Brief Nr. 27 – 10.7.1850
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27 10.7.1850
[Berlin, 10. Juli 1850]
Liebe Eltern!

Da die beiden Theologen aus Zürich, Zimmermann235Der Theologe Georg Rudolf Zimmermann (1825-1900) wurde schon 1852 Pfarrer am Fraumünster. HBLS VII, S. 664, und Zürcher Pfarrerbuch, S. 653.schliessen und Hirzel236Wohl Friedrich Hirzel (1823-1901), 1851 Vikar in Oberrieden, seit 1855 Pfarrer in Regensdorf. Zürcher Pfarrerbuch, S. 339.schliessen sich ziemlich lange auf der Reise nach Berlin aufgehalten haben und erst in den letzten Tagen hier angekommen sind, konnte ich natürlich Euren Brief nicht früher beantworten. Allerdings freute ich mich den alten Bekannten, bereits in Amt und Würde stehenden Zimmermann wieder einmal zu sehen, und bewog ihn auch zur Feier dieses Wiedersehens Amt und Würde wieder einmal für einen Abend zu vergessen, und sich unsers gemeinsam durchlebten Studentenlebens in Zürich zu erinnern. Dabei erinnerten wir uns denn auch mit vielem Vergnügen jener von Schild237Franz Josef Schild (1821-1889) hatte vom Sommer 1850 bis Herbst 1851 an der Universität Zürich studiert. Er wurde bekannt als Arzt und Mundartdichter in Grenchen (SO). HLS (www.hls-dhs-dss.ch).schliessen Euch mitgetheilten Geschichte,238Vgl. den folgenden Brief Nr. 27a: Anspielung auf die "Locher-Zwingli-Geschichte".schliessen an welche ich noch einige schriftliche poetische Andenken besitze, und in welcher sich dieser Zimmermann, wenn er auch nicht thätig mitwirkte, doch als mein treuer Freund sich bewies. Bei Anlaß dieses Seppli Schild bitte ich bei Gelegenheit den Gruß von meiner Seite zu erwiedern; muß aber bemerken, daß ich bloß diesen Seppli, d.h. den Lehrer gekannt habe, den andern Bruder, also den Mediciner und Stellvertreter meines Bruders, nie mit einem Auge gesehen zu haben mich erinnere; übrigens auch jenen kannte ich nie näher, sondern bloß, weil er im Hause unmittelbar neben Bebis wohnte. Daß ich übrigens von jener Geschichte nie selbst etwas nach Hause schrieb, werdet Ihr leicht begreifen, dagegen werde ich mir, wenn ich nach Hause komme, die Freude machen Euch Alles von Anfang bis zu Ende zu erzählen und noch vieles Andere dazu; ich habe halt in Zürich Vieles gewirkt! — Hier in Berlin ist nun freilich mein Wirkungskreis ein etwas anderer geworden, vielleicht etwas nützlicher, aber der in Zürich hatte auch sein Gutes. Ich arbeite also gegenwärtig an einem Gegenstand für die Dissertation im Laboratorium von Prof. H. Rose, kann aber über das Ende derselben noch nichts Bestimmtes aussagen, da ich eine ordentliche Arbeit liefern möchte, und dazu große Umsicht und Zeit nothwendig ist. Wahrscheinlich wird Prof. Gustav Rose, der andere Bruder, der mir bei der ganzen Arbeit ebenso behülflich ist, im Monat August nach der Schweiz reisen; und ich hoffe daß sein Bruder Hr. W. Rose ihn auch einmal zu Euch führen werde. Hr. W. Rose wird wohl jetzt mit seiner Gattin bereits einmal bei Euch gewesen sein? wenn Ihr im Hirzel oder Zürich sie sehen solltet, so bitte ich mich bestens zu empfehlen.

[S.2] Hier in Berlin war vor einigen Wochen wieder einmal einige Aufregung wegen des Attentats auf den König, doch war diese Aufregung nicht so groß als man bei der Wichtigkeit des Ereignisses hätte erwarten sollen, sei es daß die Theilnahme für die Person des Königs überhaupt abgenommen hat, oder daß die Aufregung darum bald beschwichtigt wurde, weil sich gleich herausstellte, — was nun so ziemlich von beiden Partheien zugestanden ist — daß der Thäter ein Halbverrückter war, den keine politischen Motive leiteten. Ich glaube übrigens eher, daß das letztere der Fall ist, wenigstens nach der Menge Beileidbezeugungs- und Ergebenheits-Adressen zu schließen, die dem König von Berlin selbst und überall her zugeschickt wurden. Auch unter den hiesigen Studenten gieng eine solche Adresse herum, die mehrere Schweizer mitunterzeichneten; ich aber that es nicht, in dem ich denselben neutralen Standpunkt beibehalten wollte, den ich schon seit dem 18t. März 48 eingenommen habe; ich nahm nie an [einer] politischen Demonstration weder für die noch für die andere Parthei den geringsten Theil. Ich habe weder am 18t. März mit gekämpft, noch nachher die Freuden der siegestrunkenen Studenten mitgenossen, kurz ich habe nicht das Mindeste zur Verwirrung im Preußischen Staate beigetragen, sehe aber auch keinen Grund ein, dessen Oberhaupt extra meiner Ergebenheit zu versichern; und nach meiner Meinung hätten auch die übrigen Schweizer besser gethan, nicht zu unterzeichnen; die Mehrheit der Schweizer war es übrigens nicht. — Was sonst noch Politik betrifft, so ist das Neueste hier der Friedensschluß mit Dänemark, nach dem Schleswig-Holstein, wenn es frei werden will, nun wieder auf sich selbst beschränkt ist; ob dieser Friede zur Ehre Preußens ausgefallen sei, will ich um Preußen nicht zu nahe zu treten nicht entscheiden.

Was die Zürcher-Angelegenheiten betrifft, so konnte ich mich über die Wahl Wilds239Felix Wild (1809-1889) von Wädenswil; war Regierungsrat bis 1869, danach Gemeindepräsident von Wädenswil. HBLS VII, S. 533. Die Eidg. Zeitg. kommentiert am 26. Mai 1850, S. 573 die Wahl in den Regierungsrat: Wild sei "mehr durch Zufall und aus politischer Berechnung, einen andern nicht zu wählen" Regierungsrat geworden.schliessen in den Regierungsrath nicht besonders freuen; er hat sie doch bloß einem Zufall zu verdanken und in 4 Jahren ist es wieder aus mit ihm. Und überdies glaube ich, darf die Opposition gegen den Machthaber240Der Machthaber in Zürich ist in diesen Jahren Alfred Escher.schliessen im Kanton Zürich nicht von der conservativen Parthei ausgehen, denn durch diese Opposition wird er in seiner Unumschränktheit gerade bestärkt, und darum ist auch Spyris beständige Opposition lächerlich und seinem Zweck direkt entgegenarbeitend; wenn der Herr Alfred nicht von den Radikalen selbst gestürzt wird, so wird er halt in Zürich am Ruder stehen, bis man den um das Vaterland hoch verdienten Mann nach Bern holen wird; übrigens liegt mir an dessen ruhmvoller Laufbahn blutwenig, ich werde ihn weder beneiden, noch um seine Gunst buhlen! — Gestern aber habe ich noch etwas in der Eidg. Zeitg. gelesen, das mich wirklich geärgert hat, die Einführung eines neuen Zuchtinstitutes an der Kantonsschule in Zürich, nämlich des obligatorischen Kadettendienstes. Wenn nur alles obligatorisch gemacht werden kann, turnen exerciren, nächstens wahrscheinlich auch baden, spaziren gehen u.s.w. Es scheint wirklich in der Absicht der sog. Liberalen zu liegen, [S.3] jede Spur von freiem Willen, von Freiheit und Selbstständigkeit in den jungen Leuten ertödten, sie zu völligen Maschinen machen zu wollen, und dies alles "zum Frommen und Besten des theuren Vaterlandes", um diesem wackere Streiter heranzubilden!

Letzte Woche, den 4t. Juli wohnte ich wieder einmal einer interessanten Sitzung der Akademie bei, welche zur Feier der Stiftung durch Leibnitz241Der deutsche Philosoph und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) hatte im Jahr 1700 die Gründung der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin angeregt. Biograph. Wörterbuch zur dt. Geschichte II, Sp. 1606-1609.schliessen und zugleich zur bereits 50jährigen Mitgliedschaft Alexander v. Humboldts gefeiert wurde. Die Hauptrede dabei hielt der Philologe Boekh,242Philipp August Boeckh (1785-1867) war seit der Gründung der Universität Berlin im Jahr 1811 Professor für klassische Philologie. Vgl. DBE 1, S. 608.schliessen der im Ganzen die neue Zeit mit der antiquen verglich; er glaubte, im Gebiete der Empirie seien gewaltige Fortschritte gemacht worden, aber je innerlicher, unsinnlicher und geistiger die Verhältnisse, desto langsamer und unwesentlicher sei der Fortschritt der Neuzeit. Dies weist er nach an Poesie und Kunst, Politik, und hauptsächlich Philosophie; dies giebt ihm Anlaß auf Leibnitz zu kommen, den er allerdings den großen Geistern des Alterthumes an die Seite setzen will. Zugleich stellt er ihn dar als Polyhistor und Muster eines Akademikers, was ihn auf Humboldt führt, den er in diesen Beziehungen mit Leibnitz vergleicht und ihn etwas lobhudelt, und zuletzt den Beschluß der Akademie veröffentlicht, nach Humboldts Tode dessen Büste neben der von Leibnitz im Saale der Akademie aufzustellen. — Vielleicht interessirt diese Feier Hr. Pfr. Wild etwas; weitere Abhandlungen von Bedeutung wurden nicht gelesen.

In letzter Zeit ist hier der alte Theologe Schmid, der mir schon fr[üher Grüße]243Siegelausriss.schliessen an Dich liebe Mama aufgetragen hatte, so gefährlich erkrankt, daß seine Ärzte dieser Tage alle Hoffnung auf Genesung völlig aufgaben, und er selbst auf sein Ende gefaßt war. Wunderbarer Weise erlag er aber der Krankheit nicht, und scheint jetzt nach bereits 5 wöchentlichem Krankenlager außer Gefahr zu sein; natürlich besuche ich ihn oft und habe auch einmal für ihn nach Zürich geschrieben an seinen Freund Alt-Erziehungsrath Hofmeister.244Der Theologe Diethelm Salomon Hofmeister (1814-1893) war Erziehungsrat, Präsident der Stadtschulpflege und Präsident der Taubstummenanstalt in Zürich. HBLS IV, S. 266.schliessen Auch jetzt trug er mir wiederum gelegentlich viele Grüße auf. Er leidet an der Lunge, wird aber hoffentlich etwa bis Mitte oder Ende August nach der Heimath zurückreisen können.

Wenn Nany oder Jemand von Euch nach St. Moritzen geht, freut es mich und noch mehr würde es mich freuen, wenn dann auch Mad. Rose dies Bad besuchen würde; sie trat nämlich die Reise nach der Schweiz bloß deswegen an, um ein Bad zu besuchen und das Unangenehme dabei war ihr nur, daß sie keine Gesellschaft habe, indem Hr. Rose unterdessen in der Schweiz herumreisen werde; nun denke ich, wenn sie nicht schon vorher ihre Kur angefangen hat, so würde Sie vielleicht mit Euch nach Moritz gehen. Übrigens wenn dieser Brief bei Euch ankommt, so ist es natürlich zu solchen Verabredungen zu spät, wenn sie sich nicht vorher schon gemacht haben. Grüßet mir alle vielmal

Euer tr. Sohn: J. Ch. Heusser.
Berlin den 10t. Juli 1850

Dorotheenstr. 93 bei Hr. Kleeber.



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