Brief Nr. 17 – 7.8.1849
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17 7.8.1849
[Berlin, 7. August 1849]
Lieber Papa!

Zunächst wirst Du Dich wundern, daß so lange kein Brief von mir gekommen ist; der Grund davon ist der, daß ich schon drei Briefe geschrieben und drei Mal diese wieder zerrissen habe, weil ich beim ruhigen Durchlesen derselben fand, daß sie in der Aufregung geschrieben waren; denn wenn ich daran denke, daß ich im 24t. Jahre nochmals meine Pläne ändern soll, so kann ich nicht ruhig dabei bleiben, sondern werde so aufgeregt, daß ich den größten Unsinn begehen könnte. Übrigens will ich mir jetzt Mühe geben ruhig zu bleiben, um wo möglich diesen vierten Brief nicht auch noch zerreißen zu müssen.

Bei Deinem Wunsche mich wieder für die Medicin zu gewinnen, können Dich nur zwei Beweggründe leiten, 1t. der, mir eine gesicherte ökonomische Stellung für die Zukunft zu verschaffen, und 2t. von mir Hülfe in Deinem Alter zu erhalten. — Was nun den ersten Beweggrund betrifft, so ist dieser ganz schön und gut, und ich bin Dir sehr dankbar für Deine väterliche Besorgtheit; ich bin auch vollkommen überzeugt, daß ich als praktischer Arzt für mein ganzes Leben eine vollkommen gesicherte Stellung hätte, bei der ich mir ein ordentliches Vermögen erwerben könnte. Indeß ist die Medizin nicht der einzige Weg, durch den man sich Geld verschaffen kann, und wenn ich auch bis jetzt noch selten darüber mich ausgesprochen habe, so war ich nichts desto weniger immer darauf bedacht auch eine äußerlich glänzende und vollkommen unabhängige Stellung zu verschaffen; denn da ich je länger je mehr sehe, daß das Geld der Hebel ist, der die Welt bewegt, ohne dessen Besitz man eigentlich nicht frei ist sogar in der Republik Schweiz, so will ich nun auch ein Egoist werden, wie alle übrigen Menschen und mir so viel Geld zu verschaffen suchen, als mir immer möglich ist; und da scheint mir denn der Weg, den ich eingeschlagen, keineswegs ein ungünstiger zu sein: Mathematik, die nur zum Schulmeistern, allenfalls zu einer Professur führt, ist deswegen schon seit einem Jahr nicht mehr mein ausschließliches Studium; [S.2] Ich trieb sie im ersten Jahr in Berlin nur deßwegen ausschließlich, weil ich mich für alle Fälle so bald als möglich befähigen wollte eine sichere, wenn auch nicht glänzende Stelle bekleiden zu können, und das könnte ich jetzt auch jeden Augenblick. Dann fieng ich aber auch an Chemie zu treiben, womit ich hoffte, nicht nur mit Mühe und Noth mich durch das Leben durch zu arbeiten, sondern auch damit mir Geld, ein Vermögen zu verschaffen. Und in der That ist die Chemie, von deren gewaltigem Einfluß auf Handel, Industrie, Technik und das ganze menschliche Treiben man sich eben keine Vorstellung machen kann, wenn man sich nicht damit beschäftigt hat, dasjenige Gebiet, in dem am allermeisten der einzelne thätige, intelligente Kopf sich emporschwingen kann, indem der Einzelne durch die Arbeit seines Kopfes die Früchte der Arbeit der Hände von Hunderten oder Tausenden genießt, die nichts als seine Maschinen sind. Es liegt zwar etwas Unmoralisches darin; dadurch daß der Einzelne das Geld, das Tausende verdienen helfen, an sich reißt, wird das Proletariat gegründet; aber da ein Mal jeder Mensch ein Egoist ist, und auf alle Weise auf seinen eigenen Vortheil bedacht ist, so will ich einmal mit in diesen Kampf eintreten und so viel heraus zu fischen suchen als möglich ist. Wenn Du übrigens noch Zweifel in eine solche Carrière setzest, so will ich Dir nur anführen, daß in Frankreich in Fabriken Chemiker eingestellt werden mit 10000 Frk. jährlichem Gehalt; wie viel der Besitzer selbst verdient kann man daraus schließen; ich wäre vor der Hand mit einer solchen Stellung eines Angestellten zufrieden, sehe aber gar nicht ein, warum ich es nicht eben so gut wie schon Viele Andere, die mit Nichts angefangen haben, zum wirklichen Besitz irgend eines solchen Geschäftes sollte bringen können. So viel über diesen Punkt: mir also scheint bei der Medizin eine gesicherte ökonomische Stellung mich zu erwarten, aber bei meinen andern Plänen eine noch günstigere. Was nun den zweiten Punkt betrifft, nämlich den, daß Du gerne Hülfe hättest, so ist dies allerdings ganz begreiflich, und ich wollte gern helfen, wenn ich mich damit nur für 10 oder 20 Jahre und nicht für mein ganzes Leben binden [S.3] würde, aber für das ganze Leben an einen Beruf gefesselt zu sein, den man nicht liebt, das ist etwas zu lange. — Überdies höre ich von Landis von Richterschweil, der seit einigen Wochen in Berlin ist und in meinem Hause wohnt, daß das medizinische Staatsexamen in Zürich bedeutend strenger gemacht worden ist, so daß ich ja weiß Gott wie viele Jahre wieder studiren müßte, ehe ich zum Examen gelangen könnte, denn von meinen frühern Studien weiß ich Nichts mehr, denn was helfen die Zeugnisse, wenn das Zeug nicht im Kopfe ist. Daran hast Du also wahrscheinlich noch gar nicht gedacht, daß Du doch noch wenigstens 3-4 Jahre allein bleiben müßtest; und von mir wäre vorher durchaus keine Hülfe zu erwarten, denn in Zürich auch nur noch Einen Tag zu studiren, wäre mir in Gottes Namen unmöglich; das thäte ich nie mehr; — ferner muß ich noch auf den Kostenpunkt aufmerksam machen, was soll ich noch 3-4 Jahre nicht nur Nichts verdienen, sondern jährlich noch 700-800 Fr. brauchen, denn darunter geht es nicht; medizinische Studien sind theurer als andere und so viel habe ich so beinahe gebraucht. — Schließlich muß ich noch bemerken, daß alles Bisherige eigentlich unnütze Bemerkungen waren, denn wenn ich auch meine Abneigung gegen die Medizin noch überwinden und zum Gespött der Leute zum 7t. Mal wieder Medizin zu studiren mich entschließen könnte, so würde ich es doch niemals thun, ohne Dir einmal den Hauptgrund gesagt zu haben, warum ich neben meiner Abneigung nicht Medizin studiren wollte. Außer mir weiß diesen Grund Niemand, und soll ihn Niemand erfahren, als Du selbst; ich wollte früher weitläufig darüber schreiben, mußte aber gerade deswegen den Brief 3 Mal wieder zerreißen, indem ich mich überzeugt habe, daß ich darüber durchaus nicht durch Mutter oder Schwestern mit Dir verhandeln kann, sondern es nicht anders als mündlich thun würde. Und da Du nicht geneigt sein wirst mich auf das Ungewisse hin heimkommen zu lassen (denn durch die Heimreise würde ich mich nicht [S.4] binden lassen) so wird es also wohl beim Alten bleiben. — Da wirst Du denn freilich, wie ich leicht begreife, nicht geneigt sein, mir weiter Geld zu schicken, und ich bin auch entschlossen nun ins praktische Leben einzutreten. Eine glänzende Stellung werde ich wohl vor der Hand nicht gleich finden, aber sicher bin ich, daß ich mich durchbringen kann, und nachher wird sich schon etwas Besseres zeigen. — Ich bitte daher um mein sämtliches Geld von Lisebethli selg. und von Wädenschweil; ich habe bereits seit dem 1t. Juli kein Geld mehr, werde also aus diesen angeführten Geldern und wenigen Thalern, die mir noch von dem Bremen Geld übrig sind, etwa bis Neujahr noch in Berlin bleiben können, wenn ich mich einschränke, wie ich es im ersten Semester hier gethan; bis dann werde ich mich in Berlin um eine Stelle umsehen, und wenn sich keine findet nach Zürich zurück kommen, wo ich sicher bin ein ordentliches Auskommen von der Stunde an zu finden.

Die Familie Rose soll bereits in Paris angelangt sein, und wird also nächstens nach der Schweiz kommen; so hörte ich von dem Bruder Heinrich Rose, Prof. der Chemie, der mich vor einigen Wochen für einen Abend eingeladen hatte und seit dem noch einmal. Er ist ein Mann von Europäischem Ruf; trotzdem aber ausgezeichnet freundlich und herablassend; so daß ich mir von dieser Bekanntschaft viel versprochen hatte. — Er hatte auch im Sinn in den Herbstferien nach der Schweiz zu kommen, hat aber jetzt den Plan wieder aufgegeben, da er als ein eifriger Preuße mit den Süddeutschen und Schweizern in Gasthöfen etc. Skandal zu bekommen fürchtet.174Anspielung auf die antipreussische Stimmung in der Schweiz in Zusammenhang mit dem Konflikt um die Loslösung Neuenburgs von der preussischen Herrschaft.schliessen

Grüßet mir Alle vielmal,
Euer tr. Sohn: J. Heusser.
Berlin den 7t. Aug. 1849


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