Brief Nr. 13 – 16.4.-4.5.1849
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13 16.4.-4.5.1849
[Berlin, 16. April - 4. Mai 1849]
Angefangen den 16. April
Meine Lieben!

Gestern kam ich von einem Reischen nach Sachsen zurück, und fand Euren Brief vom 5. April, der nun nicht gerade sehr gehaltvoll ist, und nicht mal die Fragen beantwortet, die ich in meinem vorigen Brief an Euch richtete. Indeß will ich nun Gnade für Recht ergehen lassen und etwas mehr schreiben als gewöhnlich. Zunächst muß ich übrigens noch mit Dir Hanni, auf deine angeführten Tanzgeschichten eingehen. Von den angeführten Tänzern ist mir eigentlich keiner gerade sehr angenehm, als eben der Pharao Mean.148Wohl ein Übername unter Studenten, der nicht aufzuschlüsseln ist.schliessen Hat denn der kleine Baenziger oder der lange rothhaarige Steiner149Es könnte sich um Gustav Steiner (1827-1863) aus Winterthur handeln, der im SS 1846 als Medizinstudent an der Universität Zürich immatrikuliert war. Er praktizierte später als Arzt in Winterthur. Matrikeled. der Universität Zürich 1833-1924.schliessen von Winterthur sich diesmal gar nicht gezeigt? Ferner wundert es mich doch, ob eigentlich der Antique sich vollkommen geändert hat, oder unter welchem Vorwande die Geschwister Meier150In Meta Heussers Memorabilien der Zeit ist am 19. August 1849 der Besuch von Amalie Meyer erwähnt, am 20. August notiert Meta Heusser: "Theodor zu Amalie".schliessen in unserm Hause eingeführt werden. Da Theodor nicht mehr da ist und ich mir überhaupt doch nicht recht denken kann, was sie eigentlich wollen und sollen. [S.2] Also darüber und über den Verlauf des Besuches, wenn er wirklich vor sich gegangen, wünsche ich ganz specielle und ausführliche Nachrichten. Theodor lasse ich grüßen; zu seinen Projekten Richterschweil zu verlassen, kann ich total nichts sagen, und was die Heirathsprojekte betrifft, so bin ich der Ansicht, er soll die Schwerste nehmen, die er bekommen kann, wenn sie nicht gerade dumm ist; er braucht Geld, und aus wirklicher Zuneigung nimmt er doch keine mehr, da die Sophie-Geschichte so geendet hat. —

Nun will ich zu meiner Reise übergehen. Da ich aber doch in dem andern Briefe darüber berichten muß, will ich von der Reise selbst schweigen, dagegen von einer Predigt sprechen, die ich in Dresden hörte, und die einen ganz erbärmlichen Eindruck auf mich machte, der Art, daß ich wirklich einige Worte darüber sprechen muß, wenn ich auch sonst nicht gerne über religiöse Gegenstände mich einlasse. Am Charfreitag war in einer der Hauptkirchen in Dresden ein Passionsoratorium, zu dem sich alle musikalischen Kräfte Dresdens vereinigten; Opernsänger- und Sängerinnen, die königliche Kapelle etc. Es war famos schön und riß mich hin; leider war aber die [S.3] Aufführung in zwei Theile getheilt, und zwischen hinein fiel eine Predigt, die nach jener Musik ungefähr denselben Eindruck auf mich machte, wie wenn ich weiland nach einem schönen Sonnenuntergang auf dem Zeigerrhain zur Schrund hinunter kam und dort den Antiquen über schlechte Zeiten klagen hörte, wie man viel brauche und wenig eingehe etc. Ihres poetischen Schwunges wegen muß ich doch in Kurzem den Inhalt derselben, der mir ganz genau geblieben ist, etwas mittheilen: Text die Stelle, wo der eine Mörder sagt: wenn Du Gottes Sohn bist, so hilf dir selbst, und der andere Christus um Gnade anfleht und Christus antwortet: "Heute noch sollst du mit mir im Paradiese sein." Nun soll man den Hr. Pastor nach Golgatha begleiten zu drei Sterbenden, deren Tod aber ganz verschieden ist. Der erste hat schlecht gelebt, und hat seine "bösartigen Gesinnungen" (wörtlich so) auch im Tode beibehalten; so müssen sie es natürlich nicht machen. Der zweite hat schlecht gelebt, ist aber gut gestorben; schon besser, aber doch auch so müssen wir es nicht machen, da die plötzliche Bekehrung gar schwer, Vielen unmöglich sei; der Dritte aber hat tugendhaft gelebt und ist eben so gestorben, das ist das Wahre, diesem müssen wir nachfolgen. Zuletzt [S.4] gab der Pfaff den ganzen Inhalt seiner Predigt noch einmal zum besten in dem Worte eines Liedes, dessen Ende war: "Dann finden wir vor Gottes Thron, Für gute Thaten Himmelslohn." — Gedanken waren außerdem kein einziger in der ganzen Predigt, dagegen natürlich noch einige Phrasen. Und dies war also eine Charfreitagspredigt! Ich glaube zwar an die ganze Oster- und Erlösungsgeschichte nicht, hatte aber als Lektüre den Savonarola mit auf die Reise genommen und darin viel Schönes gefunden; ich bin überzeugt, daß bei der Erbärmlichkeit der Menschheit ihr eine Erlösung Noth thut, und glaube es sogar, wenn Lenau sagt: "Es kann die Welt nur Gott erlösen", nur daß ich hinzufüge "wenn es ihn giebt." Kurz, so ganz unfruchtbares Erdreich war nicht, sondern ich hätte gern einmal an jenem Tage eine poetische Predigt angehört; überdies war ich durch die Musik in einige Träume versunken; da kam ein reformirter Pfaff und weckte mich der Art, wie mich jedenfalls zu keinen Zeiten ein Katholischer geweckt hätte!

Soweit hatte ich bereits geschrieben, als ich gestern den 27t. April von Steinfels deinen Brief bekam, liebe Netti. Die mitgetheilten [S.5] Neuigkeiten freuten mich, besonders die von Salomon Tobler, dem hoffentlich das Pfarrhaus Rümlang volles Zutrauen schenken wird. Trotz Deiner Bitten weiß ich nun aber in Gottes Namen von Berlin Nichts zu schreiben; ich bin mich des Lebens in hier so gewohnt, daß ich gar nicht mehr daran denke, daß ich in einer großen Stadt lebe wo viel Merkwürdiges zu sehen ist. Im Theater war ich dies Jahr erst zwei Mal, im Don Carlos und Götz von Berlichingen; Concerte und andere Kaibereien151Nach Idiotikon III, S. 104 ist "Cheiberei" eine "unangenehme Sache", was hier nicht viel Sinn macht.schliessen besuche ich nicht, reiten thue ich nicht, da ich das Geld nun lieber verreist habe. Was mein übriges Leben betrifft, so studire ich eben, daneben war ich diesen Winter noch einige Mal fidel mit den Schweizern auf der Kneipe; nun sind die ältern Bekannten abgegangen und den neu hergekommenen schließe ich mich nicht mehr an, bin daher wieder ganz Philister geworden. — Was bleibt nun noch zu schreiben? Von Projekten und Plänen? Ja von Luftschlössern mag ich nun einmal nicht mehr sprechen, ich bin zu alt dazu, und von sichern Aussichten, Erwartungen, Hoffnungen habe ich nun einmal rein Nichts zu schreiben. [S.6] Was bei der Empfehlung an Ritter herauskommt, weiß ich nun noch nicht; abgegeben ist sie, aber vom ersten Besuch läßt sich noch Nichts schließen. — Nach Deinem ganzen Briefe scheinst du düster zu sein, was ich begreife; da ich aber nicht lebensfroher bin, kann ich nicht trösten. Daß ich mit dem Alten abrechnen werde, ist sicher; wenn ich auch nicht viel schreibe, so habe ich die alten, und für Euch noch gegenwärtigen Geschichten noch nicht vergessen: Wenn ich durch meine Studien eine ebenso gesicherte äußere Stellung wie innere Befriedigung hätte, so würde ich heimkommen und sagen: bis dahin und nicht weiter. — So kann ich aber bei Gott Nichts machen! Es ist traurig, aber wahr; ob ich die Schuld daran trage, oder wer, das weiß ich nicht!

Liebes Hanni! nun muß ich wieder an Dich schreiben, da ich gestern den Brief von Mama mit deinem Anfang und Papas Wisch erhalten habe. Vor allem aus, ehe ich zur Beantwortung deiner Fragen komme, noch eine Bemerkung für Alle: In der geographischen Gesellschaft war ich nicht wieder, weswegen ich Nichts darüber schreiben konnte; und meine mathematischen und theilweise chemischen Studien können [S.7] Euch ja nicht interessiren, weil Ihr sie nicht versteht. In die geogr. Gesellschaft wollte ich nicht treten, weil keine jüngern Leute darin sind und daß ich nicht immer eingeladen werden kann, ist klar weil nachher ein Fraß ist für vielleicht einen Thaler. — Die Empfehlung an Ritter habe ich nun erhalten, kann aber über den Erfolg noch Nichts schreiben, wenn ich das nächste Mal an den Antiquen schreibe, was doch etwa in 8 Tagen geschehen muß, so werdet [ihr] darüber etwas hören.

Also Hanni, daß Du auf den Bällen gewesen bist, ist recht, und daß Du den Leuten Nichts über mich sagen konntest, schadet Nichts. — Was macht jetzt eigentlich die Krebsescherin? Was jenen Goll152Friedrich Goll (1829-1903), wurde ein beliebter Arzt in Zürich, a.o. Professor für Pharmakologie und Direktor der Poliklinik. Mit Friedrich Goll blieb Heusser über viele Jahre in lockerem Kontakt.schliessen betrifft, so kenne ich ihn nicht näher; sein älterer Bruder153August Goll (1827-1906), Jurist, war später Rechtsanwalt in Zürich.schliessen dagegen ist wie ich sicher weiß, ein erbärmlicher Lump und Lügner, mit dem Niemand von Euch entfernt etwas zu thun haben soll. Der jüngere Bruder, der jetzt in den Gumpi154Gumpi hiess ein Bauernhof auf dem Hirzel.schliessen kommen soll um seine Mutter zu besuchen, die man beiläufig gesagt in Zürich für verrückt hält, galt immer für einen ordentlichen Kerl; indeß kenne ich ihn nicht näher und rathe entschieden ab Euch irgend wie mit ihnen einzulassen; denn die ganze Familie155Der Vater Hans Ulrich Goll (*1798) wird in den Zürcher Bürgerbüchern als Commis angeführt, verheiratet mit Sophie Goll-Herose (*1804) aus Aarau.schliessen ist zu fürchten; der Vater ein Schuft, der nebst seinem ältesten Sohn vor den Studenten, d.h. vor dem Ehrengericht (also er als alter Mann) sich ent[S.8]setzlich blamirt hat, die Mutter also verrückt, und eine Schwester auch fehlerhaft. Der Alte schmeichelt sich zwar auch der Bekanntschaft unsrer Mama, woher weiß ich nicht; aber kurz laßt Euch da nicht ein! Also nächstens werde ich an den Antiquen schreiben, und nachholen, was ich jetzt vergessen haben sollte: Roses werden im Juni in Zürich ankommen und zwar sicher die Frau auch.

J. Chr. Heusser.
Berlin den 4t. April156Verschrieb für "Mai".schliessen 49


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