Brief Nr. 29 – 22.10.1850
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29 22.10.1850
[Berlin, 22. Oktober 1850]
Liebe Eltern!

Vor 8 Tagen kamen endlich Hr. und Frau Rose in Berlin an, und erfreuten mich mit Euren Briefen mit den vielen und günstigen Nachrichten; günstig sowohl in Beziehung auf Theodors Angelegenheit als auch in Beziehung auf meine eignen, da mir wirklich Nichts erwünschter kommen könnte, als die Erlaubnis noch den ganzen Winter in Berlin zuzubringen. Es ist auch gewiß das Gescheidteste, was ich thun kann, da ich immer mehr mit den Professoren bekannt werde, und sehe, daß man durch persönlichen Umgang hundert Mal mehr lernt, als durch alle Vorlesungen. Übrigens, wenn ich auch gerne den Winter noch in Berlin zubringe, so bin ich dann doch froh, wenn derselbe vorbei ist, und ich wieder einmal nach Hause komme. Roses, von denen ich soeben komme — ich habe nämlich bei Prof. H. Rose Mittag gespeist, und daselbst auch W. Rose mit Frau getroffen — haben mir viel aus dem Hirzel und von Euch erzählt, und ich habe wirklich so eine Art Heimweh bekommen; kurz im Frühjahr ist es Zeit mit mir nach Hause zu kommen, und dies werde ich auch thun, falls ich nicht ein Schicksalsgenosse von Landis in Richterschweil werde,253Aus dem Zusammenhang muss man schliessen, dass Johannes Landis beim medizinischen Staatsexamen in Zürich durchgefallen war. Seine Praxis in Richterswil eröffnete er 1853, also drei Jahre später.schliessen was ich denn doch nicht hoffe; was übrigens diesen Landis betrifft, so kann man zwar Mitleiden haben mit ihm, aber wer ihn kannte, wusste das mit ziemlicher Sicherheit zum voraus. Weil ich doch einmal auf die jungen Seeherren zu sprechen gekommen bin, so will ich doch gleich mit Victor Hauser fortfahren. Er ist allerdings ein tüchtigerer Kopf als Landis, und ich begreife, daß er avancirt. Grüßen mögt Ihr mir ihn, aber schreiben kann ich ihm jetzt nicht, schon aus dem einfachen Grunde, weil Hauser nicht auf den Kopf gefallen ist und merken müßte, was ein so unerwarteter Brief — seit den 3 Jahren, daß ich fort bin, habe ich ihm noch nicht geschrieben — eigentlich bezweckt. Übrigens wenn ich irgend jetzt ein Bedürfniß hätte mir in Zürich hochstehende Gönner zu verschaffen, so würde ich doch eher an Dubs254Jakob Dubs (1822-1879), Jugendfreund von Theodor und Christian Heusser, wurde einer der einflussreichsten Zürcher Politiker: Zürcher Regierungsrat (1854), dann Ständerat und von 1861 bis 1876 Bundesrat, schliesslich Bundesrichter. Er war an der 1853 von Heusser eingeleiteten Rettungsaktion zur Tilgung von Gottfried Kellers Schulden in Berlin wesentlich beteiligt. 1856 vermittelte er Christian Heusser den Auftrag zur Brasilien-Mission.schliessen schreiben, den ich auch ganz gut kenne, und der bereits ein Amt hat, und zwar ein wichtigeres und einflußreicheres, als dasjenige ist, welches V. Hauser erst er[S.2]wartet; außerdem glaube ich mit beiden so gut zu stehen, daß ich mir nicht erst durch Briefe ihre Gunst wieder erwerben muß; und am Ende wird ein Doctor von Berlin auch nicht so sehr an einen Hr. Bezirksrichter von Horgen heraufblicken müssen; und auf diesen Doctor hin muß ich jetzt arbeiten, und habe nicht Zeit zum Briefe schreiben.

Ende September bin ich also wieder nach Berlin zurückgekehrt, habe aber auf der Reise hierher nicht viel Neues mehr gesehen, außer in Dresden die Gemäldegallerie, die das erste Mal, als ich in Dresden war, geschlossen war; diese hielt mich auch noch einige Tage in Dresden zurück; denn, wenn ich auch kein großer Kunstfreund, geschweige denn Kunstkenner bin, so haben mir doch einige Stücke sehr gut gefallen, und meine Aufmerksamkeit fast ausschließlich in Anspruch genommen, so vor allen Rafaels Madonna und dann einige Landschaften aus der holländischen Schule; übrigens bleibt die Kunst halt immer Kunst und es verschwinden die größten Meisterwerke derselben gegen die einfachsten Produkte der Natur, wie Blume, Krystall u.s.w.

Diesen Winter hoffe ich jenen Wolff von Magdeburg, der in den verflossenen Ferien nicht nach der Schweiz, sondern nach Ostende gereist ist, wieder in Berlin zu sehen; er wird auch so ziemlich mein einziger Bekannter sein; denn die Schweizer, die zwar wieder in Menge anrücken, sind jüngere Leute, die ich nicht mehr kenne, es sind wirklich so viele hier, wie vielleicht kaum vor den Revolutionsjahren, es ist zwar meist radikale Brut, die über Berlin und Preußen überhaupt schimpft, aber weil sie nicht im Stande sind, in der Schweiz selbst eine ordentliche Lehranstalt zu gründen, es unterdessen nicht verschmähen, Preußens Universitäten zu benutzen. —

Am letzten 15t. October, als dem Geburtstage des Königs waren wieder einmal die alten Festlichkeiten, die Stadt so schön und allgemein erleuchtet, wie ich sie noch nicht gesehen habe; vor zwei Jahren, also im ersten Herbst nach der Märzrevolution, waren bloß schwache Versuche in einzelnen Häusern, und die betreffenden, die erleuchteten, riskirten, daß man ihnen die Fenster einwarf; vor Einem Jahre riskirte man dies nicht mehr, darum erleuchteten damals auch alle Anhänger des königlichen Hauses, dagegen die ganze demokratische Parthei nicht. Dies Jahr waren aber fast alle Häuser ohne Ausnahme erleuchtet, da es sich um einen materiellen Vortheil handelte; der König hat nämlich versprochen, diesen Winter wieder einmal in Berlin zuzubringen; und nun wollte man ihn günstig stimmen, daß er bei seinem Entschlusse bleibe. Da na[S.3]türlich der ganze Handwerksstand und viele Kaufleute etc. großen Nutzen davon haben, wenn der ganze Hof sein Geld in Berlin in Cirkulation setzt. Nun war es wirklich ein schöner Anblick, die ganze Länge der Linden vom Brandenburger Thor bis zum königlichen Schloß jedes Haus, jedes Fenster erleuchtet zu sehen; wie gesagt blieben die andern Straßen nicht zurück; aber da sich fast der ganze Glanz von Berlin unter den Linden concentrirt, so verschwanden auch die andern Straßen dagegen und hier bloß wogte eine ungeheure Menschenmenge trotz des schlechtesten Wetters hin und her.

Eurer aller Reisen haben mich sehr gefreut; wohl möchte ich mit gewesen sein in Uri255Vom 8.-14. August 1850 notiert Meta Heusser in den Memorabilien der Zeit Stationen einer Reise im Kanton Uri, anschliessend 19./20. August "Rigireise", am 23. September dann "Theodors Verlobung".schliessen und Italien, aber am liebsten will ich doch einmal Theodors Landgut im Engadin, oder vielmehr das Engadin selbst sehen. Bei Anlaß von Uri fällt mir ein: W. Rose erzählte mir viel von dem verrückten Lußer,256Meta Heusser erwähnt in der Hauschronik einen Karl Franz Lusser von Altdorf (Kt. Uri), der dreimal, zuletzt 1850, in "geistig verwirrtem Zustand" ins Doktorhaus aufgenommen wurde und es geheilt wieder verlassen konnte. M. Heusser, Hauschronik, S. 93f.schliessen und machte seinen Gang und sein Trommeln so vortrefflich nach, daß ich mich lebhaft an dessen frühere Verrückten-Zustände erinnerte. Daß Nany in Uri tüchtig politisirte, glaube ich wohl; ich nehme den kleinen Kantonen bloß das übel, daß sie sich jetzt stellen, als seien sie mit der neuen Verfassung herzlich wohl zufrieden, und daß sie nicht lieber gerade heraussagen: wir tragen sie halt, weil wir müssen, weil sie uns aufgedrungen ist; sie brauchen nicht Opposition zu machen, und einen neuen Sonderbund zu bilden; das wäre allerdings Unsinn, aber sie könnten doch vollkommene Theilnahmslosigkeit zeigen, wie sie sich zum neuen Bunde verhalten! Übrigens lasse ich Nany grüßen und ihm für das Nastuch vielmal danken; es wird die Ehre haben, einige Mal bei Roses zu paradiren.

Natürlich habe ich auch die übrigen Sachen von Roses erhalten und den Wechsel sogleich bezogen; beim Geldpunkte angelangt, will ich Euch nun doch einmal sagen, wie es mit dem Finanziellen des Doktorexamens steht, damit Ihr Euch danach einrichten könnt, indem es doch eine ordentliche Summe wegnimmt; der Doktor selbst kostet nämlich 25 Frdr.257Ein Friedrichd'or entsprach demnach ungefähr 5 Thalern.schliessen = etwa 130 Thlr; dazu kommen die Druckkosten der Dissertation und einige Frdr. für das Examiniren der Professoren, so daß die ganze Geschichte, wie ich mir genau habe auseinandersetzen lassen auf 180 bis 200 Thlr kommt; und dies Geld werde ich etwa Ende Januar nöthig haben.

Von Tante Wichelhausen und Tante Regeli habe ich nicht gehört, welches Bad oder Kurort sie diesen Sommer besucht haben; also könnt Ihr mir gelegentlich dies auch noch schreiben!

Grüßet mir Alle vielmal, Euer tr. Sohn: J. Chr. Heußer.
Berlin den 22t. Oct. 50.


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