Brief Nr. 81 – 30.9.1860
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81 30.9.1860
Buenos Aires, Ende September 1860
Liebe Mama, Tante Regeli und Schwestern!

Eure Briefe vom Jakobs-Tag554Der Jakobstag (25. Juli) wurde in der Familie als Namenstag von Vater und Sohn Heusser gefeiert.schliessen liegen vor mir; ich habe zwar wenig Zeit zum Antworten, will aber doch schnell die Feder ergreifen, um so mehr, als ich mit dem nächst folgenden Schiff, das Euch Briefe für den Monat December, Weihnacht und Neujahr bringen sollte, wahrscheinlich nicht werde schreiben können, da ich nächstens für einige Zeit auf's Land zu gehen habe, um Feldmesserei zu treiben. Ich habe mich nämlich jetzt aus verschiedenen Gründen für die praktische Laufbahn entschlossen, und jene Universitäts-Anerbietungen fahren lassen. Näheres darüber habe ich an Spyri zu schreiben, von dem ihr es erfahren mögt.

Interessant war für mich in letzter Zeit eine Reise Fluß aufwärts auf dem Uruguay bis Concepcion del Uruguay, Hauptstadt der Provinz Entre-Rios. Ich unternahm die Reise, um die dortige Schweizer-Colonie kennen zu lernen und um meinen Freund Claraz zu besuchen, der sich dort niedergelassen hat. Um die Reise zu verstehen und auch für allfällige weitere Mittheilungen Euch ein ordentliches Bild von der Banda Oriental del Uruguay (deren Hauptstadt Montevideo) und der argentinischen Provinz Entre-Rios zu machen, rathe ich Euch zunächst ein kleines Kärtchen anzuschaffen, das kaum einige Batzen kosten wird; es ist in der Zeitschrift für allg. Erdkunde in Berlin erschienen unter dem Titel: Uruguay und Entrerios nach den 1853 bis 1857 publicirten Karten von Pier, Reyes, Coffinières zusammengestellt von H. Kiepert. Berlin Lith. Inst. v. C. Monecke. [S.2] Aus diesem erseht Ihr zunächst, daß der gewaltige Plata-Strom bei Buenos Ayres noch ganz meerartig ist; in der That erblickt man das gegenüber liegende Ufer nur beim hellsten Wetter mit dem Fernrohr. Die Schiffahrt (per Dampf natürlich) von Buenos Ayres bis zur Insel Martin Garcia bietet daher durchaus nichts Erwähnenswerthes. Bei Martin Garcia dagegen erblickt man schon das gegenüberliegende freundliche Hügelland der Banda Oriental, und verliert dasselbe nun auch nicht mehr aus den Augen. Der Fluß Uruguay nämlich, der unmittelbar oberhalb der Insel Martin Garcia sich mit dem Parana vereinigt hat doch wohl nicht mehr als Zürichsee-Breite. Ganz eigenthümlich nun für den Uruguay und ungemein lieblich sind die zahlreichen Inseln, die in demselben zerstreut sind und nur selten, oder vielleicht nie von der Mündung aufwärts bis Concepcion die ganze Breite des Flusses überschauen lassen. Die Provinz Entre-Rios ist ähnlich wie La Banda Oriental ein Hügelland; und zwar sind die Hügel hier wie dort nackt, unbewaldet, während dagegen die Ufer des Flusses und ganz besonders die Inseln von einer üppigen Gesträuch-Vegetation bedeckt sind; vorherrschend wenigstens sind es bloß Sträucher, die Bäume, die sich darunter finden, sind nicht groß, erreichen vielleicht kaum die Größe mäßiger Europäischer Kirschbäume, sind also unendlich weit entfernt von den Riesenstämmen brasilianischer Urwälder. Trotzdem erinnerte mich diese Insel-Vegetation in mancher Beziehung an die Urwälder: vor allem weil auch diese niedrigen Gesträuche durch zahlreiche Schlingpflanzen in ein undurchdringliches Dickicht verwandelt sind; außerdem dann aber durch das Auftreten der Palmen. Nur ist hier wieder der Gegensatz, daß die Palmen mit ihren Kronen weit über die umgebende Vegetation emporragen, während sie in brasilianischen Urwäldern kaum die Äste der größten Stämme erreichen, [S.3] daher von ferne gar nicht zu sehen sind, sondern bloß, wenn man durch den Wald reitet. Wenn so die Gesträuch-Vegetation der Inseln und des Ufers schon von ferne vom Schiff aus sich sehr freundlich ausnimmt, so ist sie noch viel schöner von nahe betrachtet. Während der 8 Tage, die ich in Concepcion und auf der Colonie zubrachte, hatte ich Gelegenheit, dieselbe in der Nähe zu sehen, nur daß leider allerdings die Jahreszeit (August gleich dem Europäischen Februar) wenig günstig war. Dreierlei Sträucher und Bäume sind es besonders, die zahlreich vertreten sind, und im Frühling und Sommer eine Hauptzierde dieser Gebüsche bilden: 1) Riesige Cactus, wie ich selbst in Brasilien kaum welche gesehen habe, 2) Verschiedene Mimosen, 3) Verschiedene Arten von Stechpalmen, von welch letzteren ich Euch mit Gelegenheit einmal Saamen zusenden werde; vielleicht kommen sie auch im Hirzel oder wenigstens am See oder sonst etwas wärmeren Theilen der Schweiz fort. Nächstens wird wahrscheinlich Claraz etwas über die Flora der ganzen Gegend schreiben.

Morgens 11 Uhr geht das Dampfschiff von Buenos Ayres weg und am folgenden Morgen früh ist dasselbe in Concepcion. So verliert man allerdings durch die Nacht einen großen Theil der Gegend, was aber beim Herauffahren durch die Nacht dem Auge verloren blieb, das sah ich beim Herunterfahren. — Concepcion, obgleich Hauptstadt der Provinz ist höchst unbedeutend, gewährt aber keinen unangenehmen Anblick, da sie sehr weitläufig, d.h. so angelegt ist, daß jedes Haus, auch die elendeste Hütte, seinen großen Garten hat; wie denn überhaupt die Spanischen Amerikaner sich sehr vortheilhaft auszeichnen vor den Brasilianern durch ihre große Neigung für Gartencultur. Und bei der Gelegenheit will ich auch sagen, wie es sich mit jenem Wildberger verhält. Er kam nach Brasilien in der Absicht in der Nähe einer Stadt als Gärtner sich niederzulassen. Ich wußte, daß er damit in Brasilien auf keinen grünen Zweig gekommen war; [S.4] als ich in Buenos Ayres bald sah, daß er hier vorwärts kommen könnte schrieb ich ihm; in seiner Antwort bot er mir sein Gut in Brasilien zum Verkauf an; ich schrieb ihm noch einmal, natürlich ablehnend. Jetzt ist er also zurückgekehrt; hier in Buenos Ayres hätte ich ihm ganz sicher viel helfen können. Es kann jetzt einem Andern zugute kommen. Um nun auf Concepcion zurückzukommen, so ist darüber nicht viel zu sagen. Die Colonie liegt etwa 6 Stunden weiter Fluß aufwärts, aber nicht unmittelbar am Fluß, sondern etwa 1 bis 2 Stunden davon entfernt. Dagegen denkt dort Urquiza am Fluß selbst eine neue Stadt anzulegen, die unbedingt zum Blühen der Colonie viel beitragen wird.

Die Colonie nun bietet einen sehr freundlichen Anblick, und zwar sowohl die Leute selbst als das Land. In der That habe ich nicht ein einziges unzufriedenes Gesicht gesehen; (von der Verzweiflung der brasilianischen Colonisten nicht zu sprechen) und was das Land betrifft, so waren eben überall die jungen Saaten hervorgesprossen, die mit ihrem frischen Grün angenehm abstachen gegen das Grau der übrigen Campos. Und Kornfelder finden sich nun vor jedem Haus, größer oder kleiner je nach dem Fleiß der Bewohner; aber sicher ist, daß hier Leute, die vor wenig Jahren mit Nichts herübergekommen sind, Kornäcker haben können, und theilweise auch haben, um welche sie die größten Bauern der ebenen Schweiz oder Schwabenlands beneiden würden. Außerdem haben die Fleißigern Europäische Obstbäume aller Art und Weinreben gepflanzt, und alle diese aus Europa eingeführten Gaben Gottes gedeihen ganz gut in diesem ursprünglich ganz kahlen Hügelland.

Die Colonie ist also angelegt von dem hier allgewaltigen General [S.5] Urquiza, der früher Gobernador der ganzen Conföderation war, gegenwärtig aber nur noch solcher der Provinz Entre-Rios ist. Das Wesentliche des Contraktes ist, daß die ankommenden Colonisten, 64 Jucharten Land, und für ein Jahr Lebensmittel um einen billigen Preis erhalten; ihre Schuld müssen sie nebst Zinsen (18 ?allerdings hoch, aber landesgebräuchlich und bei dem geringen Ankaufspreis leicht zu erschwingen) nach 5 Jahren abzahlen. Näheres über das Ökonomische habe ich früher schon einmal an Widmer mitgetheilt und will mich hier nicht wiederholen. Außerdem ist nicht zu vergessen, daß der Wortlaut des Contrakts Nebensache ist, daß die Colonisten in diesem neuen Land und den ganz neuen Verhältnissen hier immer ganz der Willkür des Colonie-Unternehmens Preis gegeben sind; es ist dies in St. Fé mit dem Haus Beck und Herzog der Fall, und natürlich noch viel mehr in Concepcion, wo Urquiza über seine Provinz ganz das Regiment eines Russischen Czaren ausübt. (Sowie ich das Wort niedergeschrieben fällt mir ein, daß ich noch einmal erwähnen muß, daß nie ein Wort ohne meine besondere Einwilligung gedruckt werde; ein einziges solches Wort — und es kommt Alles, was drüben gedruckt wird hieher — würde mich für ewig mit Urquiza verfeinden und könnte selbst der Colonie schaden.)

Also auf den Wortlaut des Contrakts, sagte ich, kommt es nicht an, sondern auf den Geist, nachdem er ausgeführt ist; und da kann man denn mit gutem Gewissen sagen, daß Urquiza bis jetzt, weit entfernt die Colonisten auszubeuten, vielmehr große Opfer für dieselben gebracht hat, selbst größere als die meisten Colonisten [S.6] verdienen; das Unglück ist nämlich, daß die meisten faule Savoyarden und Walliser sind, und nur ein geringer Theil ordentliche Leute aus den nördlichen Kantonen: Zürich, Luzern, Aargau. —

Daß Urquiza diese großen Opfer nicht aus angeborener Herzensgüte gebracht, um arme Europäische Alpenbewohner zu beglücken, das glaube ich wohl. Er wird seinen Zweck dabei gehabt haben, sei es um allmälig durch das Beispiel seine Gauchos an Ackerbau zu gewöhnen, sei es um eine Macht heranzuziehen, mit der er die Gauchos selbst im Zaume halten könnte, wenn sie nicht mehr gehorchen wollten, oder sei es um seine Militärmacht gegen Buenos Ayres zu verstärken; (allerdings sind die eingewanderten Colonisten vom Militär-Dienst frei, und bloß die hier Gebornen dienstpflichtig; aber trotzdem wollte vor einem Jahr beim 2. Krieg gegen Buenos Ayres die ganze Colonisten-Jugend mit ausrücken.) Unter solchen Verhältnissen kann allerdings ein furchtsames Gemüth mit Recht behaupten, daß die Colonisten der Willkühr Urquizas preisgegeben sind, und von Tag zu Tag Gefahr laufen, in schlechtere Verhältnisse versetzt zu werden. Ebenso kann man sich fragen: was wird aus der Geschichte, wenn Urquiza, der doch schon 60 Jahre alt ist, einmal stirbt? Wird ein Anderer mit derselben Kraft die Herrschaft über die Gauchos führen, und dabei den Colonisten ihre bisherigen Vorrechte lassen und sie ebenso milde behandeln? Oder werden Colonisten mit den Gauchos zusammen der für jene unerträglichen Herrschaft eines Tyrannen verfallen? Oder werden die Gauchos, wenn kein starker Arm, wie der Urquizas sich findet, um sie zu zügeln, über die Colonisten herfallen? Bei Empfehlung dieser Colonie im Großen müssten alle diese Fragen wohl erwogen sein. Ich glaube, die Colonie kann getrost in die Zukunft [S.7] blicken, und wage es daher kühn, hier privatim dieselbe zu empfehlen. Wenn wieder, wie ich in Brasilien so oft Anfragen erhielt, solide arbeitsame Familien sich mit Fragen an Euch wenden, so empfehlt ihnen diese Colonie Urquizas, und den Weg über Bremen. — Noch will ich erwähnen, daß Urquiza bereits angefangen hat, weil die meisten Colonisten ihr Land nicht ordentlich bebauten, den neu Ankommenden nur noch 32 statt wie früher 64 Juchart zu geben. Auf besondere Empfehlung hin (und ich stehe sehr gut mit dem Direktor, einem gebildeten und tüchtigen Franzosen) würden aber auch ferner Ankommende noch 64 Jucharten erhalten. Und zu solchen Empfehlungen bin ich bereit, wenn Ihr einige ordentliche Familien zu senden im Falle wäret.

Ich könnte noch viel Anziehendes über die Colonie hinzufügen: so sind ihre Colonisten durchaus nicht auf Ackerbau beschränkt, sondern alle haben auch Rindvieh (einzelne schon gegen 40 Stück), somit auch Milch und Butter, und zwar gute; wenigstens behaupten jene Colonisten aus der nördlichen ebenen Schweiz, daß Milch und Butter selbst besser seien, als in der Heimath. Indeß ist es unter allen Verhältnissen besser, wenn man Europäischen Auswanderern eher zu wenig, als zu viel verspricht.

Doch Eines muß ich noch erwähnen, bevor ich die Colonie verlasse; von dieser aus habe ich mehrmals den Punkt am Ufer des Uruguay besucht, wo die neue Stadt gegründet werden soll. Jetzt ist noch nicht einmal der erste Schritt gethan, die Vegetation ausgerottet; es giebt daher hier einige reizende Punkte auf den kleinen Hügeln unmittelbar am Fluß mit Aussicht über denselben und über seine Inseln hin. Wenn es schon schwer ist, einzelne Gegenden mit einander zu vergleichen, so glaube ich doch, daß im Allgemeinen die Ufer großer Flüsse von der Mündung aufwärts so weit als sie schiffbar sind, ziemliche Ähnlichkeit haben; und so ist es auch nicht zu verwegen diesen Uruguay mit dem untern Rhein [S.8] zu vergleichen, und auch Reben werden glaube ich die Uruguay-Ufer bedecken, bevor 10 Jahre verflossen sind — Auf der einen Seite erinnerte ich mich hier mit stillem Heimweh an die zauberhaften tropischen Gegenden, die ich in Brasilien gesehen, auf der andern aber sagte ich mir, daß auch die schönsten Gegenden Brasiliens kaum jemals mein Glück hervorgezaubert hätten, und daß diese Gegend, die bearbeitet sein will, aber die Arbeit reichlich bezahlt, mit ihrem freundlichen Clima doch für den Europäer unendlich viel zuträglicher ist, als jenes Schlaraffenland.

Nächstens soll diese projektirte Stadt ausgesteckt werden, dann kann jedermann einige Jucharten Land bekommen gegen Erlegung einer Unze (etwa 80 Frk.) und unter der Bedingung innerhalb Jahresfrist ein Rancho (schlechtes Haus) darauf zu bauen; ein solches kann etwa auf 300 Frk. zu stehen kommen. Hier werde ich jedenfalls eine Concession nehmen und habe den Platz schon ausgewählt. Sollte Theodor oder einer der beiden Schwäger Lust haben dasselbe zu thun, so sollen sie schreiben; es ist wenig Geld, kann aber in wenig Jahren sich mehren. Und so hätten für alle Fälle die zahlreich aufsprossenden Neffen (ich höre immer neue Namen, Karl,555Karl Ulrich, der Sohn von Anna und Friedrich Salomon Ulrich, geboren 1859. Dagegen ist nicht klar, wer mit Hans Jakob gemeint sein könnte. Vgl. die Stammbäume bei R. Schindler, Die Memorabilien.schliessen Hans Jakob und weiß gar nicht mehr, wie viele sind) eine zweite Heimath. Wenn ich vor einem Jahr so gestanden wäre wie heute, hätte ich unbedingt den Vorschlag gemacht, vom ganzen hinterlassenen väterlichen Vermögen zunächst etwa 50000 Frk. wegzunehmen und davon für alle Erben zusammen etwa 5-8 Quadrat-Legoen Land in Entre Rios zu kaufen; so wohlfeil ist das Land dort noch, und bis diese junge Welt groß geworden wäre, hätte dies Land, wenn nicht alle Aussichten Lügen gestraft werden, einen großen Werth erreicht. Vor einem Jahr wären jedenfalls dergleichen Vorschläge von meiner Seite abgewiesen worden, und darum habe ich sie nicht gemacht.

Wenn auch Hr. Pfarrer auf einmal alles Mißtrauen verloren hat, so mag jenes Geld bei Brennwald bleiben (so wie es mir sehr recht ist, wenn Du und die Schwestern alles freie Geld dem Brennwald geben); wenn es aber mit dem geringsten Widerstreben geschieht, so will ich die Sache lieber erledigt wissen.

Mit Grüßen an Hr. Pf[arre]rs, sowie an Alle, die mich sonst grüßen lassen, Euer:
J. Ch. Heußer.


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