Brief Nr. 85 – Anf. November 1861
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85 Anf. November 1861
Buenos Aires, Anfang November 1861
Liebe Mama und Geschwister!

Vor Kurzem bin ich weit vom Süden zurückgekehrt, von da, wo ich schon zu Anfang des Jahres einmal war, und habe einmal wieder etwas Neues gesehen und erlebt, das ich Euch nun erzählen will. Ich verreiste unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges. Im Monat August hatten lange Friedens-Unterhandlungen stattgefunden; am 23t. dieses Monats kam die Nachricht nach Buenos Aires, daß dieselben ganz abgebrochen seien, und am 24t. sollte ich verreisen. Der Kriegsschauplatz war zwar im Norden, gegen 200 Stunden entfernt von der Gegend, wo ich messen sollte; aber für den Fall einer Niederlage der Hiesigen war ein Einfall der Indianer vom Süden her ziemlich sicher. Ich verreiste wirklich an demselben 24t. in der Voraussetzung, daß die beiden Partheien sich wohl noch einige Zeit ruhig gegenüberstehen werden ohne sich zu schlagen, während welcher ich meine Messung vollenden könnte, um dieselbe dann nachher in Buenos Aires ausarbeiten zu können, wenn etwa Urquiza nach einem vorangegangenen Sieg kommen sollte, um die Stadt zu belagern, wie dies schon zwei- oder dreimal der Fall gewesen ist. — In Dolores, der letzten bedeutenden Ortschaft im Süden etwa 50 Stunden von Buenos Aires, angekommen hieß es, die Indianer seien wirklich im Süden am Quequen, wo ich hingehen mußte eingefallen. Da aber die Diligencia doch weiter gieng, wollte ich auch nicht unverrichteter Dinge zurückkehren, sondern gieng mit. So passirte ich zum zweiten Mal den schönen, fast ganz unbekannten (in Europa) Gebirgszug, der sich etwa 80 Stunden südlich von B. A. von der Küste aus durch den ganzen Continent bis an die Anden hin erstrecken soll. Von Naturgeschichtlichem schreibe ich aber hier nicht, da ich [S.2] hoffentlich nächstens einmal zur Veröffentlichung meiner schon zahlreichen Notizzen kommen werde. Wir langten auch glücklich am Quequen an, trafen auch Alles ruhig, doch war aus vielen Stunden im Umkreise, wer nur Beine hatte, an diesem Flusse versammelt, mit irgend welchen Mordwaffen versehen, um einem allfälligen Einfall der Indianer gemeinsam Widerstand zu leisten. Glücklicherweise war aber an demselben Tage mit mir ein Gaucho vom Süden her nach Patagones am Quequen angekommen. Patagones ist ein Hafen nebst einer kleinen halb von Indianern, halb von Gauchos bewohnten Ortschaft, etwa 250 Stunden südlich von B. A.; hier sind im ganzen Continent die letzten Ansiedlungen christlicher Bevölkerung, und Buenos Aires steht mit Patagones eigentlich nur durch Schiffahrt in Verbindung; der Landweg wird nur in Zeiten langen Friedens und auch dann nur von solchen Gauchos gemacht, die mit den Indianern vertraut, halb ihresgleichen geworden sind. Jener Gaucho war also jetzt eben am Quequen angekommen mit der Nachricht, daß die Indianer im Süden ganz ruhig seien. Dieser Gaucho hatte von Patagones Indianer-Gewebe zum Verkauf mitgebracht, von denen ich natürlich einige kaufte und gelegentlich nach Europa schicken werde. Doch sind das nicht von den feinen Geweben, die die Indianer zu machen im Stande sind, sondern nur grobe, wie sie die Gauchos als Hosen, und als Jacken gebrauchen. — Nun überschritten wir natürlich ruhig den Quequen, um zu Pferde die noch fehlenden 20 bis 30 Stunden bis zu dem Camp zurückzulegen, den ich messen sollte. Dieser Camp war an einem andern Fluß gelegen, Namens Cristiano Muerto, d.h. der todte Christ; den Namen hat er natürlich von einer früher dort stattgefundenen Schlachterei; abergläubig bin ich wahrhaftig nicht, aber doch [S.3] muß ich gestehen, daß dieser Name mich wider Willen etwas beunruhigte. Natürlich war auch das stete Gespräch aller Begleiter nichts Anderes als Erzählungen von Erlebnissen mit Indianern; einer war einige Monate bei denselben in Gefangenschaft gewesen, andere erzählten, wie sie bei Einfällen derselben auf wunderbare Weise entronnen seien, u.s.w., Alles nach echt Spanischer Art der Übertreibung vide Don Quijote. Zudem waren es gerade die herrlichsten Mond-Nächte, welche die Indianer stets zu ihren Einfällen wählen, so daß dieselben trotz ihrer Schönheit mir damals nicht sehr willkommen waren. — Die Arbeit begann und gieng ruhig etwa acht Tage fort; da sahen wir zwei Tage nach einander in der Ferne einen starken Rauch, und die mich begleitenden Gauchos sagten gleich, dies seien die Indios mansos oder boleadores, d.h. die zahmen oder Bolen werfenden Indianer. Zwischen den letzten christlichen Ansiedlungen und den wilden Indianern ist nämlich nirgends eine scharfe Grenze; theils gehen die Gauchos, die ohnehin schon daran gewöhnt sind, ganz ohne Obdach zu leben, oft ganz zu den Indianern über und verwildern mit denselben, theils kommen Indianer in die Nähe der christlichen Grenzorte, lassen sich dort wenn nicht bleibend, doch für einige Zeit nieder, machen ihre Gewebe und vertauschen sie gegen Tabak, Yerba (der hier allgemein gebräuchliche Tee oder Maté) und andere Dinge an die christlichen Nachbarn. Diese letztern Indianer machen nun zuweilen zu mehrern hundert an der Zahl große Streif- oder Jagd-Züge, um alle möglichen Thiere des Camp zu erlegen und deren Felle und namentlich die Straußenfedern in jenen christlichen Grenzorten wieder zu vertauschen. Auf diesen Streifzügen berühren sie bisweilen die von den Hiesigen mit Vieh besetzten Campos, richten aber keinen Schaden an, daher heißen sie mansos [S.4] zahm, während die salvajes oder wilden Indianer zunächst alle Christen tödten, und dann das Vieh forttreiben, um es in Chile zu verkaufen. Nachdem wir also zwei Tage nach einander den Rauch gesehen, kam am dritten eine Deputation jener Indios mansos, um uns anzuzeigen, daß sie keine feindlichen Gesinnungen hätten und nach unsern Absichten zu fragen. Zunächst fragten sie, wer der Patron unserer Expedition sei; ein Gaucho deutete auf mich, worauf die Indianer mich mit den Worten begrüßten: Mari, mari, hermano! Das erste Wort ist der indianische Gruß, und hermano ist das Spanische "Bruder". Der eigentliche Zweck war aber yerba zu betteln, was sie auch bekamen und sich dann zu ihren Gefährten zurückzogen, die einige Meilen entfernt waren; in der Zahl von 200 bis 300: wären sie näher gewesen, so hätte ich sie besucht. In ihrer Kleidung waren diese Abgeordneten nicht von etwas lumpigen Gauchos verschieden gewesen. Wir sahen den Rauch noch einige Tage, dann verschwanden diese zahmen Wilden im Süden. Den Rauch, der vom angezündeten Camp herrührt, machen sie täglich um sich Abends bei demselben wieder zu finden. Morgen früh nämlich zerstreuen sie sich und suchen möglichst einen großen Kreis zu bilden; einer oder einige stecken ungefähr in der Mitte des Kreises den Camp in Brand; und vom Umfang des Kreises werden nun alle Thiere nach diesem Mittelpunkt hingetrieben und niedergemacht. — Ich konnte nun ruhig die Arbeit vollenden, und als ich wieder über den Quequen zurückkam, vernahm ich, daß der Herr von Buenos Aires im Norden eine Schlacht über die Federations-Truppen gewonnen, somit für die nächste Zukunft auch hier im Süden keine Gefahr war von Seiten der Indianer. — Etwas Neues und Interessantes habe ich außerdem noch bei dieser Messung am Christiano Muerto gesehen, die Jagd auf den hiesigen Löwen oder Puma, der wirklich seiner Feigheit wegen den Namen eines [S.5] Löwen nicht verdient. An den Ufern dieses C[ristiano] M[uerto] wächst ein hohes Schilf und in diesem Schilf hält sich der Puma auf; mehrere sprangen in unserer unmittelbaren Nähe, wenn wir durchpassirten auf, flohen aber in aller Eile, von Angreifen ist keine Rede. Eines Tages setzte ein Gaucho einem solchen Löwen nach und kam nach einer halben Stunde mit dessen Fell zurück; er hatte ihn ganz allein erlegt auf folgende Art: Der Löwe floh, bis die Hunde ihn erreichten und packten; dann setzte er sich zur Wehr; in dem Augenblick stieg der Gaucho vom Pferd und erschlug den Löwen in Einem Schlag mit den bolas, d.h. mit zwei durch eine starke Schnur verbundenen Kugeln von Stein oder Metall. O—————O. Dies ist auch die einzige Waffe der oben erwähnten Indios boleadores, nur daß sie den meisten Thieren dieselben nachwerfen, und dann die Thiere, wenn sie sich in den bolas verstrickt, niederstechen. Ich konnte es kaum glauben, daß jener Gaucho den Löwen allein erlegt, (denn die Thiere sind nicht klein, was schon der Umstand beweist, daß sie sich von jungen Pferden und Kühen nähren) aber es war kein Zweifel daran möglich. Am folgenden Tag brachten mir zwei Gauchos einen Löwen an einem Lazo (Fangschlinge, die besonders dazu gebraucht wird, um Rindvieh und Pferde zu fangen) und sagten mir, ich solle ihn nun selbst tödten; dies unterließ ich zwar, sah dann aber mit eignen Augen, wie ein Gaucho den Löwen mit Einem Schlag seiner Bolen in den Nacken des Thieres erlegte; auf den Kopf getroffen, sollen die Thiere nicht so leicht zu tödten sein. Die Haut dieses Löwen habe ich mitgenommen, und werde sie Euch gelegentlich auch schicken; es war aber kein sehr großes Thier. Schön waren die Augen des am Lazo hergeschleppten Löwen; ich habe noch nie ein so feurig funkelndes Auge gesehen, und glaube daß die Gauchos nicht übertreiben, wenn sie sagen, bei Nacht leuchte das Auge des Löwen wie ein Licht, so daß man ihn schon von fern erblicke. Die Jagd auf den hiesigen Tiger578Jaguar.schliessen [S.6] ist viel gefährlicher; wenn schon derselbe auch viel kleiner, als der Bengalische. Auf den Tiger gehen nur einige Gauchos zusammen und nähern sich demselben nicht, als bis derselbe in den Bolen oder in einem Lazo ganz verstrickt ist; sonst springt der Tiger in Einem Satz aufs Pferd und packt den Reiter; sie sind seltener als die Löwen, und kommen mehr am Meeresstrand vor, wo sie sich von dem großen fetten lobo maritimo (Seewolf oder Seelöwe genannt, obgleich er natürlich weder mit Wolf noch Löwe etwas Ähnliches hat) nähren, der in Unmasse aus dem Wasser an den Strand kommt.

Seit ich dies niedergeschrieben war ich einige Tage in Montevideo; Hauptzweck der Reise war, Barker zu besuchen, da ich einige Tage unbeschäftigt war. Leider traf ich ihn nicht; er war eben auf dem Lande auf einer Estancia seines Hauses. Immerhin war es ein ganz angenehmer kleiner Ausflug; man geht immer Abends von einer der beiden Städte weg und kommt am andern Morgen in die andere. Auf dem Rückweg hatte ich eine prächtige Mondnacht und erinnerte mich lebhaft des ersten Males, daß ich diesen Weg gemacht, als ich nämlich allein und so ziemlich ohne einen Heller Geld im Sack nach B. A. kam, um da mein Glück zu suchen. Ich muß sagen, etwas ruhiger kam ich wohl diesmal in B. A. an, aber ich möchte doch nicht das Erlebte ungeschehen machen! — Jetzt bei meiner Rückkunft finde ich Euren Brief vom 30t. September vor, aus dem es mich zunächst freut zu vernehmen, daß Ihr eine ziemlich gelungene Reise gemacht. Auch jener verloren geglaubte Aufsatz hat sich wieder gefunden, worüber sich also Netti beruhigen mag; er muß auch durch Nettis Hände gegangen sein; dagegen ist er von Netti nicht verloren sondern dem Hanni oder Spyri eingehändigt und hier endlich wieder gefunden worden; die Hauptsache ist, daß er wieder zum Vorschein gekommen!

Was das Englische betrifft, so kann man dasselbe — die Aussprache und das wirk[S.7]liche Sprechen ausgenommen — ganz wohl aus Büchern lernen. Sprechen lerne aber selbst ich nicht mehr; ich bin zu alt und wenig bildsam dazu. Von jenem Müller habe ich nie ein Wort gehört; übermorgen verreise ich wieder für fast zwei Monate und das Einzige was ich momentan thun kann, ist dem Viceconsul, der ein guter St. Galler ist, die Sache mitzutheilen.

Dem Spyri bitte ich Folgendes zu sagen:
1. Die Mineralien möge er uneröffnet bei sich behalten, bis ich weiter darüber schreibe.
2. Von der Arbeit "Die Haupt-Culturen Brasiliens" soll er je Ein Exemplar den Herren Mousson in Zürich und B. Studer in Bern geben.
3. Sollte ich es im vorigen Briefe vergessen haben zu schreiben, von derselben Arbeit 10 oder 12 Exemplare an Claraz's Vater: Ambrosius Claraz in Freiburg.

Morgen gehe ich wieder für anderthalb Monate auf den Camp. —

Grüße an Alle! Euer:
J. Chr. Heußer.

Wenn man hier frankirt, so kostet es fast das Doppelte von drüben; ich thue es daher nicht mehr. Spyri soll mir das Porto aufschreiben.



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