Brief Nr. 23 – 24.12.1849
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23 24.12.1849
[Berlin, 24. Dezember 1849]
Liebe Eltern!

Es ist Vorabend von Weihnachten: bei Euch wird zwar, so viel ich mich erinnere der Tag nicht gefeiert; da er aber hier in Norddeutschland als der Hauptfestabend gilt, und da ich ihn als solchen auch vor einem Jahr in Magdeburg gefeiert habe, so bin ich ebenfalls ein wenig festlich gestimmt, und denke mir nun, es sei der Weihnachtsabend selbst, an dem ihr auch gemüthlich zusammensitzt; ich denke nämlich, die gute alte Sitte werde nicht aufgehört haben, und Ihr werdet noch wie früher, wenn auch nicht mehr mit Pfister und Elise, doch noch mit Gattiker allein das Fest feiern. Ich war zwar auch dies Jahr wieder (zum dritten Mal) nach Magdeburg eingeladen, schlug aber aus, weil ich die Zeit über studiren will; es ist zwar möglich, daß ich am letzten Jahrestag noch schnell hinfahre, um am 2t. Januar mit Zschokke, der schon hingereist ist, wieder zurückzukehren; die Familie ist so freundlich gegen mich, daß ich sie gerne wieder einmal sehe und mich bei ihnen der schönen Tage des vorigen Jahres erinnere. —

Zu Prof. Heinrich Rose habe ich heute eine Einladung bekommen zum Thee auf Morgen-Abend, d.h. auf den ersten Weihnachtsabend, was mir sehr angenehm ist, nicht des Thees und der Gesellschaft wegen, sondern um mit dem Manne in Berührung zu kommen, oder vielmehr zu bleiben. Zu Wilh. Rose bin ich wieder, wie die beiden vorigen Jahre zum Silvesterabend eingeladen; übrigens war ich schon mehrere Mal bei ihm und habe immer die alte Freundlichkeit getroffen. —

In Berlin ist über diese Zeit auch dies Jahr, wie die früheren, wieder viel zu sehen, Weihnachtsausstellungen und ähnliche Geschichten; aber wenn man sie einmal gesehen hat, hat man sie genug gesehen; darum besuche ich sie dies Jahr nicht und weiß darüber Nichts zu schreiben.

Die Zänkereien der Professoren mit dem Privatdocenten von Zürich haben mich in den letzten Nummern der Eidg. Zeitg. sehr gaudirt, besonders der letzte Artikel202Eidg. Zeitung Nr. 350, S. 1398f., vom 19. Dezember 1849.schliessen von Spiri selbst, wo er gegen die unverschämten deutschen Professoren loszieht; dies hat mich wieder einigermaaßen ausgesöhnt mit seiner bundes[S.2]rathsfreundlichen Zeitung, deren Patriotismus ich anerkenne, aber nicht theile. In Berlin ist seit dem Waldeckschen Prozeß,203Der Jurist Benedikt Franz Waldeck (1802-1870) war der "ungekrönte König" der linksgerichteten Fraktion in der Berliner Nationalversammlung. Nach dem Sieg der Gegenrevolution und der Auflösung der Nationalversammlung im November 1849 wurde Waldeck eingeklagt, aber nicht verurteilt. Vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 647-650.schliessen der einiges Aufsehen erregt hatte, wieder große Stille eingetreten; es ist lange Nichts Bedeutendes vorgefallen, und es ist vielleicht nur Mangel an Stoff, wenn die hiesigen Blätter von Mißhelligkeiten mit Östreich und Russland sprechen und von einem Krieg mit diesen Mächten, der nächstes Frühjahr losbrechen könnte. —

Um nun auf meine Studien zu kommen, so geht es immer gut vorwärts; es thut mir nur leid, daß ich nicht früher in nähern Umgang mit den beiden Professoren Weiss und Rose gekommen bin; aber an eine große Stadt, wie Berlin muß man sich halt erst gewöhnen, ehe man in allen Beziehungen das Rechte herausfindet; unmittelbar von Zürich kommend ist man halt schüchtern und unbeholfen, und weiß sich den Professoren nicht zu nähern. Kurz jetzt habe ich eigentlich erst den rechten Nutzen von dem Aufenthalte in Berlin. Darauf mache ich aus folgendem Grunde aufmerksam: Ich weiß nun nicht, was Du lieber Papa, auf nächstes Frühjahr vorhast, ob Du willst mich zurückkommen lassen oder noch weiter Geld schicken; wenn das erstere der Fall ist, so bitte ich mir204Verschrieb für "mich".schliessen dies im nächsten Briefe wissen zu lassen, damit ich mich vorläufig in Zürich etwas für mich umsehen lassen kann; im zweiten Fall aber könntest Du vielleicht daran denken, es wäre besser, wenn ich nun nach Berlin auch noch Paris besuchen würde; der Meinung bin ich aber entschieden nicht aus oben angeführtem Grunde; ich könnte in Paris wieder lange Zeit ohne besonderen Nutzen verleben, bis ich erst wieder mit einigen Männern etwas vertrauter wäre; denn durch Empfehlungen erwirbt man sich höchstens Einladungen zu Mittagessen oder Thee, nur durch nähern Umgang aber erwirbt man sich die Gewogenheit eines tüchtigen Mannes. Von einer andern Stadt als Paris wird keine Rede sein, denn an London werdet Ihr nicht denken; und somit erwarte ich im nächsten Briefe Nachricht von Euch, ob ich im Frühjahr nach Hause kommen oder hier bleiben soll; im ersten Fall könnte ich vielleicht noch schnell ein Doktorexamen erstrütten,205Schweizerdeutsch: "hastig erringen".schliessen im letztern Fall dagegen würde ich mir Zeit lassen, um im Laufe des folgenden Jahres eine ordentli[S.3]che Dissertation zu schreiben. — Bei dieser Gelegenheit muß ich noch beifügen, daß ich schon einige Zeit kein Geld mehr habe, was theils davon her kommt, daß ich beim Empfang der letzten 150 Thlr. gleich eine bedeutende Summe abzahlen mußte, weil es mir schon lange vorher ausgegangen war; theils davon, daß 30 Thaler Collegiengelder in diese Zeit fallen; wenn ihr übrigens specielle Rechnung verlangt, so habe ich sie noch vom ersten Tage meines Aufenthaltes in Berlin an.

Dr. Landis von Richterschweil, der in meinem Hause wohnt, besucht fleißig Kliniken und arme Privatkranke, schafft sich vermöge seines vielen Geldes alle möglichen neuen medizinischen Bücher und Instrumente an, reist, wann und so weit er Lust hat, aber trotz allem dem glaube ich kaum, daß er einst Theodor in Richterschweil große Concurrenz machen würde, wenn nicht das wichtige Moment seines Familien-Einflusses dazu käme; übrigens weiß Gott, wie lange er noch draußen bleibt, er macht wenigstens noch keine Miene zur Rückkehr. Bei dem Anlaß muß ich doch wieder einmal fragen, wie es Theodor in Richterschweil mit der Praxis geht; ich habe lange Nichts mehr vernommen.

Wenn Du liebes Hanni diesen Winter auf einen akademischen Ball kommen solltest, [was] recht wäre, so grüße mir meine alten Bekannten, vor denen sich wohl noch einige finden werden. Hanewinkel, Hans Meier, Victor Huser206Victor Hauser von Wädenswil wurde Jurist. Die Eidg. Zeitung erwähnt am 6. Juli 1855 seine Wahl zum Bezirksrichter in Horgen.schliessen von Wädenschweil und vielleicht noch einige andere, an die ich jetzt nicht denke. Was ist eigentlich aus Hüni von Horgen geworden? Besucht er Euch noch bisweilen? Ferner, wenn Ihr das nächste Mal an mich schreibt, könnte dasjenige von Euch, das bei Tante Wichelhausen in Zürich ist, schnell zu Frau Steinfels207Anna Steinfels-Freudweiler (*1798), die Mutter von David Steinfels. Zürcher Bürgerbuch von 1851 und 1855.schliessen (Conditorei) gehen und fragen, ob der Sohn nicht einige Worte beigeben wolle; er mußte krank Berlin verlassen und mich wundert, wie es ihm geht. —

Das anrückende Neujahr weckt in mir viele Wünsche für Euch und Alle meine Lieben. Ich bin aber kein Mann der Worte und fasse sie kurz dahin zusammen, daß Ihr von Allem Übel so sehr verschont bleiben möget, als es einem armen Sterblichen vergönnt sein kann!

Grüßet mir Alle vielmal
Euer tr. Sohn: J. Ch. Heusser.
Berlin den 24t. Decbr. 49.


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