Brief Nr. 31a – 30.1.1851
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31a 30.1.1851
[Berlin, 30. Januar 1851]
Liebe Eltern!

Endlich ergreife ich die Feder, um Euch den Empfang der letzten Gelder anzuzeigen; es geschah nicht früher, weil ich gerade noch in den letzten Tagen mit meiner Arbeit beschäftigt war, die jetzt von Stappel gelaufen ist. Es wäre schon früher geschehen, wenn nicht Prof. Gustav Rose mich noch einige Zeit aufgehalten hätte, er wollte, was mir allerdings sehr angenehm war, meine Arbeit, bevor ich sie eingab, einmal durchsehen, konnte aber damals nicht gleich, als ich meine Arbeit vollendet hatte, da er in jener Zeit sich auf eine Vorlesung der Akademie vorbereiten mußte. Jetzt aber endlich ist alles vollendet und die Arbeit eingegeben und ich muß nun eben abwarten, bis sie bei allen Professoren cirkulirt hat und ich zum mündlichen Examen citirt werde; wie lange es dauert, weiß ich nun nicht, aber jedenfalls dürft Ihr nicht zu früh Nachrichten von demselben erwarten, und braucht nicht zu fürchten, daß ich durchgefallen sei, wenn diese eben auch bis Mitte März ausbleiben. Mir wäre es am liebsten heute noch ins Examen zu gehen, da ich doch, was ich nicht schon weiß, in dieser Zeit nicht mehr lernen kann. —

Wie ich von W. Roses hörte, kommen im Februar Kochs268Der Zürcher Architekt Martin Koch (*1822) und seine Frau Marie Koch-Schweizer (*1822) waren Bekannte der Familie und befreundet mit Frau Wilhelm Rose in Berlin.schliessen von Zürich hierher, denen Ihr Briefe an mich mitgeben könnt; überhaupt freue ich mich diese Leute kennen zu lernen, und werde jedenfalls in dieser letzten Zeit meines Berlin-Aufenthalts noch recht oft zu Roses gehen.

Von Politik wird jetzt nicht mehr gesprochen, seit Preußen sich gründlich blamirt hat. Sonst fällt auch Nichts von Bedeutung vor. Theater und die übrigen Vergnügen kann ich jetzt doch noch nicht genießen, da ich immerhin etwas repetiren muß. Aber nach dem mündlichen Examen, in der Zeit von diesem bis zur [S.2] Promotion, für welche ich dann gar Nichts mehr zu thun habe, da will ich mir dann noch Berlin nach allen Dimensionen ansehen.

Letzthin war ich einmal zu Prof. und Geheim-Rath Ch. S. Weiss zum Mittagessen geladen, was mich einerseits unendlich freute, da ich den Mann am höchsten ehre von allen Lehrern, die ich jemals gehört, auf der andern Seite aber auch in Verlegenheit brachte, da Weiss mit Rose in zu schlechtem Vernehmen steht. Er ist letzten Herbst auch in die Schweiz gereist und am Hirzel vorbeigefahren, und hätte Euch besucht, wenn es nicht gerade geregnet hätte. Er ist ein Mann, der auch noch mit andern Celebritäten bekannt war, als bloß mit Chemikern und Physikern; so, um nur eine anzuführen, mit Chamisso,269Adelbert von Chamisso (1781-1838) stammt aus französischem Adel und war mit seinen Eltern vor der Revolution nach Preussen geflohen. Er lebte seit 1796 in Berlin. SL I, S. 844f.schliessen von dem Frau Prof. viel erzählte. — Zu Roses bin ich auch oft eingeladen, öfterer, als mir lieb ist. —

Vor kurzer Zeit bekamen einige Zürcher-Theologen von Hause Nachricht von einem traurigen Ende des jungen Fäsi,270Conrad Robert Fäsi (1827-1883), Sohn des Spitalverwalters Hans Conrad Fäsi, ist im Zürcher Bürgerbuch von 1855 und 1858 aufgeführt als "Dekorationsmaler in Newyork". Das Gerücht war demnach falsch. Fäsis Mutter Maria Fäsi-Gessner war eine direkte Cousine Meta Heussers: vgl. den Gessner-Stammbaum bei R. Schindler, Memorabilien.schliessen Sohn vom Spitalverwalter. Wenn ich ihm nun auch nie näher gestanden habe, so möchte ich denn doch wissen, ob solches Gerücht irgendwelchen Grund hat; nach demselben soll nämlich der betreffende Vetter wegen Diebstahl auf einem Schiff gehängt worden sein. — Ferner schreibt Ihr im vorletzten Brief, Pfarrer Waser271Johann Georg Jakob Waser (1798-1851) hatte als Vikar den altersschwachen Pfarrer Diethelm Schweizer in den Jahren 1823 und 1824 in seiner Gemeinde Hirzel unterstützt. Er wurde später Pfarrer von Altstetten und blieb in freundschaftlichem Kontakt mit Meta Heusser. Er starb am 21. Februar 1851, also kurz nachdem sich Christian nach ihm erkundigt hatte. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 53, und den Eintrag zum 7. 2. 1851 in den Memorabilien der Zeit der Meta Heusser.schliessen sei auf den Tod krank, im letzten aber gar Nichts weiter, so daß ich also auch nicht weiß, wie diese Krankheit geendet hat, was mich doch mehr interessiren muß, als die zum zweiten Mal erhaltene Nachricht von Theodor und seiner Braut Sprachlosigkeit, und die ebenfalls zum zweiten Mal erhaltene von Dr. J. Finslers272Jakob Georg Finsler (1826-1887) übernahm das Geschäft "Finsler im Meyershof" für medizinischen Bedarf von seinem Vater. Er heiratete 1851 Susanna Amalie Ulrich. Seine Mutter Louise Finsler-Gessner war eine direkte Cousine von Meta Heusser. Vgl. den Gessner-Stammbaum bei R. Schindler, Memorabilien.schliessen Brautschaft. — Auch vom Ende des Prozesses von Dr. Schmid habe ich Nichts mehr erfahren. —

In Berlin haben wir dies Jahr gar keinen Winter; die Witterung ist aber viel unangenehmer, als die Kälte der früheren Jahre; bei beständiger Feuchtigkeit ist alle Welt krank, d.h. ich mache eine Ausnahme, da ich bis jetzt noch ganz gesund war, bloß ein wenig Schnupfen hatte.

Vor einigen Tagen habe ich durch einen Zufall vernommen, daß ein Koch273August Koch (*1830) war der Sohn der Maria Koch-Schulthess, mit der Meta Heusser und Elisabeth Wichelhausen befreundet waren.schliessen von Oldenburg gegenwärtig hier studirt, und zwar aus jener Familie, die Ihr kennt, und die [S.3] ich vor zwei Jahren in Oldenburg besucht habe; wenn meine Abreise von Berlin dann nahe bevorsteht, werde ich ihn einmal aufsuchen; jetzt ab[er] noch nicht, da ich keine Zeit habe, neue Bekanntschaften zu machen. Von ihm werde ich wohl auch erfahren können, wie es in Bremen steht, da ich seit 2 Jahren Nichts mehr von hier gehört habe.

Dieser Winter ist im Ganzen doch der schönste, den ich in Berlin verlebt habe; wenn ich auch mit der Dissertation beschäftigt war, so bin ich doch mehr mit Leuten zusammengekommen, als in den frühern Jahren, wo ich ganz allein an der entfernten Marienstraße wohnte, und fast die ganze Woche Niemanden sah. Jetzt dagegen an der Dorotheenstraße ganz nahe der Universität und mitten unter den andern Schweizern, deren Umgang, außer dem eines einzigen, ich zwar nicht pflege; dieser dagegen, ein alter Bekannter von Zürich, zwar immer fidel, benutzt aber doch sein letztes Semester um hier noch etwas zu arbeiten. Er ist Jurist, heißt Bosshard,274Johannes Bosshardt (*1828) war 1847-1850 an der Universität Zürich als stud. jur. immatrikuliert und ging im SS 1850 nach Göttingen. Vgl. Matrikeled. der Universität Zürich 1833-1924. Mit Bosshardt blieb Heusser über viele Jahre in lockerem Kontakt.schliessen und wohnt bei einem Philister, dessen Bruder Bedienter am Hofe ist, und mit den königlichen Sachen fremde Weine einschmuggelt, vielleicht dieselben auch noch direkter bezieht. Kurz so kommt es, daß wir bei Bosshardts Wirth einen ausgezeichneten Wein um geringes Geld trinken und daher oft des Abends fidel bei diesem zusammensitzen. Er ist zwar verflucht radikal, wogegen ich mich nicht genire Sonderbündler zu sein, was zwar manchen Streit verursacht, der aber immer gut zu Ende geht.

Jetzt kann ich nicht mehr schreiben, sondern muß wieder repetiren.

Also den nächsten Brief nach dem Examen!

Euer tr. Sohn: J. Ch. Heusser
Berlin den 30t. Jan. 51.


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