Brief Nr. 28 – 14.9.1850
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28 14.9.1850
[Wien, 14. September 1850]

Da ich den Brief nicht mehr in Berlin, sondern erst in Wien erhielt, so konnte die Antwort nicht früher erfolgen.

Liebe Eltern!

Da wahrscheinlich seit einiger Zeit Theodors Verlobung248Im Sommer 1850 hielt sich Theodor längere Zeit in St. Moritz auf. Sein vor die Chaise gespanntes Pferd war am Julier gestürzt und Theodor wollte abwarten, bis das Tier wieder gesund war. Dabei lernte er die Familie von Flugi und deren Nichte Regina besser kennen.schliessen all Eure Sinne in Anspruch nimmt, und "Flugy",249Regina von Flugi (1827-1897) wohnte im elterlichen Haus in St. Moritz; ihre Mutter hatte sie früh verloren, ihr Vater war kurz zuvor gestorben. Mit Johanna war sie seit ihren Schuljahren in Zürich befreundet. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 104-106.schliessen "Engadin" etc. jedes zweite Wort in Eurem Munde sein wird, so muß ich billigerweise zunächst auch einige Worte darüber sprechen. Wenn Theodor glücklich wird, freue ich mich natürlich von Herzen; was man gewöhnlich so nennt "sein Glück machen" das scheint Theodor allerdings gelungen zu sein, indeß hoffe ich nach Euren Briefen auch noch mehr. Ich kenne die neue Schwägerin natürlich gar nicht, aber daß es eine Bündnerin und keine Zürcherin ist, soll mir schon ein gutes omen sein! Vor der Hand gratulire ich; wenn ich erst noch etwas Definitiveres und Näheres werde gehört haben, so werde ich dann den Verlobten selbst schreiben; daß ich vor der Hand noch Stillschweigen beobachte, versteht sich von selbst.

Um auf meine eigenen Verhältnisse überzugehen, so wundert Ihr Euch vielleicht, daß dieser Brief von Wien her kommt und nicht von Berlin; ich halte mich nämlich seit 14 Tagen in Wien auf, theils des Vergnügens, theils des Studiums wegen, und bin dazu durch verschiedene Gründe veranlaßt worden, die Ihr hoffentlich billigen werdet, wenn Ihr sie erst höret. Mit Ende des Sommersemesters, d.h. in den ersten Tagen des August verreisen alle Professoren von Berlin und so auch Prof. H. Rose, dessen Laboratorium bis im Oktober geschlossen bleibt. Ich mußte also meine Dissertationsarbeit für diese Zeit unterbrechen, und es fragte sich, wo ich mich während der Zeit herumtreiben sollte; ich dachte bald an Wien, dessen bedeutende Sammlungen doch auch berühmt sind, und bin nun froh den Entschluß gefaßt zu haben, da ich nun immerhin sagen kann, ich habe Wien gesehen, und da Wien bei vielen Leuten, die zwar Nichts verstehen, aber großen Einfluß haben, doch mehr Respekt einflößt als Berlin. Glücklicherweise traf ich auf meiner Herreise in Prag Prof. Engel,250Der Mediziner Joseph Engel war 1842 von Wien an die Universität Zürich gekommen, wo er bis 1846 Ordinarius für Anatomie war. Im Frühjahr 1849 nahm er einen Ruf an die Universität Prag an. Vgl. E. Gagliardi, Die Universität Zürich 1833-1933, S. 449.schliessen der früher in Zürich war und sich noch meiner freundlich erinnerte, wenn ich gleich niemals etwas bei ihm gearbeitet hatte; kurz er gab mir doch einige Empfehlungen mit nach [S.2] Wien, die hier sehr gut aufgenommen wurden, so daß ich jetzt das Mineralienkabinet täglich besuchen kann, während es sonst dem Publikum bloß zwei Mal wöchentlich geöffnet ist, und daß mir außerdem alle die geologischen Karten und Pläne und die Bibliothek zu Gebote stehen. Ich habe mich nun täglich einige Stunden in der Sammlung aufgehalten und so ziemlich studirt; eine Vergleichung mit der Berliner-Sammlung anzustellen ist schwer; ausgezeichnetere Prachtstücke mögen hier in Wien sein, ob aber die Wiener-Sammlung auch reichhaltiger sei, das wüßte ich nicht zu sagen. So viel aber ist sicher, daß es mehr Mühe kostete die Berliner-Sammlung zusammen zu bringen, wenn man bedenkt, wie wenig die preußischen Staaten selbst bieten; welche Schätze dagegen in Östreich verborgen liegen; gewiß hätte Wien bloß aus den Mitteln Preußens keine Sammlung aufgestellt, wie sie Berlin hat, wohl aber hätte Berlin aus den Reichthümern Östreichs mehr gemacht als Wien, und würde dann gewiß Paris und London nicht nachstehen; ja Schätze und Reichthümer hat Östreich, aber bis jetzt fast keine Leute, die dieselben gehörig ausbeuteten; auch gerade jetzt ist ein einziger Mann hier von Bedeutung, während in Berlin halt viele sind, und kurz ich habe es nicht zu bereuen daß ich für meine Studien-Jahre Berlin ausgewählt habe, wenn auch allerdings jetzt [in] einem vorgerückten Alter mich die schönen Sammlungen von Wien nur in hohem Grad interessiren könnten. Von der Sammlung selbst will ich hier Nichts schreiben, da Ihr Euch doch nicht dafür interessiren könnt; nur so viel, daß auch von unseren Schweizer-Mineralien jedenfalls die schönsten Exemplare hier zu finden sind. — Was das Leben in Wien betrifft, so ist es zwar theuer, wie in jeder großen Stadt; aber für sein Geld kann man wenigstens sich es wohl sein lassen; so war ich vor Allem aus erfreut, wieder einmal einen guten Wein um einen mäßigen Preis zu trinken; und gut ist dieser Donau-Wein, das ist wahr! Kurz Berlin und Wien bilden halt vollkommen die Gegensätze des Südens und des Nordens, d.h. des Überflusses und der Entsagung; ob nun aber beim Überfluß oder beim Mangel ein tüchtigeres Volk herausgewachsen sei, ob Süddeutschland oder Norddeutschland den Vorzug verdiene, will ich nicht entscheiden; ich aber fühle mich doch mehr zum Norden hingezogen und gehe gern wieder nach Berlin zurück. Was das Theater betrifft, so sind diese hier [S.3] zahlreicher, und doch glaub ich in der Regel besser besetzt, wie denn eben das hiesige Volk in allen Beziehungen genußsüchtiger ist; das Haupttheater in der Burg mag dem Königlichen Schauspielhause so ziemlich gleich stehen, wenigstens jedenfalls würde ich mich nach einer Aufführung von Lessings Nathan d. Weise, die ich in beiden Theatern gesehen habe, nicht zu Gunsten der Wiener entscheiden; dagegen die vielen Theater für die Lokalpossen mögen die entsprechenden Berliner-Theater weit übertreffen; in der Oper war ich nicht. — Von der Umgebung von Wien habe ich leider noch nicht viel gesehen, da das Wetter zu schlecht war; so bin ich noch nicht einmal auf den Kahlenberg gekommen; dagegen bestieg ich einmal an einem wunderschönen Morgen den Stephansthurm, der alle andern Gebäude und Thürme Wiens weit überragt, und von dem aus man also die schönste Rundsicht über die ganze Stadt und Umgegend hat; es ist wirklich ein prachtvoller Anblick, besonders die nördliche Seite, wo die gewaltige Donau majestätisch dahin fließt, und drüber hinaus die fruchtbare Mährische Gesenke sich ausbreitet. Der Anblick der Stadt selbst ist zwar auch ganz schön, läßt sich aber doch gar nicht vergleichen mit dem der Stadt Prag von der ich nun auch noch einige Worte sprechen will. Den Überblick über Prag hat man bekanntlich vom Ratschin251Hradschin, der Burghügel von Prag.schliessen herab, und zwar am schönsten gerade aus den Säälen, aus welchen 1648 die 3 Katholiken von den Hussiten oder deren Nachkommen herausgeworfen worden; der Anblick von Prag ist darum so schön, weil die Stadt nicht in einer Ebene liegt, sondern auf den steilen Ufern zu beiden Seiten der Moldau sich erhebt, und durch ihre vielen Thürme und alten Paläste einen imposanten Eindruck gewährt. Kurz Prag hat mir gefallen, wie noch keine andere Stadt, und Böhmen überhaupt ist gewiß eines der schönsten Länder Europas, reich an Korn und Erzen, und seltenen Mineralien. Von Berlin aus reiste ich nach Prag nicht direkt, sondern durch Schlesien, indem ich wieder einmal eine Fußparthie machen und mir das Riesengebirge ansehen wollte; es ist dies entschieden das großartigste der Deutschen Gebirge, die ich gesehen habe, und somit, die existiren, und hat wirklich schöne und romantische Parthien; aber es fehlt die Hauptzierde eines Gebirgslandes, das Wasser; es sind zwar kleine Bäche da und diese bilden sogenannte Wasserfälle aber nicht continuirlich, sondern nur wenn Fremde kommen, indem das wenige Wasser durch Schleußen zurückgehalten, und dann vor den Augen der Fremden losgelassen wird. Der schönste dieser Fälle ist der Elbfall, der auf böhmischer Seite 80' hoch, doch ist die Elbe ebenfalls noch ein kleiner Bach; überhaupt ist die böhmische Seite großartiger und romantischer. Die Schneekoppe, die eine vollkom[S.4]mene Rundsicht gewährt und der schönste Punkt des Gebirges ist, bildet, als auf dem Kamme liegend die Grenze zwischen Östreich und Preußen. Zunächst fallen zu beiden Seiten 2000-3000' hohe, ziemlich steile, aber lange nicht senkrechte, weit hinauf mit Wald bewachsene Abhänge ab, und zwischen diesen Wäldern blicken bisweilen grüne Weiden mit kleinen Hütten durch; unterhalb dieser Region folgt zu beiden Seiten ein welliges Hügelland, mit den vielen kleinen Städten: Hirschberg, Warmbrunn etc., und darauf folgt endlich nördlich die große Ebene, deren Übersicht bloß durch den Horizont begrenzt ist. So komme ich auf meiner Reise von rückwärts wieder in Berlin an, habe aber von der langweiligen Eisenbahnfahrt von Berlin bis nach Benzlau in Schlesien Nichts zu erzählen.

In wenigen Tagen werde ich nun Wien verlassen und Ende September wieder in Berlin eintreffen, um dann sogleich meine Arbeit fortzusetzen, die ich in zwei bis drei Monaten einzureichen gedenke; wie lange sie cirkuliren wird, weiß ich nicht, aber auch abgesehen von dieser Cirkulation zieht sich das Examen doch nun weiter heraus, als ich ursprünglich dachte; indeß waren die Ferien, die ich der Dissertation entziehen mußte, Nichts weniger als verloren, im Gegentheil der Aufenthalt in Wien hat mir in mehr als Einer Beziehung genützt, und ich habe hier verschiedene Hoffnungen und Pläne gefaßt, über die ich mich aber noch nicht aussprechen kann. Allerdings hat mich diese Reise einiges Geld gekostet, und ich werde ziemlich leer in Berlin ankommen, so daß ich um eine neue Sendung bitten muß.

In Berlin hoffe ich die Familie Rose zu treffen, von der ich merkwürdiger Weise in Eurem letzten Briefe Nichts vernommen habe; sollten sie aber noch in der Schweiz sein, so lasse ich mich ihnen bestens empfehlen, und bitte mir durch sie die Winterstrümpfe vom vorigen Jahr zukommen zu lassen!

Grüßet mir Alle vielmal, Euer tr. Sohn: J. Ch. Heusser
Wien den 14t. September 1850

NB. Jener Hr. Schmid,252An anderer Stelle wird der Theologe Schmidt genannt: vgl. Nr. 7a (6. 8. 1848) und Nr. 27 (10. 7. 1850).schliessen der krank in Berlin lag, ist am 8t. August nach Zürich abgereist, als ich noch in Berlin war; wenn er erst ganz gesund ist, wird er euch einmal besuchen; so viel ich weiß, logirt er in Zürich im Schönbühl bei Alt-Regierungs-Rath Pestalozzi.

Jener Gruß von dem Richterschweiler Burkhard hat mich sehr gefreut und ich möchte ihn erwiedern lassen, wenn Ihr Gelegenheit hättet; ich interessire mich sehr um seine Schicksale; er ist jedenfalls mehr, als die Richterschweiler vielleicht von ihm halten.



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