Brief Nr. 36 – 1.12.1851
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36 1.12.1851
[Berlin, 1. Dezember 1851]
Meine Lieben!

Ich habe schon lange einen Brief von Hanni aus Zürich erwartet; da aber keiner anrücken will, muß ich also selbst erst die Feder ergreifen. Viel Neues passirt zwar hier nicht. Das junge Ehepaar Waser-Pestalozzi295Der Kaufmann Jakob Heinrich Waser (*1825) heiratete 1851 Bertha Pestalozzi (*1833): Zürcher Bürgerbuch von 1855.schliessen konnte ich nicht in Berlin herumführen, da es gerade an dem Tage ankam, als ich nach Sachsen verreisen wollte; und hätte ich nicht die Eisenbahn verfehlt, so hätte ich jene Leute gar nicht gesehen; so aber sah ich sie Abends noch ganz kurz in ihrem Gasthof. Was die erwähnte Reise nach Sachsen betrifft, so unternahm ich dieselbe in den schönen Tagen gegen Ende October, bloß um einmal wieder einige Tage zu Fuß zu gehen, und zwar mit Schinz von Erlenbach, der auf seiner Rückreise von hier nach der Schweiz begriffen war; er wird Euch wohl einmal besuchen und Näheres erzählen; es war eine der schönsten Touren, die ich je in Deutschland gemacht habe, und erreichte ihren Zweck, d.h. vollkommene Erholung ganz. Wieder nach Berlin zurückgekehrt traf ich denn auch den endlich aus London zurückgekehrten Wilhelm Rose; die gewöhnlichen Geschichten des Wintersemesters begannen; Einladung auf Einladung; ich nehme zwar nicht alle an, und Frau Rose sagte mir bei meinem letzten Besuch sogar, sie hätte nach Zürich geschrieben, daß ich mich so selten sehen lasse; aber es ist jetzt halt so; einmal collidirte die Einladung zu Rose's mit einer zu Weiss, und da nahm ich letztere an, obgleich Rose mich zuerst eingeladen hatte. Sollte Rose mir dies übelgenommen haben, so wäre es zwar Pech, aber ich muß mich immer mehr an Weiss anschließen. Es scheint dies aber nicht der Fall zu sein, denn erst gestern war ich wieder bei Gustav Rose zum Mittagessen. Specielles über diese Mittagessen zu erzählen ist nicht am Platz, da eines wie alle und alle wie eines sind. Wenn also, was wahrscheinlich ist, Frau Koch Euch einmal davon erzählt hat, so wißt Ihr den ganzen Spaß.

Im Übrigen passirt auch nicht viel Neues; Theater besuche ich selten, sondern habe viel zu thun und vorzubereiten, um eine Arbeit, die ich für nächsten Sommer vorhabe, gehörig durchzuführen; bei der Gelegenheit muß ich die Frage anbringen, wie viel Geld ich in der Ersparungskasse habe, und wie und bei wem dasselbe zu bekommen wäre; [S.2] Es ist nämlich möglich, daß ich mir im Sommer selbst ein optisches Instrument um einen ziemlich hohen Preis anschaffen muß; und da Herr Pfr.Wild sonst genug für mich zu bezahlen hat, so dachte ich daran, diese Ausgabe aus dem erwähnten Gelde zu bestreiten; mit oder ohne Wissen des Vaters ist mir ganz gleichgültig; es kommt bloß auf Euren Rath an.

In einem Eurer letzten Briefe erwähnt Ihr das Gerücht, das sich in Zürich verbreitet zu haben scheint, daß ich nach Königsberg gehen werde; es ist Nichts daran und rührt bloß her von dem Geschwätz eines nach Zürich zurückgekehrten Theologen. Was ferner die Stellung in den chemischen Fabriken in Rußland betrifft, die Du liebe Mama ebenfalls in einem der letzten Briefe erwähnst, so kenne ich diese wohl; es würde mir auch wohl möglich werden, eine solche zu erhalten; es sind dies aber rein praktische Stellungen, und die Reichthümer, die man sich dabei erwerben kann, rühren nicht von einer hohen fixen Besoldung her, sondern werden bloß durch Betrügerei erhalten. Die Fabrikbesitzer bezahlen gerade darum, weil sie wissen und darauf rechnen, daß sie betrogen werden, sehr kleine Gehalte an ihre Angestellten. Ich kenne diese Geschichten genau, da einer meiner Bekannten vor einem halben Jahr an eine solche Stellung abgegangen ist, mir Alles weitläufig auseinandergesetzt und nicht verhehlt hat, daß er seinen Principal bemogeln müsse und werde, um auf einen grünen Zweig zu kommen. Nun habe ich aber erstens keine große Lust zu einer solchen Mogel-Carrière, und zweitens war mein Bildungsgang, besonders in letzter Zeit ein rein theoretischer, wissenschaftlicher, so daß mir nicht viel anders übrig bleibt, als zuzuwarten, bis man mich an irgendeiner Lehranstalt gebrauchen kann. Unterdessen muß ich mich natürlich ganz auf Hr. Pfr. Wild verlassen, der mich eben auch auf diesen Weg geführt hat. Viel Geld wird jedenfalls nie dabei herauskommen, um Geld zu verdienen hätte ich allerdings eine praktische Carrière einschlagen müssen. Indeß bin ich ganz zufrieden, etwas wird sich mit der Zeit auch für mich finden, bloß weiß ich nicht, wie lange es dauert. Von Theodor und seiner Frau habe ich lange Nichts gehört; kann er jetzt existiren, oder fürchtet er noch immer zu Grunde zu gehen? überhaupt sein ganzes Verhältniß zu Euch und zu seiner Frau u.s.w. Ferner befürchtete man ja, so besonders Nany, als ich von Hause fortging, daß Salomon Tobler in Rümlingen nicht länger bleiben könne,296Salomon Tobler blieb von 1840 bis 1864 Pfarrer in Embrach, das Gerücht war demnach unbegründet.schliessen und zwar [S.3] Schulden halber; er wird aber wohl noch dort sein, oder was ist aus ihm geworden? Wie steht es im Pfarrhaus Hirzel? Von Hr. Pfr. erwarte ich längst einen Brief, aber wie es scheint, findet er keine Zeit; hat er immer noch so viel mit seinen Jungen zu thun? — Bald haben wir schon wieder Weihnachten und Neujahr; da möchte ich wohl zu Hause sein, aber es geht einmal nicht. Vor einem Jahr dachte ich nicht, daß ich jetzt noch hier sein werde, sondern glaubte, daß jetzt bereits über meine Zukunft entschieden sei. Nun bin ich freilich noch immer in der alten Ungewißheit, dafür hat sich aber doch viel in meiner Stellung geändert, und jedenfalls habe ich größere Aussichten; daß ich jemals in so vertrauten und durch gar Nichts gehinderten Umgang mit den hiesigen Professoren zu stehen kommen werde, hätte ich früher und auch vor einem Jahre noch nicht ahnen können; aber jetzt ist es so, und mit Magnus, den ich vor einem Jahr noch nicht einmal kannte, bei dem ich nie ein Colleg gehört, stehe ich jetzt am besten von allen. — Von meinen Arbeiten werdet Ihr nicht viel verstehen; daher bloß so viel, daß ich jetzt wieder einen ganz ähnlichen Gegenstand vorhabe, wie der in meiner Dissertation297Die Dissertation war lateinisch abgefasst: De nonnullorum formiatum crystallinis formis, Berlin 1851.schliessen behandelte (— beiläufig gesagt, einen deutschen Abdruck meiner Dissertation aus Poggendorff's Annalen298Die deutsche Fassung von Heussers Dissertation erschien unter dem Titel "Über die Krystallformen einiger ameisensauren Salze" in Poggendorfs Annalen 83, 1851, S. 37ff. Seine Arbeit "mit ähnlichem Gegenstand": "Über die Krystallformen einiger citronensauren Salze" erschien in Poggendorfs Annalen 88, 1853, S. 121ff.schliessen werdet Ihr durch Schinz erhalten haben —) Im Frühjahr aber wird die optische Arbeit vom vorigen Sommer wieder aufgenommen. Darauf freue ich mich unendlich; das Licht ist doch wahrhaftig eine der interessantesten Erscheinungen im ganzen Gebiete der Natur! Und gerade das Licht giebt den größten Aufschluß über den innern Bau der Krystalle und durch letztere bin ich überhaupt zur Optik gekommen. Das sind zwar Sachen, die Euch nicht viel interessiren werden; indeß habe ich Nichts anderes zu schreiben, denn in der geogr. Gesellschaft, in welche einzutreten ich vorhatte, und deren Verhandlungen allenfalls auch für Euch zugänglich und von Interesse wären, kann ich diesen Winter noch nicht kommen, da das dumme Gesetz existirt, daß man sich ein halbes Jahr vorher melden muß; dagegen in der physikalischen Gesellschaft und in einem engern physikalischen Kreis, den Magnus leitet, bin ich allerdings, aber was hier vorkommt, ist so speciell, wie meine eignen Arbeiten, also von keinem Interesse für Euch.

Wenn Ihr Theodor seht, so könnt Ihr ihm nebst Gruß sagen, daß ich dem Hauser, den er mir empfohlen für ein ordentliches Logis gesorgt habe, ihn aber im Ganzen selten sehe, da ich nicht mehr mit den Schweizern gehe. Schreibt bald!

Grüße an Tante W., Rümlingen, Pfarrhaus Hirzel u.s.w.! Euer: J. Ch. Heusser.
Berlin den 1t. Decbr. 51.


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