Brief Nr. 26 – 13.51850
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26 13.51850
[Berlin, 13. Mai 1850]
Liebe Eltern!

Ich muß Euch zunächst von einem Ereigniß erzählen, das mich in den letzten Tagen ganz in Anspruch genommen hat und meinen längern Aufenthalt in Berlin gegenüber einer andern Universität, und sei es selbst Paris, in vollem Maaße rechtfertigen wird. Ich werde nämlich nun in das Privatlaboratorium von Prof. Rose kommen und hier den chemischen Theil meines Themas zur Dissertation bearbeiten. Die Zusage habe ich von Prof. Rose selbst erhalten, also kann es mir nicht mehr entgehen, und morgen schon werde ich zum ersten Mal sein Laboratorium besuchen. Ich brauche Euch wohl nicht erst zu sagen, daß dies eine besondere Vergünstigung ist, da dies keineswegs ein öffentliches Laboratorium ist, sondern ganz Privateigenthum von Rose, in welchem immer nur 2 oder 3 Studenten arbeiten, - eine Vergünstigung, die ich theils dem Einfluß des andern Prof. (Gustav) Rose, und dann wahrscheinlich auch dem 3t. Bruder, dem Euch bekannten Wilhelm Rose zu verdanken habe. Ich hebe dies um so mehr hervor, da dieser bald wieder nach der Schweiz aufbrechen wird (Ende Mai) und ich aus eigenem Antrieb so frei sein werde, ihn wieder nach dem Hirzel zu schicken; er wird Euch auch gewiß in den ersten Tagen seines Aufenthaltes in Zürich wieder besuchen, und ich bitte Euch nochmals nicht kälter gegen ihn zu sein, als die beiden früheren Male. Bei Gelegenheit des Wilh. Rose will ich gleich noch bemerken, daß ich gestern wieder von ihm in die geographische Gesellschaft eingeladen war, wo ich mehrere sehr interessante Vorträge hörte, von Ritter und Dove.225Heinrich Wilhelm Dove (1803-1879), Physiker und Meteorologe, seit 1845 Professor für Physik in Berlin. Bedeutende Fortschritte in der Meteorologie gehen auf ihn zurück.schliessen Schliesslich war noch ein Nachtessen; wenn noch andere jüngere Leute Mitglieder der Gesellschaft wären, so würde ich auch sogleich eintreten, da es genant ist für mich, immer bloß eingeladen die Gesellschaft zu besuchen; übrigens will ich mich nun näher erkundigen und dann vielleicht eintreten. — Kurz in so naher Verbindung mit den beiden Professoren Rose — und die Unterstützung von noch einigen andern Professoren fehlt mir auch nicht — hoffe ich doch das Doktorexamen glücklich bestehen zu können. —

Um nun auf meine übrigen Verhältnisse zu kommen, so habe ich also richtig wieder 150 Th. mit vielem Danke erhalten, wie Ihr wohl bereits werdet erfahren haben. Alle meine frühern Bekannten, die mit mir nach Berlin gekommen sind, haben nun Berlin verlassen, so vor wenigen Wochen auch Zschokke, durch den ich, wie Ihr Euch wohl erinnern werdet, die angenehme Bekanntschaft in Magdeburg gemacht habe; er ist nach der Schweiz gereist, um bei den projektirten Eisenbahnen eine Anstellung zu bekommen; er will, wie er mir sagte Euch von Zürich aus einmal besuchen; viel Neues wird er Euch zwar nicht von mir sagen können; aber ohne ihn zu beleidigen konnte ich ihn doch nicht davon [S.2] abhalten, und somit hoffe ich, daß er Euch nicht ungelegen kommen wird. Ferner wird nächsten August auch jener Wolff nach der Schweiz reisen und natürlich sein Hauptquartier bei Zschokke in Aarau aufschlagen; und da wäre mir doch lieb, wenn Ihr Z. bitten würdet, jenen Wolff, in dessen Hause ich zu viel [sic!] Freundschaft genossen habe, einmal in den Hirzel zu schicken oder selbst einmal mit ihm zu Euch zu kommen. Von selbst würde jener Wolff nicht kommen; ich kenne ihn zu gut. Aus der Eidg. Zeitg. der letzten Tage ersah ich zu meiner Freude, daß unsere Gemeindsbürger Spyri226Johann Ludwig Spyri (1822-1895), der ein Jahr jüngere Bruder von Johann Bernhard Spyri, war Theologe und seit 1844 Bürger von Hirzel. Wie Johann Bernhard wurde er 1850 in den Kantonsrat gewählt.schliessen beide in den Großen Rath gewählt worden sind, zwar natürlich keiner von ihrer Heimathgemeinde, da die Hirzler, auch wenn sie noch den Willen gehabt hätten, ihn der Horger wegen nicht hätten durchsetzen können. Im Übrigen haben mich weder die Wahlen von Zürich, noch die von Bern viel interessirt; lieber wäre es mir aber immer, wenn die Radikalen auch in Bern entschieden gesiegt hätten, da ich keine schwächere, erbärmlichere Parthei in ganz Europa kenne, als die protestantischen sogenannten Conservativen der Schweiz, die Nichts können als hetzen, aber wenn es einmal gilt der radikalen Unverschämtheit thatsächlich entgegenzutreten, entweder sich neutral stellen wollen, wie Basel und Neuenburg, oder gar noch den Radikalen zu ihrem Siege verhelfen wie Dufour und Ziegler227Paul Karl Eduard Ziegler (1800-1882) befehligte die 4. Division der eidgenössischen Truppen im Sonderbundskrieg.schliessen im Sonderbundskrieg. Übrigens weiß ich wohl, daß im Kanton Zürich wenigstens die radikale Parthei nicht mehr Saft und Kraft hat, als die conservative, während es vielleicht in Bern der Fall sein mag; überhaupt ist es eine Schande, welche Rolle Zürich in der letzten Zeit gespielt hat; nicht bloß, daß es politisch so schimpflich hinter Bern zurücktreten mußte, nein sogar wissenschaftlich scheint es in volle Stagnation treten zu wollen, wenigstens habe ich, seit ich in Berlin bin bloß den Namen eines einzigen Zürcherschen Naturforschers (Escher v. d. Linth)228Arnold Escher von der Linth (1807-1872), der Sohn des berühmten Konrad Escher von der Linth, war Professor für Geologie an der Universität Zürich. Ihn hält Heusser für den einzigen Mann an der Universität, der seine Dissertation verstehe. Von ihm wurde Heusser auch nach seiner Rückkehr nach Zürich am meisten gefördert. Vgl. Brief Nr. 30 (13. 12. 1850).schliessen erwähnen hören, während in der einzigen oben erwähnten Sitzung der geographischen Gesellschaft auf die Arbeiten von zwei Bernern aufmerksam gemacht wurde, und ein 3ter anderer Berner durch seine Arbeiten hier schon allgemeine Anerkennung gefunden hat.

Daß der junge Abegg abermals durch das Examen gefallen ist, thut mir sehr leid für ihn und seinen Vater; ich kann es mir wahrhaftig nicht anders erklären als durch die Geistesabwesenheit, in die schon am Gymnasium die Examen ihn versetzten, so daß er Fragen nicht beantworten konnte, denen er sonst gewiß gewachsen war; vielleicht mochte auch die Malice der Sanitätsräthe, die mit dem alten Abegg concurrirende praktische Ärzte in Zürich sind, etwas zum Falle des Jungen beitragen, was ich um so eher anzunehmen geneigt bin, da, wie ich höre, die Professoren der Hochschule ihn bei diesem Examen nicht hatten durchfallen lassen. Wenn übrigens dadurch in Theodor neue Hoffnungen auf [S.3] Zürich erwachen sollten und realisirt werden könnten, so würde es mich für ihn sehr freuen.

Die Gärten, die ich von meinem Zimmer aus übersehe, stehen gegenwärtig in voller Blüthe, und wenn ich an einem so schönen Tage, wie gerade heute, auf diese herunter blicke, so möchte ich den Anblick beinahe schön finden; was thut Gewöhnung nicht! Am Zürchersee mag allerdings die Natur jetzt schöner sein, als hier, aber außer der Natur auch wohl Nichts!

Seit einigen Tagen ist hier in Berlin und besonders unter den Linden ungewöhnliches Leben und Bewegung, hervorgebracht durch die Anwesenheit der zum Fürstencongreß hierher zusammen gekommenen Deutschen Fürsten. Fortwährend sieht man [...]229Von hier an ist der rechte Rand des Blattes stark beschädigt.schliessen königlichen Equipagen in den Straßen umherrollen, so daß man dieser halber [...] mehr stille steht, um sie zu besehen. Dagegen war heute dieser Fürsten wegen etwas Ungewöhnliches zu sehen, nämlich große Parade, so wie ich sie noch nie gesehen habe; [im er]sten Winter vor dem 18t. März 48 war entweder keine, oder dann hatte ich sie versäumt und seit dem Revolutionssommer war an so was nicht zu denken. Kurz heute sah [... al]les hier befindliche Militär Infanterie, Artillerie und Cavallerie in Gala, [... preu]ßische Militär schon sonst proper und schön aussieht, so war es natürlich bei [der Gelegenheit?] um so mehr der Fall. Nachdem er einige Stunden hatte warten lassen, kam dann [der] König angeritten begleitet vom ganzen Stab und einem Schwanz von kleinern deutschen Fürsten. Natürlich wurden wie immer, wenn er sich zeigt, die Hüte geschwenkt und hoch geworfen. Dieser Gruß war matt und kam keineswegs von allen Seiten, vielleicht kaum von der Hälfte der Zuschauer, so daß ich mir auch bei dieser Gelegenheit wieder sagen mußte, daß das Frühjahr 1848 doch seine mächtigen Wirkungen hinterlassen hat. — Von den Beschlüssen des Fürstencongresses ist der von Wichtigkeit, wenn Ihr ihn allenfalls noch nicht gelesen habt, daß die hohen Häupter sich der Mehrheit des Erfurter-Volkshauses230Vom 26.-28. März 1858 war die sog. Erfurther Reichsverfassung von der Volksvertretung verabschiedet worden.schliessen anschließen [werden.] Schinz231Rudolf Schinz (1825-1883) von Erlenbach studierte Theologie in Halle. Er wurde 1851 Vikar in Knonau, 1854 dann Pfarrer in Affoltern bei Zürich. Zürcher Pfarrerbuch, S. 503.schliessen von Erlenbach, von dem Ihr im letzten Briefe schreibt, ist bis jetzt noch nicht nach Berlin gekommen, so wie überhaupt dies Semester noch kein neuer Zürcher; oder vielmehr ich irre mich, Einer ist angekommen, der Dichterling Keller, den ich noch nie gesprochen habe, und wohl auch nie sprechen werde.

Wie geht es der lieben Tante Wichelhausen, von der ich im letzten Brief ein Paar Worte erhalten, sonst aber lange Nichts gehört habe; wie steht es in Bremen, lebt die alte Frau Bürgermeister noch? Ferner wie geht es Tante Regeli und in Rümlingen? Grüßet mir Alle Erwähnten und seid selbst herzlich gegrüßt von Eurem tr. Sohn:

J. Ch. Heusser.
Berlin den 13t. Mai 1850


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