Brief Nr. 15 – 15.7.1849
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15 15.7.1849
[Berlin, 15. Juli 1849]
Lieber Bruder!165Einer der seltenen Briefe an Bruder Theodor, dem er seine Schwierigkeiten mit den Ansprüchen des Vaters am besten erklären kann.schliessen

Du weißt wohl, welches Verlangen der Vater wieder an mich gestellt hat, und weißt wahrscheinlich auch, welche Angst die Mutter dabei hat: Wenigstens hat sie mir einen kläglichen Jammerbrief geschrieben, in dem sie mich bittet und beschwört, nicht wieder umzukehren. Natürlich wird sich dieser Jammer verdoppeln, wenn sie hört, daß nicht direkte Unmöglichkeit vorhanden ist, daß ich wieder umkehre. So viel ich weiß hältst es auch Du für Unsinn, wenn ich es thue, und es wird es die ganze Welt für Unsinn halten, indeß letzteres ist mir Wurst und ich will mit diesen Worten nur dich überzeugen, daß es kein Unsinn ist. Vor allem aus glaube nicht, daß ich dies Mal auf das Lockgen und Anerbietgen des Vaters hin, oder aus dem Drange Mutter und Schwestern zu Hülfe zu kommen den Schritt thun werde; wenn es geschieht, so geschieht es dies Mal aus Neigung; es wird aber jedenfalls nicht geschehen ohne große Opfer des Vaters, mit denen sich das Anerbieten von 500 Thlr. Jährliches Gehalt und zwei Jahre Studienzeit nicht vergleichen lassen. Um Dich von der Möglichkeit zu überzeugen, daß ich jetzt Lust zur Medizin hätte, muß ich Dir meine Schicksaale seit ich an der Universität bin, d.h. seit 4½ Jahren mittheilen, nachher werde ich auf meine Forderungen gegen den Vater zurückkommen.

In Folge der väterlichen Praxis brachte ich Widerwillen gegen die Medizin mit an die Hochschule, schwänzte deswegen Chemie und Botanik, wurde also durch Nichts zur Medizin hingezogen und sattelte im Herbst um; ich trieb nun ein Jahr lang etwas Mathematik, Geschichte der Philosophie und Philologie; beinahe die Hälfte der Zeit aber verwandte ich auf Privatstunden, um doch einigermaaßen das Studentenleben mitmachen zu können (liederlich war ich in jenem Jahr nicht). Da kam ich also dennoch nicht recht ins Studium hinein, wie ich erst jetzt recht einsehe, da ich weiß, was Studiren heißt, und so war es denn nicht schwer im Herbst 46 [S.2] nach 3 Semestern mich wieder für die Medizin zu kriegen, da der Vater alle möglichen Versprechungen machte, und ich glaubte, es werde schon etwa gehen. Es ging aber nicht, wie mir jetzt sehr begreiflich ist: Von Kenntniß der Botanik und anorganischer Chemie war keine Rede, ich konnte daher keine organische Chemie verstehen; von Geld war natürlich keine Rede für Bücher, um diese Mängel durch Privatstudium auszufüllen; fehlte mir doch das Geld, um noch nothwendigere Bücher und Hülfsmittel zum Studium der Anatomie selbst anzuschaffen, da ich zu stolz war mich für jeden Schilling, den ich das Recht hatte vom Alten zu fordern, anschnauzen zu lassen. — Auf der andern Seite gestehe ich offen, daß ich, da ich in jener Zeit zum Praeses der Studentenschaft gewählt wurde, nun recht ins Bummelleben, nie aber in die Medizin hineinkam, und wenn ich das Dokterlen zu Hause sah, immer größere Abneigung bekam. — So waren 5 Semester rein verloren, die Hälfte der Schuld werfe ich auf den Vater, die Hälfte will ich selbst tragen. — Es wurde nun wieder umgesattelt, und da ich ganz kleiderlos nach Berlin kam und doch Empfehlungen an Rose hatte, mußte ich mich erst ganz neu kleiden lassen und brauchte sehr bald Geld; jene erste Antwort vom Hr. Vater werde ich ihm nicht vergessen, und diese seine Antwort ist die Schuld, daß, wenn ich überhaupt wieder umkehre, ich es nicht schon ein Jahr früher gethan habe, er also noch 1 Jahr länger allein sein muß. Ich gieng nämlich mit der Absicht nach Berlin, Mathematik und Naturwissenschaften zu studiren; und die Grundlage aller Naturwissenschaften ist nun einmal Chemie; Chemie zu treiben ist aber in Berlin theuer, da kein öffentliches Laboratorium existirt, sondern nur Privatlaboratorien, in denen man monatlich 10-12 Thaler bezahlt. Ich trieb daher ein ganzes Jahr lang nichts als Mathematik, und erst auf die freundlichen Andeutungen von Hr. Pfr. Wild hin, daß er mir im Falle es beim Vater fehlen sollte mit Geld aushelfen wollte, fieng ich an Chemie und Mineralogie zu treiben; ich arbeitete nun diesen Sommer in einem chemischen Laboratorium, und dadurch ist erst recht die Lust nach Naturwissenschaften überhaupt in mir geweckt worden; [S.3] ich bereiste in den Pfingstferien mit einem Chemiker von Zürich und einem Mediziner von Berlin den Harz; sie beide botanisirten, ich schämte und ärgerte mich Nichts davon zu verstehen; seither gieng ich mit jenem Mediziner zu Joh. Müller166Johannes Müller (1801-1858), seit 1833 Prof. f. Anatomie und Physiologie in Berlin; er war Rektor der Universität im Revolutionsjahr 1848. Vgl. M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin II 1, S. 456f. und II 2, S. 198ff.schliessen in die Physiologie, war entzückt über seinen Vortrag und über den Gegenstand selbst, da ich das meiste, wenn es nicht gerade in die Anatomie einschlug, verstand, und dachte, wenn ich nächsten Sommer noch in Berlin sein sollte, werde ich jedenfalls dies Colleg noch annehmen und regelmäßig besuchen; natürlich kam mir deswegen kein Sinn dran, wieder zur Medizin zurückzukehren, da ich mit Mathematik und Chemie vollständig befriedigt bin und mit letzterer auch ein ordentliches Auskommen zu finden hoffe, wenn ich noch ein Jahr studiren kann, und mit ersterer es von jedem Augenblick an in Zürich haben kann, wenn ich dahin zurückkehren will. — So machte denn der Brief vom Vater durchaus keinen so schrecklichen Eindruck auf mich. Über den halb drohenden Ton lachte ich, da ich mich jeden Augenblick von ihm frei machen kann, und dies auch jedenfalls thun werde, wenn ich nicht zur Medizin zurückkehre; ich will mich nicht länger von ihm erhalten und dabei Vorwürfe machen lassen. Daß ich nicht mehr von ihm abhängig bin werde ich ihm dadurch zeigen, daß ich ihm sein Benehmen gegen Mutter und Schwestern vorhalte, und ihm in dieser Beziehung nun einmal die Wahrheit rund heraus sage; dies ist nun einmal beschlossen und soll ausgeführt werden, so sicher als ich kein Kind mehr bin und nicht mehr vor ihm zittere! Wie ich dies anstellen werde, sollst du jetzt gleich erfahren: Vor dem Übertritt zu Medizin schreckt mich nicht mehr das Studium selbst ab, sondern höchstens die ärztliche Praxis als solche, und nicht etwa die ärztliche Praxis unter der Ägide des Vaters, denn dafür werde ich schon sorgen; was nun diese ärztliche Praxis betrifft, so befasse ich mich vor Allem mit den Geschäften der sogenannten niedrigen Chirurgie (Zahnausreißen, Aderlassen etc.) nicht; ob ich mich mit der höhern Chirurgie versöhnen und selbst Operationen ausführen werde, weiß ich nicht; am Ende habe ich dich zur Seite oder stecke sie ganz auf; und in die eigentliche medizinische Pra[S.4]xis werde ich mich wohl finden können. — Für Naturforscher sind bei Gott in Preußen keine großen Aussichten, wenn sie nicht Geld haben durch eigene Reisen auf eigene Kosten sich erst einen Namen zu erwerben, und dies habe ich nun nicht. Bilde ich aber nun meine mineralogischen und geognostischen Kenntnisse weiter aus, wozu in Berlin die beste Gelegenheit ist und nicht viel Zeit erfordert wird, da ich es in den Mußestunden als Erholung treiben kann, so werde ich mir dadurch eine angenehme Zukunft bereiten, indem man auf den ärztlichen Besuchen ja Nichts leichter thun kann, als den Boden untersuchen, über den man hingeht: Es sind dies nun nicht mehr leere Phrasen, wie ich vielleicht früher damit um mich geworfen, sondern ich habe mich nun in diese Sachen hineingemacht. Ein Punkt noch, der mich abhalten würde, in den Hirzel, oder überhaupt in die Schweiz zurück zu kommen, sind die politischen Verhältnisse, indeß wird sich vielleicht mein Zorn während der Jahre, die ich noch im Ausland zuzubringen habe, etwas legen, und sollte es mir nie mehr im Vaterland gefallen, so kann ich als Arzt immer nach des Vaters Tode in der neuen Welt eine neue Heimath suchen. — Was ich nun vom Alten verlange als Bedingung meines Übertritts ist:


1) (um es mit wenigen Worten auszudrücken) ein vernünftiges ordentliches Benehmen gegen Mutter und Schwestern; daß ich aber dies Begehren mit Worten weitläufig auseinander gesetzt nicht durch Mutter oder Schwestern kann an ihn gelangen lassen, sondern daß es durch Dich geschehen muß, wirst Du begreifen. Übrigens, damit Du nicht glaubest, ich würde dem Vater nicht selbst so unter den Augen sprechen, so werde ich in dem Brief an ihn, der nächster Tage abgehen soll, noch nicht in etwas Specielles eintreten, sondern ihm den Vorschlag machen, mich heim kommen zu lassen. Du magst ihm zureden, daß er es thut, sonst kenne ich keinen andern Canal, durch den ich meine Forderungen kann an ihn gelangen lassen als Dich.

2) Zeit genug, bis ich mich fähig fühle, das Examen in Zürich sicher bestehen zu können. [S.5] Was den letzten Punkt betrifft, so weiß ich wohl, daß das Examen erschwert ist; indeß das Vorexamen, das verlangt wird, könnte ich wahrscheinlich heute schon machen, wenigstens mit Ausnahme der Botanik, da ich Mineralogie, Chemie und Physik wahrscheinlich hinreichend kenne, Botanik aber auch wenn es nicht verlangt würde, jedenfalls [noch]167Riss im Papier.schliessen treiben werde.

3) Geld genug.

4) Freie Auswahl der Universität (zunächst würde ich 1 Jahr in Berlin bleiben, um bei Joh. Müller, Anatomie und Physiologie zu hören; das weitere wird sich geben, aber jedenfalls komme ich keinen Tag mehr nach Zürich, und wenn Du glaubst, daß es ohne dies nicht wieder geht, so studire ich nie und nimmer mehr Medizin.

5) Vollkommene Unbeschränktheit in der Praxis wenn ich einmal zu Hause bin und 3 Wochen Sommerferien für Schweizerreisen. —

Von diesen Bedingungen geht kein Haar ab, geht er sie ein, so komme ich zum 3t. Mal zur Medizin und bin überzeugt, daß ich auf solche Art auch die wissenschaftliche und nicht nur die handwerksmäßige Seite der Medizin auffinden und dadurch befrie[digt sein]168Siegelausriss.schliessen werde. Geht der Vater die Bedingungen nicht ein, so bleibe ich aus den 200 Fr. in Wädenschweil und 25 Fr. von Lisebethli sel. und etwas das ich noch von Bremen übrig habe, noch 1 Semester in Berlin, und werde dann im Frühjahr mich selbst durchzubringen suchen. Wenn der Vater mich heimkommen läßt, so werdet Ihr sehen, daß ich ihm fest entgegen zu treten weiß und könnt daraus schließen, daß nicht eine augenblickliche Aufwallung mich zu dem Entschluß gebracht hat, und daß ich auch in den Zeiten unsers späteren Zusammenlebens ein selbstständiger Mann sein werde; wenn ich aber wieder vor ihm zittere, dann glaubt, meine Sache sei verloren, dann mag der Mutter Angst begründet sein. Wenn ich heimkomme, so spreche ich zwar in der Überzeugung von ihm enterbt und verjagt zu werden, aber mit dem Bewußtsein, ohne seine Hülfe mich weiter durchschlagen zu können. So viel steht unabänderlich fest bei mir!

Eure Pläne eines Geniekorps sind Nichts, weil ich bei der reinen theoretischen Wissenschaft geblieben bin und überdies nie zum preußischen Militär gehen würde; da bin ich in Gottes Namen doch zu demokratisch. —

Ich weiß nicht, was Du zu meinem Entschlusse denkst; suche damit die Mama zu be[S.6]ruhigen; zeige ihr diesen Brief selbst und theile ihr deine Ansicht darüber mit, und benachrichtige wo möglich Hr. Pfr. Wild davon; ich kann jetzt nicht mehr an Mama und Hr. Pfr, schreiben, da nächster Tage der Brief an Papa abgehen muß. — Den ferner Stehenden theile Niemandem etwas davon mit, denn auch wenn ich den Schritt thun sollte, braucht Niemand etwas davon zu wissen, bis ich einmal das Examen in Zürich machen werde.

Dein tr. Bruder: J. Chr. Heusser.
Berlin den 15t. Juli 49.


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