Brief Nr. 74 – 12.9.-13.10.1858
Zurück zum Register
2 Vorkommen in diesem Brief
Eintrag drucken
74 12.9.-13.10.1858
[São João de Minas Novas, 12. September 1858]
Liebe Eltern!

St. Joaõ de Minas Novas den 12t. September 1858. Im letzten Brief, den ich von aus abgesandt, bin ich in Beurtheilung Brasilianischer Verhältnisse, oder vielmehr der Brasilianer selbst, doch zu hart gewesen; seither wurde ich durch die freundliche Aufnahme, die wir an verschiedenen Orten gefunden, wirklich beschämt. Man kann allerdings von keinem Volk in Bausch und Bogen ohne Ausnahme ein Urtheil fällen, um so weniger von einem aus so verschiedenen Elementen zusammengesetzten, wie das Brasilianische. — In Itabria verließen wir aus verschiedenen Gründen die Hauptstraße, und bewegten uns von nun an bis über Diamantina hinaus stets auf Nebenwegen. Auf diesen finden sich keinerlei Ranchos oder Estalagen, man ist einfach auf die Gastfreundschaft der Bewohner, oder aber darauf angewiesen, unter freiem Himmel zu übernachten. Wir sind aber nie in diesen Fall gekommen, sondern haben alle Bewohner dieser Gegend sehr gastfreundlich, zum Theil wirklich über die Maaßen zuvorkommend und freundlich gefunden. Es ist kein Zweifel, daß diese Leute ohne allen Vergleich besser sind gegen Fremde, als die Bewohner des äußeren Theils der Provinz Minas, und hängt ohne Zweifel damit zusammen, daß diese Gegend noch viel weniger von Fremden bereist ist, als jene. Aber immerhin darf man sich auch von der Gastfreundschaft dieser Gegend nicht übertriebene Vorstellungen machen: nur wenige Male sind wir in dieser Gegend ohne Empfehlungsbriefe Abends auf Fazenden angekommen, und haben in diesen wenigen Fällen allerdings meist freundliche Aufnahme gefunden, einige Male aber unfreundliche, auch ist es hier vorgekommen, daß wir ganz abgewiesen wurden. Dagegen ist es ganz auffallend und bemerkenswerth, wie leicht man sich solche Empfehlungsbriefe verschaffen kann. Für die Nähe von Itabria hatten wir einen von jenem Hr. Buzelin aus Marianne; der erste Fazendeiro, bei welchem wir logirten, gab uns einen solchen für seinen Nachbar in der Entfernung einiger Meilen, dieser wieder weiter, und so hatte dieser Brief von Buzelin seine Wirkung bis zur Cidade do Serro 30 Meilen über Itabria hinaus. In jener Stadt fanden wir einen jungen deutschen Arzt, bei dem wir einige Tage verweilten, um uns selbst zu erholen und die Thiere ausruhen zu lassen. Dieser Arzt gab uns weiter einige Briefe mit; außerdem aber machte ich in seinem Hause durch das Schachspiel die Bekanntschaft eines Brasilianers. In diesem Spiel war er keineswegs stark; indeß ließ ich ihn absichtlich einmal gewinnen; diesen Triumph über den fremden Doktor verbreitete er schnell in der ganzen Stadt, und dies zog mir so sehr seine Gunst zu, daß er mir verschiedene Empfehlungsbriefe in den schmeichelhaftesten Ausdrücken mitgab, namentlich nach Diamantina. Hier waren sie vom besten Erfolg; als Nachwirkung derselben erhielt ich weitere Briefe hieher, und für die Weiter-Reise. Einen anderen Freund erwarb ich mir durch Erklärung der Sonnenfinsterniß, die hier am 7t. September sichtbar war. Wir befanden uns an diesem Tag einige Meilen von Diamantina an einem kleinen Ort am Fluß Jequitinhonha. Natürlich versammelten sich sämmtliche Bewohner in großer Spannung aber ohne alles Verständniß zur Betrachtung des Ereignisses. Wir zeigten ihnen, wie man durch mit Lampenruß geschwärzte Gläser in die Sonne blicken kann, und beantworteten alle ihre Fragen so gut als möglich. Ob sie es verstanden, weiß ich freilich nicht; aber sie stellten sich wenigstens so, und einer stellte uns, als seinen intimsten Freunden, wieder die besten Empfehlungsschreiben zur Weiter-Reise aus. — Am tiefsten gewurzelt ist übrigens der Begriff der Gastfreundschaft jedenfalls unter den niedrigeren Schichten des Volks; folgender schöne Zug erinnerte mich wirklich an Homerische Zeiten: Von unserm Nebenweg aus machten noch Claraz und ich hie und da kleinere Seiten-Ausflüge, um dem oder jenem nachzuspüren. Natürlich sind hier die Wege oft schwer zu finden; der Weg, der von einem kleinen Araial zu einem andern in der Entfernung von 5-6 Meilen führt, ist in der Regel schmal und schlecht; dagegen führen von demselben zahlreiche bessere Wege links und rechts ab nach größeren Fazenden oder auch kleineren Wohnungen ärmerer Leute; so irrte ich auch einmal und gelangte, nachdem ich lange durch einen schönen Urwald geritten, plötzlich zu einer kleinen, aber reinlichen und freundlichen Ansiedlung. Als ich nach dem Wege fragte, sagte mir der Eigenthümer des Hauses, ein buntfarbiger Mann von etwa 45 Jahren, ich habe mich bedeutend geirrt; bot mir übrigens, ohne daß ich darum bat, Erfrischung für mich, Mais für das Maultier und ein Nachtlager an; letzteres schlug ich aus, da es noch früh am Tag war, ersteres dagegen nahm ich an mit der [S.2] Bemerkung, wenn er so gut sein wolle; darauf antwortete er "warum denn nicht, Sie sind ja ein Fremder und ich wohne hier", und darauf bewirthete er mich und das Thier, als ob dies wirklich seine Pflicht wäre. Sklaven hat der Mann nicht, sondern pflanzt seine Lebensmittel mit geringer Mühe selbst; außerdem treibt er Jagd und Fischfang, nicht um Geld zu gewinnen, sondern um seiner Familie hie und da eine Zugabe zu Reis und Bohnen zu bringen; und um seine kleine Wohnung mit Thierfellen und schönen Vogelbälgen zu schmücken. Es fehlte nicht der bereits erwähnte Ara, lebend und ganz zahm, der viel dazu beitrug, der ganzen Ansiedlung einen freundlichen Eindruck zu verleihen. Diese Ansiedlung hatte wirklich etwas Ideales, war so, wie Auswanderungsschriften die Hütten aller Armen schildern, um Auswanderer anzulocken; es ist aber die einzige der Art, die ich bisher getroffen. Bei der Gelegenheit will ich eines Ausdrucks erwähnen, den sich eine spärliche Ansiedlung geschaffen, und der sich in keiner Sprache bevölkerter Länder wörtlich übersetzen läßt. Ein solcher vereinzelt wohnender Mensch heißt ein morador von morar wohnen; wenn man etwa in einem Araial nach dem Wege fragt, so bekommt man oft zur Antwort, es habe viele moradores (Wohner) am Wege; "Bewohner" wäre natürlich eine unpassende Übersetzung; in jeder Sprache des bevölkerten Europas würde man wahrscheinlich einfach sagen "Leute", oder vielleicht noch eher "Häuser." — Die Stadt Cidade do Serro ist unbedeutend und Nichts darüber zu bemerken. Diamantina dagegen ist ein feines kleines Städtchen, Alles so auf Europäischem Fuß eingerichtet, wie im Innern Brasiliens sich wohl keine zweite findet; die Provincial-Hauptstädte St. Paul und Ouro preto, die ich gesehen, kommen Diamantina nicht gleich; vielleicht übertrifft Diamantina selbst die Küstenstädte Pernambuc und Bahia, und es gefallen sich die reichen Diamantenhändler und Diamantengräber darin, ihren Reichthum im größten Luxus zu entfalten und mit den reichsten Kaufleuten von Rio zu rivalisiren. Männer wie Weiber prangen daher in Gold, Diamanten und Seide, und es bildet dieser Luxus von Diamantina einen doppelten Contrast, einerseits, ich möchte sagen zu der Natur selbst, zu deren öden, unbebauten Campos und den kahlen Felsen der nächsten Umgebung, anderseits zu den armseligen Hütten bei den Diamanten-Wäschereien selbst; diese sind selten besser aufgebaut und ausgestattet, als die Negerwohnungen größerer Fazenden, und zwar einfach darum, weil der Diamantensucher von einem Tag zum andern, wenn die Diamanten da, wo er sich niedergelassen, aufhören, oder wenn er anderswo mehr zu finden hofft, seinen Wohnsitz ändert. So lässt sich der Mineiro, wenn er bei der Arbeit ist, große Entbehrungen gefallen, denkt an Nichts, als wo er nach diesen und jenen Anzeichen die meisten Diamanten finden möchte; aber in der Stadt Diamantina entschädigt er sich reichlich für seine Entbehrungen. Es existirt wohl auf der Erde kein zweites Städtchen von gleicher Größe, in dem so viel Geld cirkulirt; und als unicum auf unserem Planeten hat es mich interessirt, wenn auch der nervus rerum, durch den es sich auszeichnet, mir leider fremd ist. Übrigens haben die Diamanten noch Begleiter, die mich, wie ich hoffe noch reichlich für den Mangel an Diamanten selbst entschädigen werden. Da dieselben keinen reellen Werth haben, sind sie bis jetzt stets fort geworfen worden. Soviel ich weiß sind diese Mineralien als Begleiter der Diamanten noch nicht einmal bekannt, und wenn verschiedene Mineiros dieselben, wie sie versprochen haben, für uns sammeln, so werden sie einen schönen Beitrag zu unserer Sammlung liefern. — Kurz vor unserem Besuch in Diamantina hatte sich etwas Seltsames ereignet, das ziemlich charakteristisch ist für Brasilianische Zustände: Ein Verbrecher war zum Tode am Galgen verurtheilt worden, und wurde wirklich ausgeführt. Nach dem Gesetz muß einer der Richter bei der Execution anwesend sein. Es erschien aber kein Richter, und so wurde der Delinquent, nachdem man einige Zeit vergebens gewartet, wieder ins Gefängniß abgeführt. Darauf wurde eine Bittschrift an den Kaiser eingereicht, und der betreffende wird wahrscheinlich begnadigt werden. Als Grund, warum keiner der Richter erschienen, ist wahrscheinlich weniger Philantropie, als Furcht vor den Anverwandten des Verurtheilten anzunehmen. — Auch hier in St. Joaõ habe ich so eben etwas erlebt, das in Europa kaum vorkommen könnte. Der Pfarrer des Orts hat, wie alle seine Collegen, eine Neben-Beschäftigung; er hat eine kleine Eisenfabrik in der Entfernung von 4 Meilen, während andere Gold- oder Diamanten-Minen, oder Cafè-Fazenden etc. besitzen je nach der Gegend, in der sie sich befinden. Auf seiner Eisenfabrik bringt der Padre die Woche zu und Sonntags kommt er zur Stadt, oder sollte wenigstens nach Europäischen Begriffen zur Stadt kommen, um die Messe zu lesen und Gottesdienst zu halten. An diesen Geistlichen hatten wir einen Empfehlungsbrief, und er sollte uns weiter nach Graõ Mogor503Heute Grão Mogol.schliessen etc. empfehlen. Wir kamen gestern Samstags den 11t. September hier an, und erfuhren, daß der Geistliche Abends spät, oder heute Sonntags früh zurückkommen werde. Heute zwischen 11 und 12 Uhr sollte Gottesdienst sein, [S.3] es war aber kein Gottes-Dienst; der Padre erschien nicht, schickte aber dem Schwarzen in seinem Hause die Nachricht, daß er heute Abend zurückkehren werde. Es war also durchaus nicht eine plötzliche Krankheit, oder irgend ein Nothfall, der den Padre abgehalten hätte, sondern er hatte einfach keine Lust, heute Gottesdienst zu halten. Auch ist er der einzige Geistliche des Orts; es giebt keinen zweiten, der ihn hätte ersetzen können, und dies Ausfallen der Messe fällt gar nicht auf, da es sich öfters ereigne. Da wir den würdigen Geistlichen heute noch zu erwarten haben, haben wir uns entschlossen zu warten, und die Zeit habe ich benutzt, diese Zeilen niederzuschreiben. Abends 7 Uhr. Der Padre ist wirklich gesund und wohlbehalten um 5 Uhr hier angekommen; seine Bildung entspricht vollkommen seiner Amtstreue; indeß kann ich mich nicht über ihn beklagen; mir gegenüber hat er seine Pflicht gethan; er hat mir einige Empfehlungs-Briefe für die Weiter-Reise gegeben, und ich hoffe von denselben den besten Erfolg. Ich habe bereits einmal die Erfahrung gemacht, daß Empfehlungen von Geistlichen am besten wirken. In dieser Beziehung zeigen die Brasilianer einen eigenthümlichen Widerspruch: die Geistlichen sind ihres ganzen Lebens-Wandels wegen auf der einen Seite allgemein verachtet, und werden bisweilen öffentlich verhöhnt; auf der anderen Seite aber hat doch das Volk eine geheime Furcht, oder Ehrfurcht vor ihnen, die freilich mehr dem Stande, als der Person gilt. Und da man in der Regel in der Entfernung einiger Meilen die Person nicht mehr so genau kennt, sondern nur den Stand im Auge hat, so wirken auch gewöhnlich die Briefe der Geistlichen auf größere Entfernungen sehr gut.

[Grão Mogol, 23. September 1858]

Graõ Mogor den 23t. Sept. Wir sind glücklich am äußersten Punkt unserer Reise angelangt und hoffen, daß die Rück-Reise, die wir nächster Tage antreten werden, noch ein glückliches Ende nehmen werde. Graõ Mogor ist eine kleine Stadt, die ihre ganze Existenz ebenso wie Diamantina dem Vorkommen der Diamanten zu verdanken hat. Graõ Mogor ist aber viel neuer und kleiner, und wird kaum je die Bedeutung von Diamantina erlangen, da die Edelsteine bereits nicht mehr in solcher Menge vorkommen, wie vor 20-30 Jahren. Interessant war die Reise der letzten 20 Stunden. Von Diamantina aus nahmen wir unsern Weg nach St. Joaõ de Minas Novas, und von hier über den Fluß Jequitinhonha nach Graõ Mogor. Die Reise von Diamantina bis Simoã Viera, wo wir jenen Fluß überschritten, bietet nichts Neues; allerdings reisten wir nicht mehr auf einer so besuchten Hauptstraße wie bis Diamantina; indeß fanden sich doch an diesem Wege noch Araials, sowie zahlreiche Fazenden, auf denen wir fast immer freundliche Aufnahme fanden. Die Leute sind hier, wie die Brasilianer im Allgemeinen, faul; indeß haben sie Schwarze. Das Land ist einigermaßen bebaut, und die Fazendeiros lassen sich an Lebens-Genüssen aller Art, namentlich an Essen und Trinken Nichts abgehen. Auf der andern Seite des Jequitinhonha ist es anders; hier wohnen zwar nicht die Wilden im gewöhnlichen Sinne des Wortes, wohl aber eine weiße und farbige Bevölkerung, die durch Faulheit und durch Mangel an Verkehr mit aller civilisirten Welt fast unter die Wilden herabgesunken sind. Diese ganze Gegend zwischen dem Jequitinhonha und dem großen St. Francisco wird mit dem Namen sertaõ bezeichnet und schon lange hatten wir gehört, daß es im Sertaõ sehr schwer zu reisen sei. In Simoã Viera am Jequitinhonha theilte uns ein Diamantensucher, der schon viel gereist ist, den wahren Grund mit. Der ganze sertaõ ist sehr reich an Fischen, an Wild aller Art, an Honig und verschiedenen Früchten. Darauf verlassen sich die Bewohner, davon nähren sie sich, und pflanzen und arbeiten rein Nichts. Selbst zur wirklichen Jagd sind sie zu faul: sie fangen das Wild in Fallen, und warten im Schatten ihrer ärmlichen Hütten ab, bis ein Schwarm Vögel vorbeifliegt, von denen sie einige herunterschießen. Auf solche Weise bleiben diese Leute natürlich außer aller Verbindung mit der civilisirten Welt, und verfallen so in einen Zustand der wirklichen Verdummung und halber Wildheit. Wir hörten Geschichten von diesen Sertaõ-Bewohnern erzählen, die wir für Mährchen hielten: der oben erwähnte Diamanten-Sucher wollte einmal Abends bei einem solchen Halb-Wilden angekommen sein und ihn um etwas Essen gebeten haben; dieser lag ausgestreckt auf dem Boden und klagte, er sterbe selbst fast vor Hunger, da ihm seit mehreren Tagen kein Wild in die Falle gegangen sei. Anderswo hatte jener Diamantensucher die Bewohner des Sertaõ so schüchtern gefunden, daß dieselben, so wie sie ihn erblickt, sich in ihre Hütten einschlossen, und auf sein Pochen und Rufen gar keine Antwort gaben. Dergleichen Geschichten halten wir seit unserer Reise vom Jequitinhonha nach Graõ Mogor für möglich und wahr. Wir haben auf dem ganzen Weg von etwa 20 Meilen bloß 2 Fazenden, und wenige armselige Hütten getroffen. In einer solchen blieben wir über Nacht; den Hausvater trafen wir in der That auf dem Boden liegend, zwei Flinten zu seiner Seite, mit denen er auf einen Schwarm vorüberfliegender Vögel paßte. Er war übrigens nicht schüchtern, sondern empfieng uns freundlich, und bedauerte, daß er uns Nichts zu essen aufwarten könne, als Bataten (eine süße Kartoffel-Art) und etwas Milch; er besaß nämlich eine Kuh, und hatte in der That etwas Bataten gepflanzt, was freilich wenig Arbeit kostet. Cafe und Bananen aber, diese herrlichen Tropengewächse, von denen man bloß einen Zweig in die Erde zu stecken braucht, damit sie üppig gedeihen, hatte er nicht einmal. Am folgenden Morgen wollte er uns nicht gehen lassen, ohne uns wieder ein Frühstück von Milch und Bataten zu bereiten; indeß sollten wir warten bis gegen Mittag; "wenn die Sonne recht hoch stände, komme die Kuh regelmäßig nach Hause." So hatten wir eine Art von Robinsons-Leben wirklich getroffen. — Einige [S.4] Male trafen wir auch auf dem Wege Leute an, die uns, wenn wir sie nach irgend etwas befragten, nur wie Narren angafften, ohne irgend eine Antwort zu geben. Bedenkt man nun, daß dieser Weg nach Graõ Mogor verhältnißmäßig noch ziemlich betrieben ist, so ist es wohl möglich, daß für den eigentlichen Sertaõ nach dem St. Francisco hin die oben gegebene Schilderung des Diamanten-Suchers nicht übertrieben ist. Weiter hinein nach dem Sertaõ werden wir aber wohl nie kommen, theils weil kein wissenschaftliches Interesse uns dahin zieht, theils weil das Reisen sehr schwierig ist: auch wenn man selbst die Entbehrungen aushält, so magern die Thiere bald ab und gehen zu Grunde, da sie keinen Mais mehr bekommen. — Graõ Mogor selbst bietet wenig Bemerkenswerthes; wer Einen Brasilianischen Ort gesehen, hat alle gesehen: niedrige, einstöckige Häuser zwischen einem Wald von Bananenbäumen; die Leute sitzen auf den Straßen und in den Lojen (Verkaufsläden) herum, arbeiten Nichts und klagen darüber, daß keine Sklaven mehr eingeführt werden. Ein junger Brasilianischer Arzt, der unverheirathet ist, aber ein eigenes Haus führt, entschuldigte sich, daß er uns nicht zu sich einladen könne, weil er nur drei Schwarze zur Bedienung habe.

[Calhão, 2. Oktober 1858]

Kaliaõ504Calhão, heute Araçuai.schliessen den 2t. October. Von Graõ Mogor haben wir den Rückweg über den Jequitinhonha mehr nördlich eingeschlagen, und so noch einen andern kleinen Theil des Sertaõ bereist. Auch hier haben wir die Erfahrung gemacht, daß man im Sertaõ Nahrung für Menschen und Thiere mitnehmen muß, wenn man sicher sein will, daß Niemand verhungere; ebenso muß man auf Nachtlager im Freien gefaßt sein. Deswegen ist auch ein Zelt fast nothwendig; Schlafen unter ganz freiem Himmel, besonders beim Mondschein soll nach allgemeiner Erfahrung sehr schädlich sein, und manchmal plötzliche Erblindung herbeiführen. Ein schönes Beispiel eines Sertaõ-Bewohners haben wir auf diesem Wege getroffen: es war ein älterer Mann, der als Kleidung nichts Anderes trug (ohne alle Übertreibung) als ein Hemd mit einem Gurt um die Lenden; er trieb einen Esel mit Salz beladen vor sich her, und fieng von selbst an mit uns zu sprechen, ob wir auch Salz in Kaliaõ holen wollen etc. Wahrscheinlich ist das Salz das einzige Bedürfniß, das die Sertaõ-Bewohner aus der Ferne beziehen; die meisten, die zu diesem Zweck die Reise nach Kaliaõ machen, sind aber doch mit Hosen, Rock und Hut bekleidet, und zwar bestehen alle diese Kleidungsstücke aus Leder. — Kaliaõ liegt weiter unten am Jequitinhonha; so weit hinauf ist derselbe mit kleinen Cannots schiffbar, und soweit kommt daher zu Wasser das Salz von Bahia. Der kleine Hafen giebt daher dem Ort einiges Leben; es ist hier nicht der Müssigang und die Todtenstille, wie in andern brasilianischen Ortschaften. Uns hat freilich nicht dies Handelsinteresse hieher geführt, sondern die Edelsteine, Chrysolithe, Amethyste, Chrysoberylle, Turmaline etc., die in der Umgebung von 20-30 Meilen von hier gefunden werden. Wie wir hörten, sollte hier auch mit diesen Steinen ein bedeutender Handel getrieben werden. Es ist dies aber jetzt nicht mehr der Fall; es ist bloß Ein Franzose hier, der diesen Handel etwas betreibt, und zwar ganz im Kleinen. Man sucht hier nicht mehr nach diesen Edelsteinen, theils weil der Preis derselben in Europa und die Arbeitskräfte in Brasilien abgenommen haben, theils weil einige der reichsten Flüsse wieder von den Indianern in Besitzung genommen sind. Von Kaliaõ aus sind es nämlich nur einige Meilen bis zu den Wäldern, in denen dieselben noch ungestört wohnen. Viele derselben leben zahm hier als Dienstboten; alle sollen übrigens in ihren Kinderjahren gefangen worden sein; erwachsen eingefangen sollen sie sich nicht mehr an Europäische Sitten gewöhnen, sondern stets wieder in die Wälder entlaufen. — Kaliaõ ist vom Meer bloß etwa 60 Meilen entfernt, von Rio de Janeiro etwa 180 und von Bahia etwa 150. Früher war von all diesen Orten, die wir auf unsrer Reise besucht kein Weg nach einem Hafen am Meer, als eben nach Rio oder Bahia; durch die Colonisation des Muccuri sollte dieser Theil der Provinz Minas in kürzere Verbindung mit dem Meere gesetzt werden. In der That ist auch die Straße von hier nach dem Muccuri in Betrieb und ohne alle Gefahr zu passiren; vom Muccuri aus ist regelmäßige Dampfschiffahrt mit Rio, so daß wir von hier aus in 14-16 Tagen in Rio sein könnten, während der Landweg etwa 2 Monate erfordert. Wir schlagen aber doch den letzteren ein, theils weil wir Mineralien auf dem ganzen Wege zurückgelassen haben, theils ganz besonders, weil ich nicht mit den Colonisten vom Muccuri in Berührung kommen will.505Die Bemerkung Heussers zeigt, dass er die ganze Kolonisten-Affäre noch längst nicht verdaut hat.schliessen — Der alte Camarade, den wir von Barbacena mitgenommen, hat uns, wie ich bereits geschrieben, in Ouro preto verlassen. Von da haben wir einen Sklaven gemiethet, mit dem wir im Ganzen auch ziemlich zufrieden sind. Er ist ziemlich anhänglich an uns, noch mehr aber an unsere Maulthiere. Von den Einsiedler-Geschichten und Heiligenbildern, die wir zum Tausch gegen Mineralien mit uns führen, haben wir unserm Camaraden gleich im Anfang einen St. Antonio gegeben. In diesen hat er ein gewaltiges Vertrauen und trägt ihn stets in einer Büchse von Blech um den Leib gebunden bei sich. Während der letzten Reisetage nun wurde das beste und intelligenteste unserer Maulthiere etwas schwach und schien erkranken zu wollen. Da befestigte unser Camarad seinen St. Antonio am Geschirr des Maulthiers selbst; (es war nämlich ein Lastthier, ein Reiter [S.5] hätte dies wohl nicht zugegeben) und so ritten wir einige Tage bis St. Antonio sein Wunder verrichtete, und das Thier gesund machte.

[São João de Minas Novas, 13. Oktober 1858]

St. Joaõ de Minas Novas 13t. Oct. Wir sind glücklich an diesen Ort zurückgekehrt, an welchem ich den Brief angefangen. Viel Interessantes haben wir auf der Reise der letzten Tage nicht erlebt; nur zwei Dinge will ich noch erwähnen: in Capellninha haben wir von verschiedenen Leuten, unter Anderen demjenigen Mann, bei dem Tschudi logirte, erfahren, wie dieser Herr, dessen Reisebericht506J. J. Tschudi, Peru. Reiseskizzen aus den Jahren 1838-1842, 2 Bde., St. Gallen, 1846.schliessen wir bei uns führen, aufschneidet und direkt lügt. Ich führe die Sache hier nicht weiter aus, weil ich einstweilen keine Veröffentlichung will; es kommt wohl später eine günstigere Gelegenheit. — Eine angenehmere Erscheinung auf diesem Wege waren wieder die Überreste wahrer alter Gastfreundschaft. In einer ärmlichen Hütte zu heißer Nachmittagsstunde angekommen, baten wir um eine Tasse Café oder einige Bananen. Weder das eine noch das andere war zu haben; dagegen bat uns die Frau, nur einige Augenblicke zu warten, das Mittagessen sei gleich bereit, und bald brachte sie in der That eine Schüssel voll der gewöhnlichen Brasilianischen Speise: Bohnen, Reis, Kohl. — Als wir etwas zögerten, und sagten, wir wollen nicht ihrer Familie das Essen wegnehmen, sagte sie, sie koche stets für einige unerwartete Gäste mehr; und als wir fragten was es koste, antwortete sie, offenbar beleidigt, sie verkaufe ihre Bohnen nicht an Hungrige. Damit war uns eine Brasilianische Sitte erklärt: von Rio de Janeiro landeinwärts, so weit als wir gekommen sind, findet man stets bei Tische ein oder mehrere überflüssige Gedecke; und wer immer während des Essens ankommt, wird dazu eingeladen. Nach der alten, wahren Gastfreundschaft ist in der Küche für diese unerwarteten Gäste gesorgt. Gegenwärtig ist dies aber in den meisten Fällen nicht mehr der Fall: der Einladende erschrickt, wenn der Eingeladene annimmt. In Rio soll es sogar soweit gekommen sein, daß, während die Sitte noch gebietet, das Essen jedem Ankommenden anzubieten, es doch als unhöflich gilt, eine solche Einladung anzunehmen. NB. Dies gilt natürlich nur von Brasilianern.

Wenn ich diesen Brief hier gleich abgehen lasse, so ist es wahrscheinlich, daß er Ende October nach Rio kommt, mit dem November-Schiff abgeht und im December nach Europa kommt, so daß Ihr auf die Festtage von Weihnachten und Neujahr diese [S.6] Nachrichten von mir habt. Die Reise ist allerdings noch nicht zu Ende; wir haben noch einen weiten Weg bis Cantagallo zu machen, hoffen aber auf demselben noch viel Neues zu sehen, da wir wieder einen neuen Weg einschlagen. Aber schon von hier aus vor dem Ende der Reise glaube ich ohne Übertreibung sagen zu können, daß wir mit mehr und verschiedenartigen Leuten in Berührung gekommen sind, und darum tiefer in die Brasilianischen Verhältnisse herein blicken, als andere Reisende. In wissenschaftlicher Beziehung will ich keinen Vergleich anstellen; es genügt mir, daß, wie ich sicher glaube, auch bei unserer Reise ein ordentliches Resultat herauskommt. Und wenn wir unsere Sammlungen glücklich nach Cantagallo und Rio bringen, so ist kein Zweifel, daß wir mindestens unsere Reisekosten decken. Es ist dies ein Erfolg, wie wir ihn billigerweise von der ersten Reise nicht besser erwarten durften, und berechtigt uns in Cantagallo neue kühnere Pläne zu schmieden. Daß der Anfang hart war, werdet Ihr wohl aus den ersten Briefen herausgefühlt haben; ausführlich habe ich allerdings nicht Alles mitgetheilt, was wir erlebt haben. So wie ich aber vom harten Anfang eher zu wenig als zu viel, so habe ich auch sicher vom guten Fortgang und hoffentlich guten Ende eher zu wenig als zu viel gesagt.507Eine der wenigen Briefstellen, in der Heusser gleichsam Bilanz zieht: Ihn interessierte das Reisen an sich, doch musste auch die Rechnung aufgehen. An seine ursprüngliche Mission auf den Kolonien mochte er nicht mehr denken, weil die Folgen für ihn persönlich zu verletzend waren. Naturwissenschaftliche Beobachtungen konnte er in Aufsätzen auswerten, die aber nicht viel einbrachten und von der Familie nicht verstanden wurden. Blieb der etwas abenteuerliche Handel mit allerlei Produkten und Tauschwaren, die "mindestens unsere Reisekosten decken" sollten. Tatsächlich endete diese Reise mit einem grossen Defizit.schliessen Das Reisen ist schön und muß doppelt schön sein an der Westküste, oder am Ende in jedem andern Lande außer Brasilien, wo ich mich nie wohl fühlen werde!

Wie gesagt werde ich wohl den December, und somit die Festtage auf der Fazenda Bom Vallé bei Cantagallo zubringen; hoffentlich werde ich da auch wieder einmal Nachrichten von Euch treffen. Mit herzlichem Gruß:

J. Ch. Heußer.


Zurück zum Register