Brief Nr. 21 – 31.10.1849
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21 31.10.1849
[Berlin, 31. Oktober 1849]
Liebe Eltern!

Natürlich wurde ich ungeheuer überrascht und erschreckt durch die traurige Nachricht von der unglücklichen Fahrt, und doch werde ich am Ende mit Euch sagen müssen, gottlob, daß es so gegangen ist; denn wenn ich an die Stelle denke, die mir noch ganz gut in Erinnerung ist, wo das Pferd Reißaus nahm, und den Berg hinunter rannte, so muß ich mich wirklich wundern, daß die Beschädigungen nicht gefährlicher wurden. — Hoffentlich werdet Ihr, wenn Ihr diese Zeilen erhaltet beide wieder hergestellt sein und keine weiteren Folgen davon zu tragen haben.

Es thut mir um so mehr leid, daß dieser Unfall passirte, weil dadurch wohl Madam Rose und die Familie des Prof. Rose189Heinrich Rose hatte in dem Sommer auch eine Schweizerreise gemacht.schliessen verhindert wurde Euch zu besuchen, und nur Hr. Wilhelm Rose einmal bei Euch war. Ich bin zwar vollkommen überzeugt, daß ich nichts desto weniger diesen Winter freundlich von beiden Familien Rose werde aufgenommen und eingeladen werden; von Hr. Wilh. Rose versteht es sich ja von selbst, da ich ja auch schon im ersten Semester, ehe er Euch kannte freundlich aufgenommen war, und daß ich auch die Bekanntschaft von Prof. Rose nicht verliere, woran mir sehr viel gelegen ist, deß bin ich nun auch sicher, da er mich gleich nach seiner Rückkehr nach Berlin für einen Abend zu sich einlud und gar freundlich über seine Reise und Alles was er im Schweizerlande gesehen hatte sich unterhielt. Ich werde mir nun nächstens die Freiheit nehmen und einmal bei ihm anfragen, ob ich nicht in seinem chemischen Laboratorium arbeiten könne; hat er keinen Platz, so schadet ja das Fragen nicht, und hat er Platz für mich, so wird es mir natürlich von großem Nutzen sein unter einem Chemiker von seinem Rufe und seinen Kenntnissen zu arbeiten, und zweitens könnte mir in Zukunft seine Empfehlung für alle Fälle nur nützlich sein. Ihr seht daraus, daß ich gesonnen bin diesen Winter noch energisch das Studium der Chemie fortzusetzen, da dies das Gebiet ist, wo strenge Wissenschaftlichkeit [S.2] gepaart ist mit einer praktischen Thätigkeit, und wo auch in pekuniärer Hinsicht etwas heraussieht. Bei der reinen Mathematik wäre allerdings Nichts herausgekommen, als eine Lehrerstelle, und dies bleibt mir nun allenfalls immer noch; hoffentlich werde ich aber bei der angewandten besseres Glück machen. Außer der Chemie bei Rose höre ich noch ein Colleg bei dem ebenfalls berühmten Prof. Mitscherlich190Eilhardt Mitscherlich (1794-1863), berühmter Chemiker, Mitglied der Akademie in Berlin, seit 1825 Professor an der Universität Berlin.schliessen und dann noch Mineralogie bei Prof. Weiss;191Christian Samuel Weiss (1780-1856), Mineraloge mit Kristallographie als Spezialgebiet, Lehrer von Gustav Rose, mit dem er allerdings zu dieser Zeit nicht mehr gut stand: vgl. Briefe Nr. 31a (30. 1. 1851) und 33 (19. 8. 1851). Weiss wird schliesslich der Lehrer sein, den Heusser am meisten schätzt. Auf seiner Schweizerreise 1853 besucht er mit seiner Frau auch die Familie Heusser in Hirzel: Memorabilien der Zeit, 30. 9. 1853.schliessen letzteren habe ich auch schon privatim besucht, um ihn über etwas zu befragen, und habe dabei vollständig befriedigende Erklärung gefunden. So was hätte ich früher nie gewagt, da ich in der ersten Zeit meines Aufenthalts in Berlin glaubte, die Schwelle dieser berühmten Professoren dürfe man nicht betreten; nun sehe ich aber, seit ich in Berlin etwas mehr zu Hause bin, und es gewagt habe, einmal zu diesen Gelehrten zu gehen, daß sie zehnmal zugänglicher und herablassender sind, als die meisten unbedeutenden Herren Professoren von Zürich. —

Dies Semester sind wieder eine Menge neuer Schweizer angekommen, wahrscheinlich weil die politischen Stürme so wohl als die Cholera sich wieder gelegt haben, übrigens bekümmere ich mich um die Schweizergesellschaft nicht mehr viel, sondern erwähne derselben nur, weil unter ihnen auch der alte Bekannte Louis Tobler192Ludwig Tobler (1827-1895) wurde Professor für Sprachwissenschaften und Germanistik, erst in Bern, dann in Zürich. Er war in Hirzel aufgewachsen, wo sein Vater Salomon Tobler Pfarrer war. HLS (www.hls-dhs-dss.ch).schliessen sich befindet, so daß sich die Jugendbekanntschaft vom Hirzel hier in Berlin noch einmal auffrischt, während sie in Zürich mehrere Jahre fast erloschen war; bis jetzt wenigstens stehe ich sehr gut mit ihm; außer ihm muß ich doch auch noch den alten Bekannten David Bodmer193Wahrscheinlich David Bodmer (1825-1878), später Pfarrer in Langnau und 1871 in Schlieren. Zürcher Pfarrerbuch, S. 204.schliessen erwähnen, der mit ihm hergekommen ist.

Ein Ereigniß will ich doch hier noch erwähnen, das Euch zwar vielleicht nicht so sehr interessirt wie mich, aber doch auch von allgemeinem Interesse ist. Letzten Sonntag Abends, etwa um 8 Uhr Abends fiel hier in Berlin eine feurige Kugel nieder und zwar merkwürdiger Weise gerade in den Hof der Universität, so daß die niedergefallene Masse sogleich von dem im Universitätsgebäude wohnenden Direktor des Mineralienkabinets (Prof. Weiss) aufbewahrt wurde; er zeigte uns dieselbe auch den folgenden [S.3] Tag im Colleg; die Masse ist beim Herunterfallen in viele kleine Stücke von ungefähr der Größe einer Haselnuß zerplatzt; alle diese Stücke vereinigt mögen etwa die Größe eines großen Hühnereies gehabt haben. Was die Meteorsteine im Allgemeinen betrifft, so ist man darüber verschiedener Ansicht. Die einen glauben ihre Masse stamme ursprünglich von der Erde und habe sich in der Athmosphäre so zusammengeballt und dann wieder heruntergestürzt. Die andere Ansicht, für welche sich auch Alexander von Humboldt194Alexander von Humboldt (1769-1859) wurde von den Naturwissenschaftern an der Universität Berlin als Gründerfigur verehrt; sein Versuch einer Gesamtschau der Natur in "Kosmos" war offenbar auch für die junge Generation Pflichtlektüre. Heusser benutzt die Gelegenheit, der Familie einmal etwas von seinen wissenschaftlichen Kenntnissen anzudeuten. Er hat von Humboldt noch eine handschriftliche Empfehlung erhalten und ihn kurz vor seiner Abreise nach Brasilien im Dezember 1856 besucht.schliessen in seinem Kosmos ausspricht ist die, sie seien kosmischen Ursprungs, d.h. sie kommen aus dem Weltenraum vielleicht als abgerissene Stücke eines andern Planeten, oder vom Monde, kurz nur nicht ursprünglich von unserm eigenen Planeten. Was meine eigene Ansicht darüber betrifft, so glaube ich allerdings auch, ohne auf eine Autorität zu schwören, daß sie kosmischen Ursprungs seien, da ich mir, auch wenn ich noch annehmen könnte, daß die Masse auf irgendeine Art von der Erde in die Höhe geschleudert worden wäre, doch immer nicht vorstellen könnte, wie sie sich in der Athmosphäre entzündet. —

Nun bin ich wieder mit dem Geld beinahe ausgekommen; es wird Euch vielleicht vorkommen, daß es dies Mal wieder schnell gegangen ist, aber die Collegien haben mir jetzt auf einmal wieder einen tüchtigen Theil weggenommen; (die naturwissenschaftlichen Collegien kosten [...] Frdr.195Wegen einem Loch im Papier fällt hier Angabe der Summe weg. Der preussische Friedrichd'or wurde erstmals von Friedrich dem Grossen geprägt und war bis 1855 in Umlauf.schliessen = 11 Thlr. 10 Gr. also zusammen 34 Thlr.); überdies habe ich während der Ferien viel gebraucht für meine chemischen Arbeiten und einiges für die Reise nach Rügen; da ich also vor der Hand noch in Berlin bleibe, so will ich nun auch meinen Aufenthalt hier noch recht in allen Beziehungen benutzen, man kann allerdings weniger Geld gebrauchen, wie ich es auch schon gethan habe, aber dann hat man auch nicht den rechten, gewiß nicht einmal den dem gebrauchten Gelde verhältnismäßigen Nutzen eines Aufenthalts in Berlin; und abgesehen von dem Geld das ich zum Studiren brauche, muß ich nun für mein Äußeres etwas mehr verwenden (z.B. sind neue Hemden nothwendig) da ich nun jedenfalls alle Einladungen, die ich etwa in beide Familien Rose erhalten werde, auch unbedingt annehmen will.

[S.4] Dr. Landis von Richterschweil, der seit einiger Zeit hier ist und [in] meinem Hause wohnt, läßt Theodor grüßen; Theodor soll doch den Gruß durch die Leute von Landis erwiedern lassen, sonst glaubt er es nicht, indem er eine furchtbare Frau Bas196Laut Idiotikon IV, Sp. 1649 wird "Frau Bas" gebraucht für einen geschwätzigen, auch unentschlossenen Menschen, der sich für Dinge interessiert, die ihn nichts angehen.schliessen ist. —

Grüßet mir Alle vielmal,
Euer tr. Sohn: J. Chr. Heußer.
Berlin den 31t. Oct. 49.


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