Brief Nr. 101 – 28.12.1869
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101 28.12.1869
Im Süden der Provinz Buenos Aires 28t. December 1869
Liebe Mama!

Vor etwa 10 Tagen bin ich von B. A. verreist wenige Tage, nachdem ich die Briefe von dir, Ega, Meta und Spyri erhalten hatte. Den Brief von Spyri beantwortete ich gleich noch vor der Abreise; den Deinigen nicht, weil ich den wichtigsten Punkt desselben, betreffend eine allfällige Stellung an der Gotthard-Eisenbahn700Im Herbst 1869 hatte die Internationale Gotthardkonferenz in Bern mit Beteiligung Italiens, des Norddt. Bundes, Badens, Württembergs und der Eidgenossenschaft den Bau der Gotthardbahn beschlossen. Damit kam das schon seit mehreren Jahren in erster Linie von Alfred Escher vorangetriebene Projekt in seine konkrete Planungsphase. Vgl. J. Jung, Alfred Escher 1819-1882, Zürich 2006, Bd. 2, S. 577.schliessen erst ruhig überlegen wollte. Das ist geschehen, und ich will nun einen Regentag dazu benutzen auf jenen Punkt zu antworten.

Es kommen zwei wesentlich verschiedene Momente in Frage, nämlich erstens "Lust und Neigung haben, Wollen" und zweitens, wenn diese Frage bejahend beantwortet wird, "Aussicht auf Erfolg haben, Können".

Was Lust und Neigung betrifft, so wäre eine derartige Stellung vor Jahren die Erfüllung aller meiner Wünsche gewesen, viel mehr als [eine] Professur am Polytechnicum; die Naturwissenschaften an sich haben mich angezogen, nie aber die Schulmeisterei. Auch heute noch wäre die Thätigkeit an sich in der fraglichen Stellung für mich eine sehr interessante und anziehende; nur müßte ich mich selbst erst fragen und könnte wahrhaftig im Augenblick die Frage nicht beantworten, ob ich überhaupt heute noch den Anforderungen in solcher Stellung völlig Genüge leisten könnte; denn zehnjährige vollständige Trennung von der Specialität einer Wissenschaft (— seit mehr als 10 Jahren habe ich kein krystallinisches Gestein mehr gesehen —) lassen Einen dieselbe doch ziemlich vergessen. Immerhin glaube ich, daß ich mich bald wieder hineinarbeiten könnte. Aber wichtiger als diese Zweifel ist, daß ich nahe daran bin, hier in diesem Lande eine Stellung einzunehmen, die nicht nur sehr Gewinn bringend, sondern außerdem vollständig meiner Neigung entsprechend wäre: Anlegung und Leitung eines saladero (große Schlacht-Anstalt) vielleicht verbunden mit Darstellung von Fleisch-Extrakt. An der Schlachterei selbst habe ich natürlich kein Wohlgefallen; dagegen ist die Darstellung701"Darstellung" hier im Sinn von "Herstellung" gebraucht.schliessen des Fleisch-Extrakts großer Verbesserungen fähig, und es liegt die Aufgabe hiesiges Fleisch in genießbarem Zustande auf den Europäischen Markt zu bringen (— eine Aufgabe, die beiläufig gesagt für das hiesige Land eben so wichtig ist, wie die Alpenbahn für die Schweiz —) zur Lösung vor; beides sind Fragen chemischer Natur, die mich sehr interessiren. Endlich fragt es sich beim "Wollen" sehr, ob das gebundene Leben in Europa oder speciell in der Schweiz mir mehr zusagen würde, als das freie Leben in Südamerica. Auch darüber bin ich im Augenblick noch nicht mit mir einig; als vor zwei Jahren die Bewegung in Zürich begann,702Anspielung auf die 1867 einsetzende demokratische Oppositionsbewegung auf der Zürcher Landschaft gegen das liberale Regiment in Zürich: vgl. B. Fritzsche und M. Lemmenmeier, Die demokratische Bewegung (1860-1869) in: Geschichte des Kantons Zürich III, S. 145-152.schliessen wäre ich wirklich ger[S.2]ne dabei gewesen. Heute sehe ich, daß die damals bewegende, und heute herrschende Parthei auch viele unreine Elemente zur Herrschaft gebracht hat; aber jedenfalls würde ich mich heute, wo doch alle Welt wieder das Maul aufthun darf, wohler fühlen als unter der Cäsaren-Wirthschaft von A. Escher.

Ist schon das Wollen nicht sehr entschieden, jedenfalls lange nicht in dem Maaße, wie Du wahrscheinlich glaubst, so sieht es mit dem "Können" noch viel zweifelhafter aus. Für unmöglich halte ich es zwar nicht, die fragliche Stellung zu bekommen, aber viel "Arbeit" würde es jedenfalls kosten, sehr viel und zudem eine Art "Arbeit", die mir durchaus nicht zusagt. — Ich benütze hier das Wort "Arbeit" als Übersetzung des Spanischen trabajo in dem Sinne, wie es hier so häufig gebraucht wird; trabajo (subst.) und trabajar (verb.) bedeuten ursprünglich jede ehrliche Arbeit, werden aber in hiesigem Land in weiterem Sinne für jede beliebige Anstrengung oder schlichte Handlung gebraucht. So sagt der Indier in seinem gebrochenen Spanisch, er wolle einige Tage trabajar, wenn er auf Raub ausgeht, und die hiesigen politischen Partheien gebrauchen in nicht viel edlerem Sinne das Wort trabajar, wenn sie durch Geld, moralischen Druck, überhaupt jedwedes Mittel, sich die Mehrheit streitig machen; im ersten Fall hätte man also trabajar im Deutschen zu übersetzen mit "stehlen", im zweiten etwa mit "wühlen". — Ganz speciell wird ferner das Wort trabajar gebraucht, wenn ein Candidat alle Minen springen läßt, um zu einem Amt zu kommen, wenn er dasselbe entweder direkt erkauft, oder aber sich mit Leib und Seel denjenigen verpflichtet, die das Amt zu vergeben haben; die richtige Übersetzung wäre also wohl in diesem Falle: "um ein Amt buhlen", oder auch "bestechen". Damit wäre ich wieder beim Gegenstand angelangt. Ich gebe zwar zu, daß es in der Schweiz noch nicht ganz so schlecht aussieht wie hier, daß hie und da das reine Verdienst ohne alle andern Rücksichten zu Ehren kommt, wie dies ganz gewiß mit Wetli der Fall sein wird, wenn er die Oberleitung wirklich bekommt; auch gebe ich zu, daß wo Bestechung und Nepotismus in der Schweiz vorkommen, sie nicht so nackt und schamlos zu Tage treten wie hier; ich gebe sogar zu, daß der Eine Buhlerei und Bestechung (moralischer Art, z.B. durch Übertritt zu einer anderen politischen Parthei) da sieht, wo der Andere in der That nur seinem Naturell folgt. Die Naturen sind eben verschieden biegsam. Ich habe in diesem Lande so viel gesehen von dem unschuldigen Begriff an "sich durch einnehmendes Wesen angenehm machen" über den weitern "durch Geschenke sich einschmeicheln" bis zu dem Extrem der Bestechung durch Geld, daß ich fast glaube, ich wüßte, wie ich es im vorliegenden Fall anzufangen hätte. — Meiner Natur nach würde ich mich aber unter keinen Umständen weder dem Erbfeind A. Escher noch dem Schein-Freund Dubs um einen Schritt nähern. An Wetli selbst würde ich mich schon [S.3] eher wenden: nicht nur bin ich selbst mit ihm befreundet, sondern Brennwald ist dessen Vetter und bester Freund. Aber da im vorliegenden Fall nicht einmal die Neigung ganz entschieden ist, so will ich auch ganz darauf verzichten, mich an Wetli zu wenden, von mir aus auch nicht den mindesten Schritt in der Sache thun, und die Entscheidung einem Gottes-Gericht überlassen: Wenn Du durch den Missionär Goba703Samuel Gobat (1799-1879) war als protestantischer Missionar viele Jahre im Vorderen Orient tätig und vertrat dort auch im Auftrag des preussischen Königs Friedrich Wilhelms IV. die Interessen der Protestanten. HLS 5, S. 506. Der Vorschlag, die Missionare Gobat und Schaff könnten sich an hoher Stelle für Christian Heusser einsetzen, kann nur zynisch gemeint sein, hat offenbar auch die Mutter verletzt: vgl. dazu den nächsten Brief vom 29. Mai 1870.schliessen oder den Professor Schaff oder irgendeinen anderen Frommen den Leitern des Eisenbahn-Unternehmens beizukommen weißt, so magst Du durch einen solchen Canal zu meinen Gunsten "arbeiten", sonst bleibt die Sache auf sich ruhen. Du darfst diesen meinen Entschluß nicht als Spott nehmen: Da mir an der fraglichen Stellung unter allen Umständen nicht viel gelegen ist, so will ich rein Nichts dafür thun, sondern höchstens Dich gewähren lassen. Daß Du auf irgendeinem Wege den Bundesräthen oder dem A. Escher beizukommen wissest, ist allerdings nicht wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich: hat Hr. A. Escher sich neuerdings wegen Eisenbahn-Interessen mit der Jesuiten-Parthei von Freiburg verbunden, die er zuerst vor allen unter der Sonderbunds-Parthei verfolgt hatte, so ist es am Ende auch nicht unmöglich, daß Gotthardt-Bestrebungen ihn mit protestantischen Frommen von Zürich, Basel oder Ostindien zusammengebracht haben. — Bei der Gelegenheit will ich noch den Gruß an Schaff erwidern.

Da ich jenen Euern Brief hier im Camp nicht bei mir habe, so will ich die Beantwortung der übrigen Punkte auf ein andermal verschieben und schließe mit Gruß und Neujahrs-Wunsch

Euer
Chr.


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