Brief Nr. 33 – 19.8.1851
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33 19.8.1851
[Berlin, 19. August 1851]
Liebe Eltern!

Es wird wohl an der Zeit sein, daß ich Euch einmal Nachricht gebe von meinen Erlebnissen, seit ich Euch im Juni verlassen habe.278Die Rückkehr nach Berlin schon nach wenigen Wochen im Spätsommer 1851 zeigt, dass sich in Zürich nicht so rasch eine einträgliche Stellung finden liess und deshalb die Weiterbildung in Berlin angezeigt war.schliessen Die Reise gieng also durch Bayern ziemlich rasch und ohne etwas Interessantes zu bieten nach Berlin, wo ich den wenigen mir noch bekannten Schweizern ganz unerwartet ankam. Ich selbst fand mich hier bald wieder zu Hause, doch dauerte es einige Zeit, bis ich mit dem Arbeiten wieder ganz im Gange war, da der Unterbruch von 3 Monaten mich doch vieles hatte vergessen lassen; jetzt bin ich übrigens mitten drin, und werde auch während der ganzen langen Ferien, wo sonst Alles, Professoren, Doktoren, Studenten, Assistenten Berlin verläßt, meine Arbeit hier fortsetzen. Es ist dies übrigens eine besondere Vergünstigung, die mir Magnus279Heinrich Gustav Magnus (1802-1870), der hervorragende Physiker und Chemiker wurde während Heussers zweitem Aufenthalt in Berlin zu seinem wichtigen Förderer. Im Privatlabor, das Magnus auf eigene Kosten in seinem Hause betrieb, konnte Heusser einen Arbeitsplatz belegen. Zu Magnus vgl. ADB 20, S. 77-90, und M. Lenz, Die Universität Berlin II 1, S. 509f. und II 2, S. 368.schliessen gewährte, da sonst immer sein Laboratorium und physikalisches Cabinet während seiner ganzen Abwesenheit geschlossen war; überhaupt bin ich auch von allen andern mir bekannten Professoren so freundlich aufgenommen worden und habe in Allem so sehr auf ihren Rath und ihre Hülfe zu zählen, daß ich jedenfalls nur froh bin, wieder nach Berlin zurückgekehrt zu sein. Wäre auch das Leben in Wien viel angenehmer gewesen — denn es giebt wirklich nur Ein Wien — so wäre ich doch wahrscheinlich da unten versimpelt es wäre mir gegangen, wie den Meisten, sogar bewährten Gelehrten; sobald sie nach Wien kommen, lassen sie sichs wohl sein, legen sich auf die faule Haut und genießen das Leben nach Wiener-Art. Hier in Berlin aber habe ich wenig Gelegenheit von dem mir einzig nützlichen und nothwendigen Wege abzufallen; und dieser ist, mir möglichst bald durch Arbeiten einigen Ruf zu verschaffen um mir für die Eidg. Hochschule nicht durch Protektionen sondern durch eigenes Verdienst einiges Gewicht in die Waageschaale zu legen. [S.2] Und was diese letztere Anstalt betrifft, so scheinen mir nach den letzten Nachrichten, wenn auch die Frage wieder etwas aufgeschoben ist, die Auspicien doch sehr günstig. —

Der alte Prof. Weiss, von dem ich Euch auch öfters erzählt, und die Hoffnung ausgesprochen habe, daß er nach Zürich kommen und Euch besuchen werde, ist nun allerdings nach der Schweiz verreist, sammt seiner Gattin; indeß gedenkt er vorzugsweise die westliche Schweiz Chamuni,280Wohl Chamonix.schliessen, Wallis und Genfer-See — zu bereisen und wird so wahrscheinlich gar nicht nach Zürich kommen, was mir allerdings sehr leid thäte, da ich glaube, daß er sich für mich interessirt und als ein Mann von großem Rufe mir in Zürich nur nützen könnte. Ich habe noch an einem der letzten Sonntage, als er in Berlin war bei ihm Mittag gespeist, wobei er sehr freundlich und unterhaltend war; übrigens hat er mir noch auf andere Weise seine Gunst zu erkennen gegeben, so daß ich nicht mehr zweifeln darf, daß er mir wegen meines Verhältnisses zu Prof. Gustav Rose Nichts mehr nachtragen wird, was mir viel erleichtert hat, das ich von meinem neuen Aufenthalte in Berlin fürchtete. —

Theater habe ich, seit ich wieder hier bin, einige Mal besucht, so z. B. die kleine Oper "Martha",281Die Oper "Martha" von Friedrich Freiherr von Flotow wurde mit grossem Erfolg 1847 uraufgeführt.schliessen von der zufällig während meiner Anwesenheit zu Hause oft die Rede war: sie hat allerdings eine ganze Menge lieblicher Melodien, die man alle Tage irgend wo hört, aber etwas Tiefes ist nicht drin. Dagegen ärgerte ich mich daß ich die berühmte Rachel282Rachel (1821-1858) war die wohl berühmteste Schauspielerin ihrer Generation. Sie trat hauptsächlich in Paris in grossen klassischen Rollen, insbesondere als "Phèdre" in Racines Tragödie auf.schliessen aus Paris, die mit einer französischen Bande etwa 10 Tage hier gastirte, nie sehen konnte; der Grund davon war, daß ich gerade während der Zeit (es war die letzte Woche und zweite Hälfte der vorletzten) unwohl und zu gar Nichts fähig war; es war dies wirklich das erste Mal in Berlin, daß ich mich einige Tage unwohl fühlte; doch auch dies Mal half sich glücklicherweise die Natur ohne Arzt, und jetzt bin ich wieder vollkommen wohl, so daß Ihr ganz ruhig sein könnt. Das Ganze war eine ungeheure Müdigkeit und Erschlaffung, bisweilen mit Kopfschmerzen von den Augen ausgehend, [S.3] welch letztere ich übrigens einer starken Anstrengung der Augen bei einer optischen Arbeit zuschrieb. Zugleich war während der ganzen Zeit eine ungeheure Hitze und schwüle Luft, wie sie nur Berlin entwickeln kann; nun kam ein bedeutendes Gewitter und darauf noch einige Tage Regenwetter; die Luft wurde rein und mir [von] Stunde an wieder wohler. Beiläufig gesagt hat dies Unwohlsein auch den Brief um einige Wochen verspätet. — Theodor ist also nun schon lange Zeit verheirathet und wahrscheinlich schon längst von seiner Reise und seinem schönen St. Moritz zurück und wieder in Richterschweil; in St. Moritz, wo übrigens ja Mama, Netti und Nany dabei waren,283Vom 20. Juli bis 16. August 1851 enthalten Meta Heussers Memorabilien der Zeit 15 Einträge zu dieser Reise ins Engadin.schliessen mag es famos gewesen sein, ich erbitte mir darüber einige nähere Nachrichten, da ich ja das Land gar nicht kenne, aber es jedenfalls auch einmal kennen lernen muß. Wie steht es denn eigentlich mit Pfr. v. Birch; ich erwartete ihn bis jetzt täglich in Berlin, aber umsonst; hat er denn seine Reise auf den Herbst verschoben, oder wieder ganz aufgesteckt? Allerdings in großen Städten [...]284Siegelausriss.schliessen mehr im Herbst oder Anfang Winters als im Sommer; daher er den Plan [nicht] aufgeben, sondern einmal im October die Reise antreten möge. Zu [beschwerlich ...] wird ihm hoffentlich die Reise nicht fallen, hat sie doch diesen Sommer auch der dicke Pfarrer Weiss285Felix Kaspar Weiss (1790-1863) war Feldprediger, dann bis 1818 Pfarrer in Albisrieden. Er gab das Pfarramt auf und wurde Lateinlehrer und Prorektor am unteren Gymnasium, ab 1831 Erziehungsrat. Zürcher Pfarrerbuch, S. 608.schliessen von Zürich ausgeführt, mein ehemaliger Lateinisch-Lehrer vom untern Gymnasium, den ich übrigens nie leiden konnte und auch in Berlin nicht etwa aufsuchte, dagegen sogleich erkannte als er mir mit seinem wohlgemästeten Leibe einmal unter den Linden begegnete. —

Gegenwärtig bin ich wirklich ganz ohne alle Bekannte hier; bei dem schönen Wetter hat eben Alles Berlin verlassen und bringt August und September außerhalb zu; ich werde jedenfalls bis Ende September hier bleiben, dann aber vielleicht in den letzten Tagen September oder ersten Tagen des October etwas ausspritzen nach dem Harz, oder nach dem Erzgebirg und Freiberg. — Sollten Hr. Roses noch in der Schweiz sein, so bitte ich sie freundlich zu grüßen; ich denke Mad. R. wird wohl noch dort, Herr R. aber bereits nach London aufgebrochen sein. Ferner grüßt herzlich Tante Wichelhausen, Hr. Pfr. Wild's und alle übrigen Bekannten,

Euer tr. Sohn: J. Ch. Heusser.
Berlin den 19t. August 51


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