Brief Nr. 105 – 3.12.1871
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105 3.12.1871
Buenos Aires 3t. December 1871
Liebe Mama!

Auf Deinen Brief vom 7t. September ist Folgendes mitzutheilen: Meine Frau ist hier geboren am 9t. November 1831, und darum Bürgerin von Buenos Aires; die Eltern heißen Richard Smith und Emily Towsland von London; der Taufschein liegt in einer hiesigen Kirche vergraben, und wäre nach hiesiger Sitte sicher nicht ohne ein Opfer von 50 bis 100 Fr. und ein noch viel größeres Opfer an Gängen und Zeit zu erhalten; dies Opfer will ich nicht bringen, und wenn es mit dem bisherigen nicht genug ist, so will ich es darauf ankommen lassen, daß meine Ehe vom Hirzel, oder auch vom Gesammt-Vaterland nicht anerkannt werde.

Was die Rücksendung eines Theils jenes für Hochzeitsgeschenke bestimmten Geldes betrifft, so fiel es mir nicht von ferne ein, Jemanden beleidigen zu wollen. Mir war bloß der Gedanke unerträglich, in dem Überschuß über die bei ähnlichen Gelegenheiten aufgebrachten Summen eine Art Almosen zu sehen, weil ich im vorigen Jahr "abgebrannt" war,709Aus Rache für Übergriffe des militärischen Kommandanten von Bahia Blanca gegen die benachbarten Indianer ging im Oktober der Häuptling Calfucura gegen die Siedler vor. Claraz berichtet in seinen Erinnerungen an Heusser, wie der Einfall von gegen 1200 Indianern ihre Hoffnungen zerstörte: "Sie raubten uns über 500 Kühe, 100 und mehr Stuten und Pferde und unsere besten Schafherden, einige 5000 Stück, und töteten den Oberknecht." Claraz selber, der sich mit wenigen Helfern zur Wehr setzte, kam nur knapp mit dem Leben davon. Claraz und Heusser standen vor einem Schuldenberg und mussten neu anfangen. Vgl. G. Claraz, Erinnerungen an Dr. Christian Heusser, S. 382f.schliessen und überhaupt bis jetzt mit meinen Spekulationen noch wenig Glück hatte. Dies und nicht die Übersendung von baarem Geld war es, warum ich einen Theil nicht annehmen wollte. Wenn Ihr übrigens heute so gut dran seid, so schickt mir doch Bücher, bei deren Auswahl Ihr ziemlich sicher geht, wenn Ihr mir das Gegentheil von dem schickt, was früher kam. Alles Negative und Zersetzende interessirt mich mehr, als das Positive und Aufbauende. Alles Sentimentale, an Schweizer-Jodel Erinnernde in Bild und Schrift eckelt mich an. Ein weites Feld hat in dieser Beziehung Bruder Theodor: alles Naturwissenschaftliche, auch Medicinische interessirt mich; ich habe schon zweimal medicinische Gelegenheitsschriften von Zürich bestellt.

Von Ega höre ich sonderliche Dinge: daß Algier ohne die Franzosen der herrlichste Fleck Erde wäre; ich habe bisher Anderes darüber gelesen, und mir es anders vorgestellt. Fast glaube ich, daß ich mit mehr Recht Bahia Blanca und Patagones den herrlichsten Fleck Erde nennen könnte. — Auch das Oberammergauer Passions-Spiel, dessen Helden ich in der Illustrirten Leipziger Zeitung gesehen habe, will mir nicht recht zusagen. Es scheint mir der Gegenstand sei zu erhaben für Comödie; so eine Schlacht bei Sempach, Waldmann oder Tell zu Fastnacht mag noch angehen, obgleich auch dabei gewöhnlich viel Lächerliches vorkömmt. —

[S.2] Von hier ist wenig zu melden, als daß ich in der That jetzt ein ruhigeres, geregelteres und angenehmeres Leben führe, als früher. Arbeit fehlt nicht, und somit wird sich wohl in einigen Jahren der Verlust vom vorigen Jahr wieder gut machen lassen. — Der Weinberg in Bahia Blanca ist, wie mir Claraz schreibt, gut gerathen: im hiesigen Herbst 1872 hoffe ich die ersten Trauben und 1873 den ersten Wein von eigenen Reben zu genießen.

Es steht eine große Expedition gegen die Indier von Seite der hiesigen Regierung bevor, an der ich Theil zu nehmen aufgefordert bin; ich weiß aber noch nicht sicher, ob ich Theil nehmen werde: den Ausschlag wird wohl der finanzielle Punkt, d.h. die Höhe des Gehalts, den man mir bieten wird, geben. Interessant wäre die Reise wohl, doch erst recht, wenn man sie bis Chile fortsetzen könnte. Dies aber würde zu viel Zeit kosten, mich zu sehr von der ganzen hiesigen Stellung abziehen, eine Reise nach Europa wieder um viele Jahre mehr hinaus schieben oder ganz unmöglich machen. —

Zu Neujahrs-Wünschen wird es zu spät sein, da dieser Brief erst um Mitte Januar drüben ankommen wird; ich bin seit mehreren Wochen in B. As., aber im Begriff nächster Tage auf den Camp zu gehen, und werde da die Festtage von Weihnacht und Neujahr wohl, wie schon oft in Einsamkeit zubringen, und um so eher Gelegenheit haben, an Euch und vergangene Weihnachts- und Sylvester Tage zu denken. —

Herzlichen Gruß von Eurem
Chr.

Soeben erhält meine Frau die beiden Briefe von Ega und Meta; sie hatte einen Brief an Dich selbst entworfen; nun wird an die Schwestern geschrieben; ob schließlich Ein, zwei oder drei Briefe abgehen (zugleich mit der Photographie) weiß ich nicht; aber ich kann jetzt nicht länger warten, und muß diesen Brief schon wegen der anderen bereits geschriebenen abschicken.



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