Brief Nr. 34 – 21.9.1851
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34 21.9.1851
[Berlin, 21. September 1851]
Meine Lieben!

Ich war krank, und habe deswegen so lange nicht geantwortet, indem ich erst die völlige Genesung abwarten wollte; ich schrieb schon im letzten Brief von Unwohlsein, glaubte aber damals, daß die Sache wieder besser sei; nun packte es mich aber doch immer wieder an, bis ich mich zuletzt an einen Arzt wandte, der mich einige Tage zu Bette liegen ließ286Aus diesen Krankheitstagen stammt der erste erhaltene kurze Brief vom 6. September 1851 an Gottfried Keller: Vgl. Zusätzliche Dokumente Nr. I.1 unter Materialien.schliessen und sehr theilnehmend behandelte. Jetzt fühle ich mich wirklich wieder ganz wohl und der ganze Unterschied von meinem sonstigen Leben ist bloß noch der, daß ich täglich Nachmittags 1 bis 2 Stunden im Thiergarten herumrenne, indem mir der Arzt Bewegung besonders empfohlen hat. Diese Spaziergänge haben wirklich guten Erfolg, und ich glaube auch, die ganze Geschichte war nichts anderes, als daß ich, nachdem ich mich zu Hause wieder einmal frei bewegt, mich erst nicht recht an dies Leben ohne Bewegung in Berlin gewöhnen konnte. Daß mir der Thiergarten in seiner Einförmigkeit, ohne alle Abwechslung, ohne eine Aussicht, auch schon langweilig genug vorkommt, versteht sich von selbst; indeß da läßt sich jetzt halt Nichts machen. — Bei diesen Spaziergängen habe ich auch schon oft genug an Theodors schönes Eheverhältniß gedacht; es ist traurig genug, aber ich glaube halt, die Sache hat ganz gefehlt; weiter kann ich mich darüber nicht aussprechen, bin übrigens weit entfernt seiner Frau irgend welche Schuld beizumessen; ihm würde ich einfach rathen Uli den Pächter von Bizius zu lesen, weiß aber wohl, daß er es nicht thut, und daß es auch am Ende Nichts helfen würde. Und leid thut es mir für Theodor, daß er aus seinen großen Städten und von seinen Theatern und Lebensgenüssen aller Art nicht mehr Menschenkenntniß mit nach Hause gebracht hat, und aus seiner frühern Liebesgeschichte Nichts gelernt hat, kurz daß er jetzt da sitzt, wie jeder andere, der um's Geld die Menschen gesund machen will, und außerdem auf Gottes Erdboden an Nichts mehr Interesse hat. Dabei hat er frei[S.2]lich eine gesicherte Existenz, ich dagegen nicht; aber es ist Wurst, es wird sich am Ende wohl auch etwas für mich finden; ich möchte doch nicht in seine Fußstapfen eintreten, auch wenn mir die Lust zur Medicin noch unvermuthet im Traume kommen würde. Er wird sich nun wohl auch nach und nach mit dem Antiquen gut stellen und letzterer wohl noch seine Freude an Theodor auch im fernen Richterschweil erleben? Genug davon, aber Nachrichten erwarte ich darüber!

Nachrichten habe ich überhaupt schon lange erwartet, ohne eigentlich zu wissen, woher, und würde lieber Briefe erhalten als schreiben; indeß habe ich gar keinen Brief zu erwarten, als von Hr. Pfr. Wild; ist er wieder so eifrig hinter seinen Buben her, oder hat er etwa meinen Brief nicht erhalten, den ich kurz nach dem Brief an den Antiquen, also um den 20t. August an Herrn Pfr. geschrieben habe, daß ich noch keine Antwort erhalten habe. Indeß will ich nicht, daß Ihr ihn an die Antwort erinnert. Ich habe nun wirklich blutwenig zu schreiben, denn außer dem daß in den Ferien sonst Alles fort ist und Nichts von Interesse vorfällt, habe ich in den letzten Wochen auf meiner Stube auch gar Nichts erlebt, als Langeweile, Ärger und Heimweh. Roses habe ich bis jetzt auch immer umsonst erwartet, obgleich Ihr mir schon vor mehr als 3 Wochen schriebt, daß sie reisefertig in Zürich seien, und daß Ihr die Hemden etc. schon abgeliefert hättet. Tante Regeli danke ich bei der Gelegenheit für das Foulard, das ich zwar noch nicht habe, aber doch hoffentlich erhalten werde. —

Weiss ist nicht mit L. v. Buch gereist, sondern mit seiner Frau, wird aber, wie ich bereits im letzten Briefe geschrieben, wohl nicht nach Zürich kommen; wenn er aber kommt, so bringt er natürlich seine Frau mit, die zwar etwas geschwätzig, aber doch auch eine ganz interessante Frau287Mit der Zeit entwickelte Heusser für Frau Geheimrat Weiss eine Verehrung und Anhänglichkeit, die den Tod ihres Mannes viele Jahre überdauerte.schliessen ist. — Der Besuch von J. Horner288Wahrscheinlich Johann Jakob Horner (1804-1886), Lehrer der Mathematik am Gymnasium in Zürich und Oberbibliothekar der Stadtbibliothek. HBLS IV, S. 291.schliessen hat mich in hohem Grade interessirt; er ist zwar ein eigener Kerl, aber im Ganzen doch noch einer der vernünftigeren Stadt-Zürcher; wenigstens gewiß vernünftiger als der hochnäsige Junker von Knonau,289Gerold Ludwig Meyer von Knonau (1804-1858), Geograph und Geschichtsforscher, seit 1837 Zürcher Staatsarchivar. Er gehörte zum Freundeskreis von Meta Heusser, hatte 1826 und 1827 in Berlin studiert und Meta Heussers Gedichte bei seinen adeligen norddeutschen Freunden bekannt gemacht; in Meta Heussers Memorabilien der Zeit wird er öfters erwähnt; vgl. R. Schindler, Memorabilien, SS. 60-73 und 226-236, sowie M. Heusser, Hauschronik, S. 121f.schliessen der diesen Sommer auch in Berlin gewesen ist, und jetzt wahrscheinlich in Zürich damit renommiren wird, daß er von ferne an einige gelehrte und berühmte Männer herangerochen habe; in wirklichen Umgang mit solchen wird er wohl weniger gekommen sein; daß er hier [S.3] gewesen habe ich von meinem Arzte vernommen, den der Junker besucht hat, und den er glaube ich seiner Zeit Bruder Theodor empfohlen hat. Der Arzt heißt Erbkamm, hat übrigens von Theodor Nichts gesprochen, sondern dies sagte mir mein eigenes Gedächniß. — Letzthin wurde hier im zoologischen Garten ein blinder Bär, nachdem er erst chloroformirt worden, am Staar operirt; er erwachte aber nicht wieder, ob in Folge des in zu großer Menge genossenen Chloroforms, oder in Folge der Anstrengung, da er sich dem Fangen und Binden mit aller seiner Kraft widersetzte, weiß man nicht. In London soll vor einiger Zeit dieselbe Operation an einem Bären vollkommen gelungen sein.

Vor Kurzem starb der Graf Schlaberndorf,290Eigentlich Schlabrendorff. Um welchen der Grafen es sich hier handelt, muss offen bleiben.schliessen von dem ich einmal sprach, als ich bei Euch war, und den Ihr, glaube ich, von den Kriegszeiten her kennt. Der einzige Bekannte, den ich jetzt in Berlin habe,291Gemeint ist sicher Daniel Krull, der wie Heusser als Assistent bei Prof. Weiss arbeitete. Vgl. Brief Nr. 39 (14. 3. 1852).schliessen ist in dem Hause sehr bekannt und fährt auch jetzt fast wöchentlich zu der verwittweten Gräfin, deren Gut bloß ein Paar Eisenbahnstunden von Berlin entfernt ist. Der betreffende wollte mich auch schon mit dahin nehmen; ich mochte aber nicht, wünsche dagegen genau zu erfahren, was Ihr von dem Grafen Schlaberndorf wißt. Daß es derselbe ist, den Ihr meint, könnt Ihr daraus schließen, daß er mit Scharnhorst292Gerhard Scharnhorst (1755-1813), preussischer General, ab 1807 Chef des Generalstabs und zusammen mit Graf Gneisenau Organisator der preussischen Heeresreform.schliessen nahe verwandt war, und 1814 mit nach Paris zog. —

Im October werde ich vielleicht noch einmal für 8 Tage Berlin verlassen, um mich etwas im Harz, in Sachsen oder im Thüringerwald herumzutreiben; ich weiß es übrigens noch nicht sicher, es wird von der Witterung und davon abhangen, ob ich diesen Winter noch ein Colleg mitnehme, das am 16t. October beginnt, was ich noch nicht sicher weiß; es ist dasselbe Colleg beim alten Weiss, das ich schon mehrere Male gehört habe, aber immer wieder hören möchte, und gerade der Anfang, die Einleitung ist die Hauptsache.

Inliegenden Brief möget Ihr auf die Post werfen; ferner wäre es mir lieb, wenn, wer von Euch in Zürich ist, einmal ins Haus Steinfels293Hans Rudolf Steinfels, Zuckerbäcker, (*1796) war verheiratet mit Anna Steinfels-Freudweiler. Vgl. Zürcher Bürgerbuch von 1851 und 1855.schliessen gienge, mir den Jungen grüßte und fragte, ob er nicht einen Brief einzuschließen hätte; es kann ja Alles durch Vermittlung der Frau Steinfels geschehen.

— Antwortet bald Eurem: J. Ch. Heusser.
Berlin den 21t. Sept. 51.


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