Brief Nr. 20 – 4.10.1849
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20 4.10.1849
[Berlin, 4. Oktober 1849]
Liebe Eltern!

Ich kann den letzten Brief von Hanni unmöglich lange unbeantwortet lassen, da mich die darin enthaltene Nachricht zu sehr ergriff.184Am 18. September 1849 hatten die Eltern einen Unfall erlitten. Ihre Kutsche, die "Chaise", war umgestürzt, wobei sich die Mutter verletzt hatte. In den Memorabilien der Zeit erwähnt Meta Heusser am 18. 9. 1849 den Unfall, der offenbar relativ glimpflich abgelaufen war: "Sturz vom Wagen: 'Ja - der Abend ist gekommen.'" Sie wurde von ihrer Tochter Anna während einigen Wochen gepflegt: Einträge vom 20. 9. und 29. 10. 1849.schliessen Es mag allerdings noch glücklich gegangen sein, wenn man bedenkt, was hätte geschehen können; aber abgesehen davon ist es schlimm genug, daß Ihr beide durch den Fall bedeutend verletzt wurdet und wahrscheinlich noch lange an den Folgen derselben werdet zu leiden haben, denn wie mir scheint, schreibt Hanni nicht ganz die Wahrheit, sondern scheint die Sache etwas milder darstellen zu wollen, und deswegen bin ich noch mehr besorgt. Denn wenn ein Roß in vollem Lauf jenen steilen Berg hinunter läuft, an den ich mich ganz gut erinnern kann, so kann ein Fall bei dieser pfeilschnellen Bewegung keine geringen Folgen haben, besonders für Frauen, die sich ja durchaus nicht zu helfen wissen, sondern in Gottes Namen dahin fallen, wo der blinde Zufall sie wirft, sei es nun an einen Stein oder ins Gras; aber auch ins Gras fällt man halt bei solchem Fall nicht weich. Ich will also vor der Hand froh sein, daß es so gegangen ist, bitte mir übrigens baldige Nachrichten aus, wie es jetzt mit Eurer Gesundheit steht und ganz speciell, was die unmittelbaren Folgen des Falls gewesen sind. — Hat denn eigentlich das alte treue famose Roß vom Rothenthurm ausgedient, konnte man dies nicht mehr brauchen, ist es verkauft? Ich weiß wohl, daß es viel angenehmer ist, viel mehr Reiz hat, mit einem jungen lebhaften Pferd zu fahren, aber die Hauptbedingung ist und bleibt halt Sicherheit, wenigstens wenn man nicht allein ist; allein kann man sich schon einem wilden Roß anvertrauen, ich bin in dieser Beziehung auch keine Schlafmütze und will Euch nun auch ein kleines Abentheuer erzählen, das ich letzten Winter in Berlin erlebte, aber ohne [S.2] diese letzte Nachricht von Euch wahrscheinlich verschwiegen hätte! Es war an einem schönen Nachmittag im November als mich ein Aargauer aufforderte einmal mit ihm zu reiten, da wir schon lange davon gesprochen hatten. Der Stallmeister hatte nur noch zwei Pferde im Stall, von denen das eine ein neu gekaufter Hengst war, für welchen er noch nicht einmal eine passende Kandarre hatte. Er wollte das Thier anfangs nicht geben, ließ mich aber mit der bloßen Trense in der Bahn herumreiten, und als er sah, daß ich reiten konnte, willigte er dann auch ins Ausreiten. Anfangs gieng es ganz gut im Thiergarten herum, bis etwa nach einer halben Stunde das Pferd umkehrt und in vollem Galop der Stadt zurennt. Ich suche es mit allen Kräften zurückzuhalten, als plötzlich die eine Schnalle der alten Trense losgeht, so daß ich bloß noch Einen Zügel besitze, d. h. also gar keine Gewalt über das Pferd mehr habe; nun kam es darauf an geschickt vom Roß herunter zu kommen, ich kam nicht stehend und auch nicht gerade weich auffallend, aber doch unverletzt zu Boden; das Pferd wurde von Soldaten, die im Thiergarten spazirten aufgefangen und ich hatte das Vergnügen dasselbe zur Stadt zurückzuführen. — Nachher hatte ich Freude über das Abentheuer und hätte es um keinen Preis ungeschehen gemacht.

Daß Wilhelm Rose Euch Alle in so traurigem Zustand getroffen hat, thut mir sehr leid; hoffentlich wird er noch einmal mit der Frau gekommen sein, und Euch wieder gesund getroffen haben. Bei dieser Gelegenheit will ich Euch gleich bitten, wenn das Pack nicht zu groß wird, mir durch Hr. Roses noch einige Bücher zukommen zu lassen, nämlich Uhlands Gedichte und Einiges von Jeremias Gotthelf: Der Schulmeister, Anne Baebi Jowaeger, Uli etc., welche alle sich in meinen hinterlassenen Büchern finden werden; doch fragt zuerst Roses wie groß das Pack sein dürfe.

Hier in Berlin giebt es nicht viel Neues; es sieht jetzt in Allem so ziemlich wieder aus wie vor zwei Jahren, als ich herkam, nur daß man immer noch keine oder [S.3] doch nur wenige königliche Equipagen die Linden herauf und herunter fahren sieht da der König noch immer nicht in Berlin residirt.

Vor etwa 14 Tagen hielt sich mein alter Bekannter und Schulkamerad Pestalozzi von Zürich auf seiner Durchreise von Wien nach Paris einige Tage hier auf, was mich ungeheuer freute; denn, wenn man auch immer neue Bekanntschaften macht, so ist es halt nicht mehr dasselbe, wie wenn man so 7 Jahre miteinander auf den Schulbänken herumgerutscht ist. — Ferner sagt mir doch im nächsten Brief, ob jener Wolff von Magdeburg wirklich nie bei Euch gewesen ist, daß er nämlich in der Schweiz war, weiß ich sicher. —

Hanni schreibt mir im letzten Brief, Hüni von Horgen habe meinen letzten Brief gelesen; kommt er denn oft zu Euch in den Hirzel, und was treibt er denn gegenwärtig, hat er das juristische Staatsexamen gemacht, oder ist er noch in irgendeiner Kanzlei? jedenfalls grüßt mir ihn, wenn Ihr ihn wieder seht. — Und wie ist es denn mit dem Esslinger185Johann David Esslinger (1824-1906) wurde zum ersten Pfarrer der 1849 neugegründeten Kirchgemeinde Obfelden gewählt: vgl. Zürcher Pfarrerbuch, S. 260.schliessen von Kappel, von dem ich las in der Eidg. Zeitg., er sei Pfarrer in der neuen Gemeinde im Knonauer Amt geworden, hat er nun wirklich geheirathet? und ist ein unfreier und un[...]186Siegelausriss.schliessen Ehemann geworden? Zu grüßen braucht Ihr mir den nicht, wenn Ihr ihn irgend zufällig sehen solltet.

Ich schließe hiemit, indem ich von den Collegien, die erst den 20t. October beginnen noch Nichts erzählen kann. Die ganzen Ferien hindurch habe ich mit Ausnahme der 10 Tage der Rügenreise in einem chemischen Laboratorium gearbeitet, so daß es eigentlich kein großer Unterschied ist für mich, ob Collegien- oder Ferienzeit. Wenn es noch nöthig ist, so wünsche ich also von Herzen gute Besserung!

Euer tr. Sohn: J. Ch. Heusser.
Berlin den 4t. Oct. 1849


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