die Professoren durch die Tagesereignisse ziemlich von ihrem Gegenstand abgezogen zu sein scheinen. — Bis im Anfang des folgenden Semesters wird hoffentlich wieder Alles ruhig sein, und das Losreißen von Neuenburg hoffentlich nicht den Erfolg haben, daß wir Schweizer Berlin verlassen müssen, was mir sehr leid thäte; denn auf die Collegien des folgenden Semesters freue ich mich noch mehr, als ich mich auf dies Semester freute, besonders wegen der Astronomie, die ich bei dem berühmten Astronomen Enke58Johann Franz Encke (1791-1865), Mathematiker und Astronom, Professor an der Universität Berlin und seit 1825 Direktor der Sternwarte, die unter ihm 1832-1835 neu gebaut wurde. Vgl. M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin II 2, S. 440f.schliessen zu hören gedenke.

In der Familie Roose war ich seit meinem letzten Briefe öfters, und habe auch letzten [...]59Siegelausriss.schliessen vor 8 Tagen wieder da zu Mittag gespiesen; dagegen das Kränzchen bei Gelzer ist nun mit [Ende des]60Siegelausriss.schliessen Semesters auch zu Ende gegangen, und wenn Theodor, wie ich es in meinem letzten Brief [wünsch]te,61Siegelausriss.schliessen nicht etwa schon an Gelzer geschrieben hat, so soll er es nun nicht mehr thun. Herr Roose [will] gegen Ende April eine Reise nach Paris antreten, im Sommer den Mont-Blanc besteigen und dann über Zürich nach Berlin zurückkehren. Da er nun wahrscheinlich den Weg von Zug nach Zürich machen wird, und überhaupt unsere Gegend ganz genau kennt, so konnte ich nicht anders, als ihn einladen, Euch einen kurzen Besuch zu machen, überzeugt, daß Ihr ihn freundlich aufnehmen werdet.

Vor einigen Tagen wurde ich auch durch einen Besuch erfreut von jenem Gustav Röhrig,62Gustav Röhrig (1828-1919) war der Sohn von Anna Barbara Röhrig-Schlatter (1795-1840) von St. Gallen, die mit Meta Heusser eng befreundet gewesen war. Der Vater Friedrich Wilhelm Röhrig (1790-1842) war Kaufmann und lebte in Barmen / Wuppertal. Vgl. J. Ninck, Anna Schlatter und ihre Kinder, 2. Aufl. Leipzig 1935, S. 202, und R. Schindler, Memorabilien, Stammbaum der Familie Schlatter-Bernet.schliessen der vor etwa 6 Jahren einmal bei uns war; er ist gegenwärtig in Berlin als Militär, indem jeder Preuße 1 Jahr Militärdienste thun muß, und will nach Verlauf dieses Jahres, d.h. nächsten Herbst, an das landwirtschaftliche Institut nach Greifswalde gehen. Bis dahin denke ich noch öfters mit ihm zusammenzukommen; es ist auch ein Zahn stud. theol. da,63Siehe zu diesem Studenten den Anfang von Brief 7a.schliessen auf dem ich übrigens weniger halte als auf Röhrig.

An die Schweiz denkt hier Niemand mehr, seit die Geschichten in Frankreich losgebrochen sind; die kleinen Cantone werden jetzt wohl ganz auf den Null-Punkt hinuntersinken!

Euer tr. Sohn: J. Chr. Heusser, phil.

Ich habe keinen Platz mehr für die Grüße; sie gelten Allen!

[S.4] Ich bin näher zur Universität gezogen; meine Addresse ist jetzt:
Mittelstrasse No. 34 bei Wittwe Lange, 3 Treppen hoch.

Übrigens kann der Änderung der Wohnung wegen kein Brief verloren gegangen sein, da ich erst gestern gezogen bin, den 15t. März, und überhaupt die Wohnung jedes Studierenden im Universitätsgericht aufgeschrieben ist, also auch unter falscher Addresse, nur etwas später, ein Brief an sein Ziel gelangt.



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