Brief Nr. 100 – 25.5.1869
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100 25.5.1869
Buenos Aires 25t. Mai 1869
Liebe Mama, Tante Regeli und Schwestern!

Eure Briefe vom 6t. Januar habe ich rechtzeitig erhalten, und habe dieselben nicht früher beantwortet, weil ein Punkt derselben mir Verdauungsbeschwerden verursachte, von welcher Krankheit ich erst ganz genesen wollte, ehe ich zur Antwort schritt. Ich werde nach dem Missionar Hunziker685Frédéric Hunziker war 1863 im Auftrag der South American Missionary Society in Patagones tätig. Heusser berichtet, dass Hunziker "einen Indianer-Stamm fast ein Jahr lang auf seinen Wanderungen in diesen Gegenden begleitet" habe: vgl. S. 332 des nachstehend zit. Aufsatzes, und Ch. Papp, Die Tehuelche. Ein ethnohistorischer Beitrag zu einer jahrhundertelangen Nicht-Begegnung. Diss., Wien 2002, SS. 151-153; 405.schliessen und nach jener in der Zeitschrift der Geographischen Gesellschaft zu Berlin erschienenen Arbeit686J. Ch. Heusser und G. Claraz, Ueber den patagonischen Küstenstrich zwischen dem Rio Colorado und Rio Chubut, mit Beziehung auf die Aussichten, die derselbe einer Europäischen Einwanderung bietet, SA aus: Zs. für Erdkunde II, Berlin 1867, S. 324-341.schliessen befragt. Die Antwort auf beide Fragen kann ich zusammenfassen. Hunziker habe ich allerdings persönlich gekannt; und zwar als einen der nettesten Schweizer, die ich während 13 Jahren im Ausland getroffen; ich glaubte wirklich und glaube noch, ihn früher in einem Briefe erwähnt zu haben. Als er sich von der Mission zurückzog, wollte ich ihn für unsere estancia in Patagones gewinnen; er zog es aber vor mit seiner Frau in die Heimath seiner Frau, die Falklands-Inseln, zu ziehen, wo er bei seinen Schwieger-Eltern an dessen [sic!] Geschäft betheiligt sein soll. — Sei dem übrigens wie ihm wolle, d.h. habe ich ihn erwähnt oder nicht, so steht wenigstens so viel fest, daß er in der erwähnten Arbeit erwähnt ist, nur mit einem Druckfehler Humziker statt Hunziker. — Es ist ganz klar, daß Spyri die Schuld trägt, daß Ihr kein Exemplar erhalten, denn das ist ganz gewiß, daß ich ihn gebeten, in erster Linie zwei Exemplare je nach dem Hirzel und nach Freiburg zu schicken. Dagegen verstehe ich Euren unpraktischen Sinn nicht, mit dem Ihr hier über den Ocean herüber reclamirt, während Ihr doch wißt, daß Spyri mir immer die Angelegenheiten meiner schriftlichen Arbeiten besorgt hat, während dagegen Brennwald alles übrige Merkantile. Allerdings werde ich auf solche Weise wohl noch dazu kommen müssen, Brennwald mit gar Allem zu belasten. Dergleichen macht mich so meineidig wild, daß ich fast ein halbes Jahr nothwendig hatte, mich davon zu erholen.x687Anmerkung am Ende des Briefes.schliessen

Vor Kurzem habe ich von einem Deutschen Musiker in hier um drei Flaschen Veltliner eine Geschichte der hervorragendsten Deutschen Dichter und Prosaiker688Wahrscheinlich F. von Orelli, Übersicht der Geschichte der dt. Literatur. Mit Biographieen der hervorragendsten Prosaiker und Dichter, ca. 1865.schliessen erstanden, und daraus ersehen, daß die meisten dieser Herren auch ihre großen menschlichen Schwachheiten hatten; am widerlichsten erscheint mir der Schmetterling Klopstock, und ich hoffe da nicht etwa den Vorwurf zu hören, daß ich ihn wegen der Messiade nicht leiden möge, da ich gerade heute durch obiges Urtheil über Hunziker gezeigt habe, daß mir bei Beurtheilung eines Menschen dessen religiöse Anschauung und Überzeugung ganz gleichgültig ist. — Eine der edelsten Per[S.2]sönlichkeiten unter diesen hevorragenden Deutschen, scheint mir Herder, wenn auch etwas mürrisch und cholderig.689"cholderig" bedeutet "brummig", zum Poltern neigend.schliessen Auch die ganze Richtung seiner Thätigkeit sagt mir sehr zu und ich machte mir ein Verzeichniß mehrerer seiner Schriften, die ich lesen möchte. Leid that mir, daß mir aus diesem allerdings sehr mangelhaften Buche, auch nicht von ferne klar wurde, wie Herder, entschieden ein Verstandes-Mensch und Schüler Cants sich so vollständig von seinem Lehrer, dem Könige der Denker, lossagen konnte. Das und andere Räthsel zu lösen bleibt der Zeit vorbehalten, wenn ich einmal als Rentner von Universität zu Universität reisen werde, wo mich gerade irgend ein Magnet anzieht. Unterdeß interessirt mich aber sehr jene Geschichte des Paraguayischen Jesuiten-Missionärs aus Herders zerstreuten Blättern, und ich würde für dieselbe nicht bloß drei Flaschen Wein, sondern drei ganze Ochsen hergeben. — Der Grund aber des Paraguay-Kriegs ist folgender: Während seit Lostrennung der hiesigen Spanischen Länder vom Europäischen Mutterlande Paraguay dem Namen nach zwar als Republik, in der That eben allerdings von einem absoluten Autokraten beherrscht, sich von allen umliegenden Ländern hermetisch abschloß, so hatte dagegen Brasilien bei dem fünfzigjährigen Bürgerkriege, der auf die Lostrennung von Spanien in der Argentinischen Republik und in der Republik Uruguay folgte, fortwährend die Hand im Spiele, indem es jedesmal den schwächeren unterstützte, damit sich beide bis auf die Schwänze auffressen möchten. Im Jahr 1861 siegte in der Argentinischen Republik die eine, die Unitarier-Parthei ganz entschieden, und in Uruguay blieb die entgegengesetzte oder federale Parthei zwar am Ruder, aber so schwach, daß ihr Fall vorauszusehen war. In der That brach im Jahr 63 in Uruguay eine Revolution aus, unterstützt von den hiesigen Unitariern. Brasilien sah anfangs ruhig zu, nahm dann aber im Jahr 64 Parthei, und zwar gegen alles Erwarten die Parthei des Stärkern gegen den Schwächeren, der Revolutions-Parthei gegen die schwache, aber legale Regierung. Im Januar oder Februar 65 fiel die Regierung und nun war in beiden Republiken die federale Parthei auf's Haupt geschlagen. Da brach auf einmal Lopez, der gegenwärtige Diktator oder Tyrann, oder wie man ihn nennen mag, von Paraguay mit seinen Paraguayern hervor und besetzte im Nu die Brasilianische Provinz Rio Grande und die Argentinische Corrientes, obgleich große Brasilianische Heere ganz in der Nähe an der Grenze von Uruguay waren. Darauf von Seite Brasiliens und Argentiniens großes Geschrei über Völkerrechts-Bruch von Lopez, und augen[S.3]blickliche Tripel-Allianz zwischen dem Kaiserthum und den beiden Republiken. Diese letzteren hatten natürlich den Schein des Rechts für sich; aber Lopez bewies ihnen nachher, daß die Tripel-Allianz gegen Paraguay im Geheimen schon lange vor seinem Einfall in Brasilianische und Argentinische Lande geschlossen worden war, sogar schon vor dem Fall der federalen Regierung in Uruguay, und zwar eine Tripel-Allianz mit der gegenseitigen Verpflichtung nicht zu ruhen, bis Lopez vertrieben und in Paraguay eine "freisinnige" Regierung nach dem Geschmack der Tripel-Allirten eingesetzt sei. Was die Brasilianer dabei wollten, war von Anfang an klar: ein Stück des Ländchens Paraguay wegnehmen und außerdem den bisher starken Staat in eine dieser schwachen Republiken verwandeln. Was die Argentiner eigentlich wollten ist unklar: nach meiner Überzeugung war die Tripel-Allianz nichts Anderes als Folge der grenzenlosen Eitelkeit des hiesigen Präsidenten Mitre,690Bartolomé Mitre, Gouverneur von Buenos Aires, war seit 1862 Präsident der Argentinischen Republik.schliessen der generalisimo des gesammten allirten Heeres werden wollte; vielleicht war er auch von den Brasilianern direkt gekauft. Jedenfalls spielte nachher, wie in allen Kriegen Brasiliens das Geld die größte Rolle. Während Mitre hier auf öffentlichem Platze ausgerufen hatte, er wolle in drei Monaten in Anuncion (Hauptstadt von Paraguay) sein, so hatte er etwa ein Jahr zu thun, bloß um die Paraguayer aus Brasilianischem und Argentinischem Gebiet zu vertreiben, und hätte dies Ziel wahrscheinlich gar nie erreicht, wenn nicht die stärkste Truppen-Abtheilung der Paraguayer in Uruguayana, etwa 8000 bis 10'000 Mann, durch Verrath ihres Führers, der sich an die Brasilianer verkaufte, und gegenwärtig in Rio de Janeiro spazirt, gefallen wäre. — Über den weiteren Verlauf des Krieges habe ich im letzten Brief geschrieben. Gegenwärtig führt Lopez immer noch montonera-Krieg, d.h. er läßt sich auf keine offene Schlacht ein, sondern sucht sich so viel als möglich durch die Natur des Landes zu decken und zu retten, ungefähr so, wie Juarez691Benito Juarez kämpfte erfolgreich gegen die französischen Ansprüche in Mexiko.schliessen in Mexico sich Jahre lang gegen die Franzosen und Maximilian692Der durch Napoleon III. protegierte österreichische Erzherzog Maximilian wurde 1863 als Kaiser von Mexiko eingesetzt, aber schon 1867 auf Betreiben von Juarez erschossen.schliessen gehalten hat. — Ebenso mag Lopez gerade wie damals Juarez seine einzige und letzte Hoffnung noch auf Nord-America gesetzt haben; mit wieviel Grund, weiß hier Niemand. Erst gestern kam die sichere Nachricht, daß der Nordamericanische Gesandte sich aus Rio de Janeiro zurückgezogen und die diplomatischen Verbindungen abgebrochen hat; ob dies mit den Ereignissen in Paraguay in Verbindung steht, darüber ist man noch im Dunkeln. Der gegenwärtige Argentinische Präsident Sarmiento,693Als Präsident Argentiniens von 1868-1874 förderte Domingo F. Sarmiento das Bildungswesen und die Modernisierung des Landes.schliessen der vor 6 Monaten seine Präsidentschaft angetreten hat, war früher Argentinischer Minister in Nord-America. Von ihm hatte man gehofft, daß er sich von der Allianz mit Brasilien losmachen würde; das that er zwar nicht bei seinem Regierungs-Antritt, aber es wäre trotzdem nicht unmöglich, daß er [S.4] in Nordamerica für die Zukunft Südamericas andere Ideen erfaßt hätte, als für immer in den Fußstapfen Mitres und im Schlepptau Brasiliens fortzuwandeln. Mich würde es unendlich freuen. — Zum Schluß über dieses Capitel nur noch Folgendes: So wie das Feldgeschrei der Hiesigen und Brasilianer im Anfang gegen den Völkerrechts-Bruch gerichtet war, so ist es heute gegen die beispiellosen Grausamkeiten von Lopez, mit denen verglichen selbst die von Nero, Caligula und Rosas in rosigem Licht erscheinen würden, und dergleichen Nachrichten scheinen allmälig auch in Europäischen Zeitungen Eingang zu finden. Dagegen ist einzuwenden: Erstens: wie viel an diesen Nachrichten übertrieben oder rein erlogen, wie viel dagegen wahr ist, kann Niemand wissen.

Zweitens: Es liegt einmal ein blutdürstiger Zug in der ganzen Nachkommenschaft der hiesigen Spanischen und Portugiesischen Raçe, die Argentiner erzählen es natürlich nicht, wenn sie Weiber und Kinder morden, und die Brasilianer sind noch viel schlimmer als die Argentiner.

Drittens: Dürfte man sich nicht einmal groß wundern, wenn Lopez wirklich halb verrückt geworden wäre, und sich Schandtaten à la Caligula hätte zu Schulden kommen lassen. Er war von Anfang an von Verrath umgeben, namentlich von Seite der Fremden, die unter seiner Fahne dienten; was Wunder also, wenn er sich zum Schlusse aller Fremden entledigen wollte?

Nun zu den weiteren Punkten jener Briefe: den Gruß an Oberst Pfau694Matthäus Pfau (1820-1877) von Winterthur war Politiker, seit 1861 Oberstleutnant und seit 1865 Besitzer der Kyburg.schliessen in Winterthur mögt Ihr aus allgemeiner Höflichkeit erwiedern; aber entweder ist mein Gedächtniß altersschwach geworden, oder ich bin in meinem ganzen Leben niemals mit einem Pfau von Winterthur in Berührung gekommen, außer vielleicht als eine Knospe von 4 bis 5 Jahren, als unser sel. verstorbener Vater vor bald 40 Jahren durch Vermittlung des Freundes Landschreiber Fries einem gewissen Pfau in Winterthur ein schwarzes Pferd verkaufte.

Die Geschichte von Doedeli695Um wen es sich hier handelt, ist noch ungeklärt.schliessen [ist] traurig; aber Hülfe unmöglich, außer wenn etwa einer dieser hoffnungsvollen Sprößlinge von Fritz gesund und stark von Körper wäre und nach America kommen wollte; hier würde es aber heißen: "arbeiten oder zu Grunde gehen"; auf sentimentale Jugend-Erinnerungen meiner Seite soll er da nicht zählen.

Das Geld von Grob im Dürrenmoos mag denn dort liegen bleiben, wo es ist, damit ich einmal ein Andenken daraus kaufe. Mit der Uhr von Onkel Wichelhausen weiß ich wahrhaftig Nichts anzufangen, da gerade die Uhr bei mir durchaus kein Luxus-Artikel, sondern ein nothwendiges Instrument ist: daher ich mehr auf Genauigkeit, als auf äußeren Schein sehen muß. Es [S.5] bleibt also Nichts übrig, als "verkeilen";696Studentensprachlich: "verkaufen". Dt. Wörterbuch von J. und W. Grimm, Bd. 23, Sp. 638.schliessen dies könnt Ihr freilich nicht selbst, sondern übergebt die Uhr dem Brennwald; und damit Ihr nicht etwa umgehend fraget, wie Ihr das anstellen sollt, um die Uhr dem Brennwald einzuhändigen, will ich Euch meine kluge Idee lieber gleich mittheilen: Der Spyri wird wohl hie und da einmal nach dem Hirzel kommen, und kann dann die Uhr nach Zürich mitnehmen. Nach Zürich aber geht bisweilen Brennwald, und wenn man den Brennwald vermittelst der allerneusten Erfindung, des Briefeschreibens, in Kenntniß setzen würde, daß Spyri ihn zu sprechen wünsche, so würde Brennwald aus Freundschaft für mich ganz gewiß bei Spyri vorgehen, und die Aufgabe wäre gelöst. — Was die goldene Kette der Uhr betrifft, so würde ich dieselbe gerne tragen, wenn sie nicht allzu antidiluvianisch aussieht; ich will dies dem Urtheil des Bruders Theodor überlassen, und je nachdem dasselbe ausfällt, mögt Ihr die Kette sammt der Uhr durch Brennwald zum Trödler schicken, oder aber dieselbe aufbehalten, und mir sie durch die erste Gelegenheit schicken.

Aus den Reise-Beschreibungen sehe ich, daß Ihr im Ganzen das Leben ziemlich genießt, was auch das allergescheidteste ist, und wie ich glaube, auch das gesündeste; dergleichen Nachrichten sind mir immer angenehm; aber antworten darauf läßt sich eben nicht viel; ich meinerseits bin immer noch der Meinung, daß Zermatt, der Monterosa und Matterhorn das Schönste ist in der Alpenwelt, oder wenigstens in dem Theil, den ich gesehen habe, und daß wir noch einmal zusammen dahin gehen müssen. Wahrscheinlich seid Ihr bei Empfang dieses Briefes wieder mit Reiseplänen beschäftigt, oder vielleicht gar schon wieder auf Reisen, was sehr freuen sollte

Euern:
Chr.

x) Sollte Spyri beim Empfang der Separat-Abdrucke jener Arbeit von Berlin697J. Ch. Heusser und G. Claraz, Ueber den patagonischen Küstenstrich zwischen dem Rio Colorado und Rio Chubut, mit Beziehung auf die Aussichten, die derselbe einer Europäischen Einwanderung bietet, SA aus: Zs. für Erdkunde II, Berlin 1867, S. 324-341.schliessen wirklich keines in Zürich behalten, sondern mir alle zugesendet haben, so soll er einmal vom Museum698Die Bibliothek der Museums-Gesellschaft in Zürich.schliessen in Zürich, wo wahrscheinlich die Zeitschrift699Die Zs. für Erdkunde II, Berlin 1867.schliessen ist (— wenigstens war sie zu meiner Zeit —) [um] Erlaubniß nachsuchen, jenen Band für eine Woche auszuleihen und soll ihn Euch schicken.



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