Brief Nr. 25 – April 1850
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25 April 1850
[Berlin, April 1850]
Liebe Eltern!

Vor einigen Tagen erhielt ich Euren Brief, der mich nun vollkommen in der Absicht bestärkte hier das Doktorexamen zu machen; ich werde also nun diesen Sommer mit aller Kraft auf ein gutes Doktorexamen hinarbeiten, da es eben in Berlin doch etwas schwer fällt. Die Wahl des Gegenstandes zur Dissertation wird euch nicht sehr interessiren können, übrigens bin ich selbst noch nicht mit mir darüber einig. Bei Anlaß des Doktorexamens kann ich Euch auch von einem interessanten Fall einer jüngst vorgekommenen Promotion etwas mittheilen: es schrieb nämlich ein Mediciner eine Dissertation: De morbo democratico, nova insaniae forma d.h. über die demokratische Krankheit, eine neue Form des Wahnsinns (NB Demokraten ist der gegenwärtige Partheiname der hiesigen Volksparthei oder Radikalen). Die Dissertation war von der medizinischen Fakultät angenommen worden und es kam nun zur Promotion, d.h. zur öffentlichen Vertheidigung seiner Thesen und seiner Dissertation. Bisher mag es unter hundert Promotionen kaum einmal vorgekommen sein, daß eine der Thesen von einem andern der Zuhörer angegriffen wurde, als von den dreien, die sich der Promovent selbst zu Opponenten ausgewählt hatte. Im gegenwärtigen Fall aber mußte derselbe wohl erwarten, daß die demokratisch gesinnten Studirenden ihm etwas zusetzen mochten; und so geschah es auch, die Aula war gedrängt voll von Zuhörern; ich hatte anfangs Sympathien für diesen Kerl, der so allein gegen die ganze Parthei in die Schranken zu treten wagte; die Sympathien vergingen aber bald, als er auf ganz vernünftige Angriffe hin sich nicht zu vertheidigen wußte, sondern sowohl sachlich als sprachlich den größten Unsinn schwatzte; wirklich nicht einmal der lateinischen Sprache hatte er sich ordentlich bemächtigt, obgleich er wußte, daß er viele Opponenten finden werde; kurz er wurde so in die Enge getrieben und blamirt, daß er gewiß ein zweites Mal nicht wieder de morbo democratico disputiren würde. Das Amüsanteste bei der ganzen Affäre war übrigens die Verlegenheit des Dekan Kaspar,222Der Mediziner Johann Ludwig Casper (1796-1864), seit 1839 Ordinarius an der Universität Berlin, war seit 1841 auch Gerichtsmediziner. DBE 2, S. 292.schliessen den Theodor wohl kennen wird; es wurde nämlich während der ganzen Disputation [S.2] und ganz besonders zuletzt, als der Eid geleistet wurde, gelacht und gezischt; da wollte der gute Dekan wohl zur Ruhe ermahnen, vielleicht auch mit Schließen drohen, etc., brachte aber nicht viel Anderes heraus, als silentium, d.h. Stille! er mag sich halt seit seiner Schulzeit auch nicht mehr viel mit Latein abgegeben haben!

Am politischen Horizont ist jetzt wieder Alles ruhig; aber als ich das letzte Mal schrieb, mußte ich wirklich meine Aufregung unterdrücken; denn hier glaubten alle Schweizer ganz sicher, daß es Krieg geben werde223Im Frühjahr 1850 war die Frage des zukünftigen Status von Neuenburg noch nicht entschieden. Friedrich Wilhelm IV. hatte auf seinen Herrschaftsanspruch auf Neuenburg noch nicht verzichtet, war aber zu sehr mit den politischen Unruhen in Preussen beschäftigt, so dass er in Neuenburg nicht durchgreifen konnte.schliessen und erwarteten alle Tage nach Hause gerufen zu werden; diese dumme Aufregung kam bloß von einigen verrückten Correspondenzen einiger Deutscher Flüchtlinge aus der Schweiz in die hiesige Nationalzeitung, die mit solcher Gewißheit von dem vereinigten Einrücken Russlands, Östreichs und Preußens sprach, daß man wirklich nicht mehr dran zweifeln konnte. — Der beste Beweis, daß an Allem kein wahres Wort gewesen ist, daß selbst nicht einmal eine Note vom Stappel lief, ist mir übrigens der Umstand, daß man in der Schweiz, wie ich in der Eidg. Zeitg. lese, anfangen will Eisenbahnen zu bauen und gar noch wissenschaftliche Expeditionen auszurüsten, was man bei einer ungewissen, Krieg verkündenden Zukunft wohl nicht thun würde. Was übrigens den letzten Punkt betrifft, nämlich die Unterstützung des Ingenieur Wild224Um welchen Ingenieur Wild es sich hier handelt, ist nicht klar. Vgl. Heussers Briefe Nr. 39 (14. 3. 1852), Nr. 40 (12. 4. 1852) und Nr. 41a (6. 6. 1852).schliessen zur Reise nach Ägypten, so mußte ich wirklich bei dieser Gelegenheit über die Dummheit unsrer Regierung herzlich lachen; was ich von diesem Autodidakten gelesen habe, hielt ich für Unsinn; übrigens bin ich allerdings auf diesem Gebiet kein competenter Richter, und es ist immerhin möglich, daß dieser Wild als ein Genie mit seinen Ansichten durchdringt und dann gewiß in diesem Gebiet Epoche machen wird; in dem Fall wird allerdings unsere Regierung glänzend gerechtfertigt, ich dagegen blamirt dastehen. Ich erwarte dies aber um so weniger, als ja der Reisende jedenfalls von ferne nicht die zu einem solchen Unternehmen nöthigen Hülfsmittel hat; die paar Hundert oder tausend Franken Unterstützung von den verschiedenen Kantonen sind ja fast nicht mehr als ein Tropfen ins Meer; und wenn sich sogar der hohe Bundesrath der Sache angenommen hätte, so wäre erst dann vermuthlich noch nichts Ersprießliches herausgekommen, vermag ja nicht einmal das viel größere Preußen ähnliche Expeditionen auszuführen; es überläßt dies England, Frankreich und Rußland und giebt dazu [S.3] nur die geistigen Kräfte, d.h. die Reisenden selbst her, wie denn Alexander v. Humboldt, Gustav Rose und Ehrenberg vor 20 Jahren im Auftrag des Kaisers von Rußland nach dem Ural gereist sind. Kurz die Bemerkung eines hiesigen Schweizers scheint mir sehr treffend, daß die Herren den Schein haben retten wollen, als ob sie für Wissenschaft etwas thäten, während in der That doch Nichts dran sei. Ich hätte gern darüber einmal dem Spyri einige Worte in seine Eidg. Zeitg. gegeben als Prise für unsere Landesväter, wenn mich nicht folgende 2 Gründe davon abgehalten hätten: erstlich möchten die guten Leute meinen, ich beneide den Ingenieur Wild um seine Unterstützung, und würde mich etwa gern selbst an seine Stelle setzen; und zweitens mag und werde ich zu Allem, was in Zürich oder der Schweiz selbst zu und hergeht, kein Wort verlieren, machen die Herren was sie wollen!

Was mein Leben in Berlin betrifft, so fällt nicht viel Neues vor; von den Schweizern, die mit mir hergekommen sind, geht nun auch der letzte weg: Zschokke, der nach der Heimath verreist, und Euch von Zürich aus vielleicht einmal besuchen wird. Während dieser Ferien bleibe ich in Berlin; ich hatte zwar einmal im Sinne, schnell mit der Eisenbahn nach Wien zu fahren, um mir einmal diese Stadt und ihre großen Sammlungen anzusehen; Zutritt zu denselben hätte ich schon erhalten durch Empfehlungen von Berlin; nun aber ziehe ich es vor in Berlin zu bleiben und tüchtig zu arbeiten, da mir hier der Zutritt zum mineralogischen und geologischen Cabinet täglich gestattet ist, von welcher Erlaubnis ich natürlich regelmäßigen Gebrauch mache. —

Zu Roses gehe ich von Zeit zu Zeit, und bin daselbst, wie immer freundlich aufgenommen, auch von Prof. Rose bisweilen eingeladen. Hr. W. Rose wird dies Jahr schon sehr bald, Anfangs Mai nach der Schweiz aufbrechen (falls Du, lieber Papa, ihn wieder wie vor einem Jahr zum Besuch im Hirzel einladen wolltest.)

Am Charfreitag war in einem hiesigen Theater ein sehr schönes geistliches Concert, in dem ausgewählte Parthieen aus requiem, und stabat mater und Einiges Andere gegeben wurde; ich gieng hin und erbaute mich dabei.

Nun noch einen Hauptpunkt; bis Ende des Monats werde ich nämlich mit dem Gelde wieder so ziemlich fertig werden, und da man noch in diesem Monat die Collegien belegen muß, wenn man rechte Plätze bekommen will, so muß ich wieder um eine Lieferung [S.4] Geld bitten! Es ist doch endlich einmal der Zeitpunkt abzusehen, an dem ich wieder nach Hause kommen werde; es mag Vieles anders geworden sein, wie bei mir selbst auch; der Aufenthalt im Ausland macht Einen doch zu einem ganz andern Kerl, und ich glaube es wird keiner, auch wenn er draußen Nichts weiter gethan hat, als das Leben angesehen, auch nur einen Tag seine Abwesenheit bereuen!

Grüßet mir Alle vielmal in Hirzel und Zürich,
Euer tr. Sohn: J. Ch. Heusser.


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