Brief Nr. 103 – 1.6.1870
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103 1.6.1870
Buenos Aires 1t. Juni 1870
Liebe Schwester Netti, Schwager Ulrich und Neffe Paul!705Paul Gustav Ulrich (1856-1935), der dritte Sohn von Friedrich Salomon und Anna Ulrich wurde Architekt. Vgl. R. Schindler, Die Memorabilien, Stammbaum der Nachkommen von Pfarrer Kaspar Gessner.schliessen

Vor Kurzem von längerer Reise aus dem Camp zurückgekehrt, habe ich hier die beiden jungen, von Euch und Anderen an mich empfohlenen Aarauer Buess und Roth getroffen, und es haben mir dieselben einen solchen Brief-Segen gebracht und an alte Brief-Schulden erinnert, daß ich, wenn ich alle Briefe beantworten und alle Schulden abtragen will, es mir nothwendig wird, gruppenweise zusammenzufassen, und eine natürlichere Gruppe, als Eltern und Sohn giebt es wohl nicht.

Seit ich Eure Briefe erhalten, ist bereits ein Schiff mit Briefen von mir nach Europa abgegangen, und Ihr werdet wohl beim Empfang dieser Zeilen mit dem Inhalt jener bekannt sein: es ist natürlich, daß ich von dem wichtigsten Schritt im Leben zunächst der noch lebenden Mutter Kentniß gab und an Hanni hatte ich einige Fragen zu beantworten, die es dringend an mich stellte. Die in Zürich zu erwartende, oder bei Ankunft dieses Briefes vielleicht bereits dort befindliche Familie Malcolm empfehle ich natürlich auch Euch, und zwar in demselben Sinne, wie ich an Hanni und Mama geschrieben. Namentlich soll es mich freuen, wenn der junge Paul sich die Gunst meines Pathenkindes Elisa Malcolm zu erwerben weiß. — Als Antwort auf Eure Briefe habe ich zunächst meinen besten Dank auszusprechen für die mir zugesandten Photographien, und ich hoffe, es wird die Eltern nicht betrüben, wenn ich offen sage, daß die auf dem Brief-Papier von Paul befindliche, vom Uetliberg, dem Zweck, den Ihr Alle habt, Heimweh zu erregen, am nahesten gekommen ist: nicht nur stellt sie einen Lieblings-Punkt von mir dar, sondern ist auch eine der klarsten von Allen und sticht in dieser Beziehung namentlich von der Photographie in Hannis Brief ab: denn obgleich Hanni Eingangs seines Briefes obigen Zweck deutlich ausspricht, hatte ich seinen Rigi-Kulm ohne seine besondere Versicherung eher für die alte Zehnder-Grotte in Thalwil oder für ein abgezogenes Schaaffell in hiesigen Landen gehalten, als für den schönsten Punkt der Erde.

Ferner freut es mich aus Euren Briefen einmal genau zu vernehmen, wie Eure Familie steht; denn von dem Briefschreiber Paul abwärts [S.2] d.h. von den nach meiner Abreise aus Europa Geborenen hatte ich allerdings keine rechte Vorstellung mehr. Sehr gerne würde ich eine Reise nach Europa machen, um die Alten noch einmal zu sehen und die Jungen kennen zu lernen, und hatte mir dieselbe sicher auf das Jahr 1871 vorgenommen; aber durch den Schritt, den ich jetzt gethan, ist diese Reise auf diejenige Zeit aufgeschoben, wenn meine Ländereien Werth haben werden und die vor der Hand nicht zu bestimmen ist. Unter den Alten, von denen ich soeben gesprochen, verstehe ich Euch und alle Ferneren meiner eigenen Generation; aber da Ihr nach Eurem eigenen Ausdruck trotz der anwachsenden Kinderschaar, der vorgerückten Jahre und grau gewordenen Haare noch rüstig und gesund seid, wie ich selbst glücklicher Weise auch, so habe ich gute Hoffnung, daß wir einmal noch uns wieder sehen. Mit den ganz Alten ist freilich die Frage in mehr Zweifel gezogen. —

Geschäftlich scheint es uns in den 60ger Jahren ganz ähnlich ergangen zu sein, nur daß Schwager Ulrich, als Geschäfts-Mann von Haus aus, wahrscheinlich doch dabei etwas besser gefahren ist, als ich, der ich auf Deutschen Universitäten eine sehr schlechte Vorbildung für Südamerikanisches Leben erhalten. Auch hier folgten auf fünf fette Kühe fünf magere; da aber alle Actionen und Reaktionen in diesen Ländern stärker sind, als in Europa, so war ohne Zweifel auch der Übergang und Gegensatz der guten und schlechten Jahre hier größer, als in Europa. — Kurz gesagt ist meine finanzielle Lage heute die, daß ich ein sicheres, aber in unbestimmte Ferne gerücktes und namentlich von der politischen Entwicklung des Landes abhängiges Vermögen, aber heut zu Tage noch keine Rente habe, sondern einstweilen noch darauf angewiesen bin, im Schweiße meines Angesichts mein Brod zu verdienen. Das Land geht entschieden vorwärts; somit hoffe ich, daß auch mein Stündlein in nicht allzu großer Ferne schlagen werde. — Das Fleisch-Extrakt oder Fleisch-Conservierungs-Projekt, dessen Ulrich mit einigen Worten in seinem Briefe erwähnt, ist wohl für den Augenblick, vielleicht für immer gescheitert; aber wahr bleibt, was Ulrich bei dieser Gelegenheit sagt, daß meine Ländereien nicht bloß durch eine derartige Unternehmung mit großem Capital, sondern auch durch Nachwuchs von jungen Kräften Werth erhalten werden; wenn er ferner sagt, daß er wünschte im Interesse Beider an letzteren etwas beizutragen, so freut das mich von Herzen. Nur ist es gut, wie ich schon in meinem Brief an Hanni schrieb, daß wenn einer der verschiedenen Neffen im Ernst dran denkt herüber zu kommen, er seine Studien in Europa schon jetzt darauf [S.3] berechne, und um das zwanzigste Altersjahr herum, eher vorher, als nachher, den Schritt thue. Für meine speciellen Zwecke sind junge Kräfte wünschenswerth mit Kenntnissen von Landwirtschaft und Agricultur-Chemie, oder angewandter Chemie (namentlich mit Beziehung auf Conservierung von Fleisch und Verwerthung thierischer Überreste). Aber auch ohne diese speciellen Kenntnisse ist jede junge Kraft mit gesundem Körper und Entsagung (— Entsagung im allerweitesten Sinne des Wortes; es ließe sich darüber allein ein ganzer Brief schreiben und ich werde ihn schreiben, wenn es sich einmal ernstlich darum handelt, einen Jungen herkommen zu lassen —) erwünscht, und umso mehr, wenn er irgend eine praktische Seite hat, irgend etwas vom praktischen Leben, von irgend einer Berufs-Art oder technisch-mechanischen Operationen versteht. Der angehende Baumeister Paul hätte, wenn er seinen Entschluß mit Erfolg durchführt, als solcher sowohl in Buenos Aires selbst, als auch in Verbindung mit meinen Plänen eine sichere Zuklunft; auch scheint er sonst, sowohl nach dem, was man so aus einem Briefe schließen kann (— feste Handschrift, Entschiedenheit und Unternehmungslust —), als nachdem, was Ihr mir schreibt, derjenige der vier Brüder zu sein, der am besten für Süd-America passt. — Aber als (— muthmaßlich —) einziger Nachfolger im väterlichen Beruf wird er ohne Zweifel auch Nachfolger des väterlichen Geschäfts werden und somit in Europa bleiben. Und da die beiden ältesten laut der gegebenen Beschreibung nicht für hier passen, und der jüngste eben noch sehr jung und seine Carrière sehr zweifelhaft, so will ich auch heute nicht weiter über die für Südamerikanisches Leben nothwendige Vorbildung in Europa sprechen, stets bereit, auf Euren Wunsch hin, darauf zurückzukommen. —

Was die von Paul gewünschten Briefmarken betrifft, so kann ich dieselben nicht sicher versprechen; vielleicht, daß sich auf einer meiner nächsten Reisen etwas Anderes findet, das ihm Freude machen wird.

Da Schwager Ulrich mit Goll, Bosshardt und G. Keller verkehrt, so bitte ich, mir dieselben einmal speciell zu grüßen; ebenso den Mayor Stadler,706Julius Stadler (1828-1904), Architekt und Lehrer für architektonisches Zeichnen am Polytechnicum, sowie Offizier der Zürcher Artillerietruppen. HBLS VI, S. 488, und Bürgeretat 1868.schliessen der Ulrich gewiß auch bekannt sein muß und bei Erwähnung von Goll und Bosshardt nicht unerwähnt bleiben darf; und da man oft aus negativen Bemerkungen bessere Schlüsse ziehen kann, als aus positiven Darstellungen, so will ich doch noch bemerken, daß von den vieren jedenfalls kei[S.4]ner für Südamerica gepaßt hätte. Ich könnte wirklich nicht sagen, welcher von allen vieren am wenigsten, hoffe aber nichts desto weniger, daß sie, wenn ihnen dies mein Urtheil über sie zu Ohren kommen sollte, sie mir dasselbe nicht übelnehmend und meinen Gruß als von Herzen gehend annehmen werden.

Mit ebenso herzlichem Gruß an Euch Alle Euer:
Chr.

NB. Noch einen Auftrag an den jungen Paul, der, wenn ordentlich ausgeführt, nicht unbelohnt bleiben soll:

Er soll mir mit dem nächsten Englischen Postschiff, (dessen Abgangstag von Southampton er von irgend einem Kaufmann z.B. Brennwald in Erfahrung bringen und danach die Abgabe auf der Post in Zürich einrichten soll) sämmtliche Bürkli-Zeitungen dieses Jahres unter folgender klar geschriebener Adresse schicken:

Messieurs Claraz y Tam pour le Dr. Heusser Hotel de Europa Buenos Aires.

Nachher soll er mir an demselben Tage jedes Monats die vier Nummern des verflossenen Monats unter derselben Adresse zusenden. Das Geld dafür ist bei Hanni oder Brennwald zu beziehen mit Vorweisung dieses Briefes.



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