Brief Nr. 24 – 11.2.1850
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24 11.2.1850
[Berlin, 11. Februar 1850]
Liebe Eltern!

Es ist zwar schon ziemlich lange Zeit verflossen, seit ich Euren letzten Brief nebst den 150 Thlr. erhalten habe; ich habe deswegen so lange nicht geschrieben, weil ich wollte den 6t. Februar vorbeigehen lassen, als den Tag, an welchem der König die neue Verfassung215In Brief Nr. 11 vom Januar 1849 hatte Christian berichtet, dass Friedrich Wilhelm IV. die Nationalversammlung aufgelöst hatte und selbst für Preussen eine Verfassung schreiben liess.schliessen beschwören sollte und nun wirklich auch beschworen hat. Man erwartete nämlich große Feierlichkeiten, von denen ich Euch Einiges mittheilen wollte; nun ist aber der Tag so ruhig und ohne alles Gepränge vorübergegangen, daß sich darüber gar Nichts schreiben läßt, es war nicht einmal große Parade, Abends die Stadt nicht erleuchtet; kurz gar Nichts; wahrscheinlich war an diesem Mangel alles Festlichen die Unlust und das Mißbehagen des Königs Schuld, mit der er die Verfassung beschworen haben soll; er soll auch lange darüber zweifelhaft gewesen sein, indem der ganze Hof und das Ministerium ihm davon abriethen. Um nun auf den Inhalt Eures letzten Briefes zu kommen, so kommt Ihr mir mit dem Wunsche, daß ich im Sommer hier eine Doktor-Dissertation ausarbeiten soll zuvor, indem ich Euch sonst in diesem Briefe darum gebeten hätte, dies thun zu können; Ich will aber bei dieser Gelegenheit doch gleich den Kostenpunkt berühren; es ist nämlich theuer in Berlin zu doktoriren; doch glaube ich kaum viel theurer als in Zürich; die ganze Affaire kommt nämlich auf etwa 200 Thlr. etwas weniger, aber nicht viel, wie ich von solchen weiß, die hier doktorirt haben; und wenn ich einmal Doktor bin und etwas geleistet habe, so habe ich auch gewiß eine schöne Zukunft vor mir, denn daß ich das Rechte gewählt habe fühle ich immer mehr; und daß ich auch in Zürich irgend eine mir zusagende Stelle erhalten werde, hoffe ich, um so noch in Eurer Nähe sein zu können; denn wenn ich hier in Deutschland eine Existenz suchen wollte, so würde sie mir wohl nicht entgehen, und von Amerika würde ich mir noch mehr versprechen; versprochen hat sich zwar schon mancher viel und dabei Nichts erhalten, aber ich fühle in mir so ziemlich die Gewißheit, daß etwas draus werden sollte, und bin wirklich selbst begierig, bald ins praktische Leben einzutreten; und wenn ich dann die Sache recht anfasse, so wirst Du, lieber Papa wohl auch zufrieden sein, wenn ich auch nicht Mediziner bin; was Deine Praxis betrifft, so wirst Du Dich [S.2] dann wohl auch einmal entschließen, sie fahren zu lassen. Die Medizin hat Dich allerdings reich gemacht, das ist ganz richtig, aber daran ist nicht die Medizin schuld, sondern Du selbst, und Du wärest eben so weit und möglicherweise viel weiter gekommen bei vielen andern Beschäftigungen. Die beste Bestätigung für meine Ansicht, daß derjenige, der Chemie und Naturwissenschaften studirt hat die sicherste Zukunft hat, geben mir die Amerikaner, das Volk, das unstreitig in industrieller und praktischer Beziehung gegenwärtig das erste auf der Erde ist; sie lassen Mediziner und Theologen und Gelehrte aller Art aus Europa zu ihnen kommen, ohne neidisch auf sie zu werden, oder ihnen viel Concurrenz zu machen; in Allem Praktischen lassen sie aber die Einwanderer weit hinter sich zurück, und dadurch bleiben sie die Herren im Lande; es sind sehr viele Amerikaner hier, von 10 studiren aber auch gewiß 9 Chemie; ich habe zu meiner großen Freude in letzter Zeit zwei kennen gelernt, die so recht den amerikanischen Nationalcharakter zeigen; einseitig sind sie, von eigener Wissenschaft wollen sie nicht viel wissen, treiben Chemie nur, insofern sie technische Anwendung hat; daß sie aber geborene Praktiker und Techniker sind, zeigen sie schon dadurch, daß sie z.B. die Glasgefäße, die man bei chemischen Arbeiten braucht, sich selbst blasen, die wenigen Bücher, die sie besitzen selbst einbinden, kurz alles Mögliche, was irgendwie angeht, mit eigener Hand anfassen. Mir ist diese Bekanntschaft sehr angenehm, ich machte sie bei Prof. Rammelsberg,216Karl Friedrich Rammelsberg (1813-1899) war seit 1845 a.o. Prof. für Chemie und Mineralogie an der Universität Berlin. Vgl. M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin II 2, S. 156, und NDB 21, S. 132f.schliessen in dessen chemischem Laboratorium ich seit einiger Zeit arbeite, und auch aus andern Gründen froh bin zu ihm gekommen zu sein. Durch Umgang mit Professoren gewinnt man halt in hundert Beziehungen, woran man sonst gar nicht denkt; um nur Eines anzuführen, bin ich durch ihn in die geologische Gesellschaft gekommen, die ich nun regelmäßig besuchen werde.

Bei der Familie Wilhelm Rose war ich schon seit December nicht mehr; es liegt zwar nicht an ihnen, denn ich war schon 2Mal eingeladen, am Silvesterabend, wo ich in Magdeburg war, und seither einmal zu einem Ball, den ich aber nicht besuchte, weil ich nicht tanze, und tanzen will und werde ich nun nicht mehr lernen. Nun sah ich aber sowohl Hr. als Fr. Rose einige Mal in Gesellschaften bei Prof. Rammelsberg und erst gestern bei ihrem Bruder Prof. Heinrich Rose, und da trug mir [S.3] die Frau Rose erstlich viele Grüße an Euch auf, und zweitens läßt sie diejenige meiner Schwestern, die gegenwärtig in der Stadt ist, bitten, einmal zu Frau Koch217Maria Koch-Schweizer, verheiratet mit dem Architekten Martin Koch, stammte aus Berlin und war eng befreundet mit Frau Rose.schliessen zu gehen und ihr zu sagen, Frau Rose sehe sehnlichst Briefen entgegen, da sie in Besorgniß sei wegen Unwohlsein ihrer Enkel und Hrn. Kochs. — Ferner sagte mir Frau Rose, was mir sehr leid that, daß sie diesen Sommer nicht mit ihrem Manne reisen werde, da ihre alte Mutter von Halle den Sommer bei ihr in Berlin zubringen werde; dagegen wird Hr. Rose nach der Schweiz aufbrechen, sobald die ersten Frühlingslüfte kommen. —

Bei mir stände also Alles gut, wenn nun nur nicht ein Donnerwetter dreinschlägt und mein Doktorexamen zu Schanden macht; ich meine nämlich die fremden Mächte. Die hiesigen Blätter sind seit einigen Tagen voll davon, daß es nun gegen die Schweiz losgehen soll;218Die Spannungen zwischen Preussen und der Schweiz um die Staatszugehörigkeit von Neuenburg dauerten in diesen Jahren mit wechselnder Intensität an; erst 1857 verzichtete Friedrich Wilhelm IV. auf Neuenburg. E. Bonjour, Der Neuenburger Konflikt 1856/57.schliessen da aber alle diese Nachrichten bis jetzt nur französischen Blättern entnommen sind, so glaube ich vor der Hand noch nicht daran. Herr Wilhelm Rose sprach gestern weitläufig mit mir darüber, g[laubt]219Siegelausriss.schliessen aber auch, daß sich das Unwetter wohl nicht entladen werde.

Bizius, der auf letztes Neujahr wieder einige Bändchen "Bilder und Erzählungen der Schweiz" geschrieben und in Berlin herausgegeben hat, habe ich von einem Bekannten zum Lesen bekommen; Neues bringt er aber nicht mehr viel und das Alte dazu noch verschlechtert; die Buchhändler verderben ihn; sie zahlen ihm so viel daß er jetzt rein des Geldes wegen drauf losschreibt; so soll schon wieder eine dickzweibändige Erzählung unter der Presse sein bei demselben Buchhändler in Berlin. Ferner habe ich die Alpenrosen gesehen, in denen der Hr. Fröhlich220Abraham Emanuel Fröhlich (1796-1865), Pfarrer und Schriftsteller, redigierte von 1830-1854 den Almanach "Alpenrosen": vgl. HBLS III, S. 345, und HLS 4, S. 846.schliessen beinahe radikal werden will; daß Spiri über dies und den ganzen Plunder in seiner Zeitung geschimpft hat darin hat er ganz Recht.221Spyri kritisiert in seiner Rezension der "Alpenrosen auf das Jahr 1850" eine "flüchtig" abgefasste Erzählung von Gotthelf: Eidg. Zeitg., 29. u. 30. Dez. 1849, S. 1435 u. 1439.schliessen

Grüßet mir Alle herzlich,
Euer tr. Sohn: J. Chr. Heußer, st. ph.
Berlin den 11t. Februar 1850

NB. Wie oben angedeutet, habe ich auch dies Neujahr wieder in der Familie Wolff in Magdeburg zugebracht; ich war 3 Tage dort, und wurde mit derselben Freundlichkeit behandelt, wie immer; der Sohn war nämlich auch von Bonn zum Feste nach Hause gekommen.



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