Brief Nr. 19 – 16.9.1849
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19 16.9.1849
[Berlin, 16. September 1849]
Liebe Eltern!

Daß ich wieder 150 Thaler bezogen habe, werdet Ihr bereits vom Hause Bodmer178Das Bankhaus Bodmer in Zürich.schliessen in Zürich erfahren haben. Ich beantwortete Euren Brief nicht sogleich, weil ich eine Reise nach der Insel Rügen vorhatte und diese erst machen wollte, um Euch nun von derselben etwas erzählen zu können. Gleich am Tage, nachdem ich Euren Brief erhalten, schnürte ich also meinen Tornister und fuhr mit der Eisenbahn nach Stettin, um dann auf dem Dampfschiff die kleine Meerfahrt nach der Insel Rügen hin zu machen. Zufällig war aber gerade an jenem Morgen das Dampfschiff nach Rügen abgefahren, und bis zur nächsten Fahrt dauerte es 3 Tage; und da in Stettin nicht viel Merkwürdiges zu sehen ist, so beschloß ich gleich jetzt den Landweg nach Stralsund zu nehmen, den ich sonst im Rückweg einschlagen wollte; es ist dies also der lange Pommersche Küstenstrich, voller Sand und ohne Abwechslung, etwa 20179Wohl Verschrieb für "200".schliessen Meilen weit; ich setzte mich daher in einen Omnibus und kam so nach etwa 28 stündiger Fahrt in Stralsund an. So öde und unfruchtbar, wie die Mark Brandenburg ist zwar dies Pommern nicht; man sieht die schönsten Getreidefelder und bisweilen, wo das Meer etwas in das Land hineindringt und bewässert, sogar schöne Wiesen mit fetten Kühen. Stralsund bietet nicht viel anderes, als geschichtliches Interesse; die Festungswerke sind zerstört, sollen aber wieder aufgebaut werden, wozu wohl der Krieg mit Dänemark die Veranlassung gegeben haben mag. Zwischen Stralsund und Rügen ist nun das Meer sehr schmal, so daß man in ¾ Stunden übersetzen kann. In Rügen ans Land gestiegen, begann ich nun die Fußwanderung und zwar zunächst nach Bergen, dem Hauptorte der Insel, einem Flecken von ungefähr 3000 Einwohnern. Er liegt auf einer nicht unbedeutenden Anhöhe, von deren oberstem Punkt, dem sogenannten Rugard man eine schöne Aussicht über die ganze Insel hat. Es knüpfen sich an die[S.2]sen Punkt auch viele Sagen aus geschichtlicher und mythologischer Zeit; aber am interessantesten war mir die Aussicht selbst, die mich lebhaft an viele Punkte in der Schweiz erinnerte; nur fehlen natürlich hier die hohen Berge; die Ähnlichkeit wird aber durch die verschiedenen Arme und Buchten des Meeres hervorgerufen, die von allen Seiten ins Land hereinragen und mit blauem Wasserspiegel, wie unsere Seen lieblich ins Auge fallen. — Von Bergen nun schlug ich nicht den gewöhnlichen Weg der Reisenden ein, sondern wendete mich durch wenig besuchte Orte gegen Norden nach Arkona hin, um so diese Inselbewohner auch da kennen zu lernen, wo sie in ihrer Abgeschiedenheit leben und nicht mit den Fremden in Berührung kommen. Wo dies der Fall ist, sind sie eben, wie in der Schweiz und wie überall und haben nichts Eigenthümliches mehr. So hatte ich denn Gelegenheit in einem ziemlich abgelegenen Dörfchen Neuenkirchen, wo ich übernachtete, die Rügener in ihrer Eigenthümlichkeit kennen zu lernen; es ist ein gutmüthiges, zufriedenes Völkchen, und kümmert sich wenig, oder weiß gar Nichts von den Kämpfen und dem Treiben der übrigen Welt, hat aber auch gar keinen Begriff von der Selbstständigkeit eines Volkes, indem die Leute sagten, sie seien früher gerne unter Schweden gestanden (bis 1819 war Rügen schwedisch), aber der König von Preußen sei auch ein guter Herr; und wenn sie morgen unter Rußland kämen und nur nicht aus ihrer Ruhe gestört würden, dann wären sie auch damit zufrieden. — Über Altenkirchen, wo Kosegarten180Gotthard Ludwig Kosegarten (1758-1818), sozial engagierter Pfarrer in Altenkirchen und Autor vieler Berichte über Rügen.schliessen begraben liegt, gieng es dann nach Arkona, und hier sah ich zum zweiten Mal das weite Meer, an dessen Anblick ich mich vom hohen Leuchtthurm herab weidete, zugleich ist dies der nördlichste Punkt von ganz Deutschland, also auch das natürliche Ziel meiner Reise. Es gieng nun wieder zurück und zwar zunächst nach dem berühmten Stubbenkamer, einem Gasthof, der mitten in einem schönen Buchwalde auf 400 Fuß hohen Kreidefelsen liegt, welche steil ins Meer abfallen. Unstreitig hat der Anblick des blauen Meeres, der weißen Kreidenfelsen und des grünen Buchwalds etwas einzig [S.3] Schönes, das durch einen klaren Sonnenaufgang noch reizender wird. An dem Tage, den ich auf Stubbenkamer zubrachte, war der Sonnenaufgang leider unklar. Nun gieng es nach dem Jagdschloß, von dessen hohem Thurm man wieder wunderschöne Aussicht hat sowohl nach dem offenen Meere, als nach den vielen Buchten, die ins Land hereinragen und über die schönen Wälder dieses Theils der Insel. Zugleich sind in diesem Schlosse einige Sääle zu sehen, die ihres Prunkes und kostbarer Ausstaffirung wegen allen Fremden gezeigt werden. Das Schloß ist Eigenthum des Fürsten von Putbus, der übrigens bloß dem Namen [nach] Fürst ist, sonst aber keine politischen Rechte über die Insel hat. Der ganze südliche Theil der Insel ist indeß sein Privateigenthum und die Bewohner sind eben seine Pächter. — Von diesem Jagdschloß nun gieng ich nach Putbus, wo ich noch zwei Tage blieb; es ist dies nämlich der Badeort, wo die meisten Fremden sich aufhalten, und ich traf hier Al[oys] v. Orelli,181Der Jurist Albert Aloys v. Orelli (1827-1892) war später Bezirks- und Oberrichter, dann Professor an der Universität Zürich und konservatives Mitglied des Kantonsrats. HLS 9, S. 452.schliessen Dr. jur. von Zürich, der diese 2 Jahre in Berlin war und nun vor seiner Heimreise hier noch Meerbäder nimmt; vielleicht wird er Euch von Zürich aus einmal besuchen. Dann fuhr ich auf dem Meer über Swinemünde nach Stettin zurück, da es aber ein ganz windstiller Tag war und deswegen keine großen Wellen das Schiff bewegten, so wurde kein einziger Passagier von der Seekrankheit befallen, was zwar auf der einen Seite angenehm war, auf der andern aber doch das Charakteristische der Meerfahrt benahm. So kehrte ich vergnügt nach Berlin zurück in dem während der 10 Tage, mit Ausnahme eines einzigen Tages, stets das schönste Wetter die Reise begünstigt hatte.

Hier in Berlin bin ich nun wieder tüchtig im Studiren begriffen, um mir dann den Doktortitel zu erwerben; Orelli ist mir allerdings darin vorangegangen, er hat aber auch jetzt ausschließlich 4½ Jahre jus studirt.

Hr. Wilhelm Rose wird nun wohl mit seiner Gattin wieder bei Euch gewesen sein, und vielleicht auch dessen Bruder Heinrich Professor der Chemie, was mich sehr freuen würde. Wenigstens ist er auch nach der Schweiz verreist und wird wohl auch einmal in der Nähe von Hirzel vorbeigekommen sein. Jedenfalls lasse ich mich der Fa[S.4]milie Rose bestens empfehlen, wen immer von derselben Ihr noch sehen mögt. Bei der Gelegenheit kommt mir zu Sinne, daß sie vielleicht die Güte hätten, etwas für mich mitzubringen nach Berlin und zwar meine ich einige Paare dicke, warme Winterstrümpfe, wenn noch welche von mir vorhanden sind; ich habe zwar früher keine getragen, aber hier in Berlin, wo man keine Vorfenster hat, bekomme ich denn doch kalt an den Füßen beim Stillsitzen, wenn es draußen etwa 15° kalt ist. Also wenn Ihr noch welche habt, so schickt mir warme Strümpfe, sonst werde ich mir hier anschaffen, wie ich mir auch werde Hemden anschaffen müssen, da eines nach dem andern in der Wäsche wie Fließpapier auseinandergeht.

In politischer Beziehung fällt hier Nichts von Interesse vor; der Schauplatz der politischen Begebenheiten ist ja diesen Sommer mehr in Eure Nähe gerückt. Für die Putsche in Baden hatte ich nie große Sympathie, hingegen die Ungarn bedaure ich wirklich, daß sie, nach dem sie sich durch eigene Kraft von diesem erbärmlichen Östreich frei gemacht, nun durch Rußland unter das alte Joch gebeugt werden.1821849 konnte der ungarische Aufstand gegen die österreichische Herrschaft nur mit russischer Hilfe niedergeschlagen werden.schliessen

Wenn Du liebe Hanni, jenen Preußen Holzendorf183Kann nicht identifiziert werden.schliessen wieder sehen solltest, so grüße ihn; ich habe ihn bei Zschokke hier oft gesehen. Ferner bekommt Ihr vielleicht einen Besuch von jenem Wolf aus Magdeburg, bei dem ich das letzte Neujahr zubrachte; er studirte nämlich dies Sommersemester in Bonn und soll in diesen Ferien eine Schweizerreise machen. —

Grüßet mir Alle vielmal, Euer tr. Sohn: J. Ch. Heusser.
Berlin den 16t. Sept. 49.


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