Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 7 – 6.8.1848
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7 6.8.1848
[Berlin, 6. August 1848]
Liebe Eltern!

Das Semester ist beinahe zu Ende; in wenigen Tagen werde ich die Reise nach Bremen etc. antreten, muß Euch aber doch vorher noch einige Nachrichten von Berlin aus geben, da ich nicht weiß, ob ich auf der Reise selbst zum Schreiben komme. Bremen wird also jedenfalls das Ziel meiner Reise sein; welchen Hin- und Rückweg ich aber einschlagen, und ob ich nach Elberfeld84Elberfeld, der Wohnort der Familie Röhrig, liegt im Wuppertal bei Barmen.schliessen kommen werde, weiß ich noch nicht; die Rheingegenden sind eben doch bedeutend abgelegen; da ich sie aber durchaus noch nicht kenne, ist es möglich, daß ich mich zunächst dahin wende und von Bremen über Hamburg nach Berlin zurückkehre. Auf dieser Reise werde ich auch Gelegenheit haben, die Stimmung in Norddeutschland überhaupt und besonders in Rheinpreußen in Betreff der Wahl des Erzherzogs Johann85Erzherzog Johann von Österreich (1782-1859) war vom ersten gewählten deutschen Parlament, der "Paulskirche" in Frankfurt, zum Reichsverweser gewählt worden.schliessen zum Reichsverweser zu vernehmen. Hoffentlich wird es damit nicht überall stehen wie hier in Berlin und Ostpreußen, wo die Wahl viel Unzufriedenheit erregt hat und zwar bei beiden Partheien, der königlichen und der Volksparthei. Der König hoffte nämlich selbst an die Spitze Deutschlands treten zu können, wurde aber nicht gewählt, weil er das Volk am 18t. März hatte zusammenschießen lassen; nun will er wieder Nichts von der Vereinigung Deutschlands wissen; von seinen eigenen Absichten hat man zwar in den hiesigen Blättern noch nichts gelesen, aber da die königliche Garde laut erklärt, sie werde dem Reichsverweser nicht huldigen, da der Adel und die ganze reaktionäre Parthei in ihren Blättern an das preußisches Nationalgefühl appellirt, an die Zeiten von Friedrich d. Großen und den Befreiungskrieg erinnert, die Östreicher lächerlich zu machen, und Preußen als das erste Volk nicht nur Deutschlands, sondern der Erde geltend zu machen sucht, da sie die schwarz-roth-goldnen Fahnen herunterreißen und statt denselben die schwarz und weißen86Die Farben Preussens; zu dem "Fahnenstreit" vgl. M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin II 2, S. 250f.schliessen wehen lassen, kurz auf alle Art der beabsichtigten Vereinigung Deutschlands entgegenarbeiten, — da alles dies von der königlichen Parthei ausgeht, so wird wohl der König [S.2] selbst einverstanden sein damit. Zugleich kann die Reaktion diese Gelegenheit für sich selbst benutzen, um wieder mehr Boden zu gewinnen; denn das preußische Volk hört es so gern, als das zürcherische, wenn man ihm sagt, es sei das auserwählte, und es hätte zu gerne sein Berlin als Hauptstadt des mächtigen einigen deutschen Reiches gesehen. So findet also der neue Reichsverweser Johann wenig Sympathien in Preußen, um so mehr, da, wie ich schon bemerkte, auch die hiesige Volksparthei gegen ihn ist, natürlich aber aus andern Gründen; sie sind nämlich darüber aufgebracht, daß zu den 36 schon vorhandenen gefürsteten Häuptern in Deutschland, nun noch ein 37tes. komme, während man einen Mann aus dem Volk an diese Stelle hatte wählen sollen. — Übrigens hat dies Ereigniß auch hier in Berlin selbst wieder Unruhe zur Folge gehabt; die demokratische Parthei nämlich, die doch lieber den Reichsverweser anerkennen, als den ganzen Plan der Vereinigung Deutschlands zu Wasser werden lassen will, hat angefangen die Schwarz und weißen Fahnen, wo sich solche zeigten, herunterzureißen und wieder durch die schwarz-roth-goldenen zu ersetzen; die Polizei wollte dies nicht dulden und so sind wieder jeden Abend seit etwa 8 Tagen Unruhen und Aufläufe, fast so wie vor dem 18t. März; in dem nahen Charlottenburg hat es bereits wieder eine bedeutende Prügelei und viele Wunden abgesetzt; es zogen nämlich eine Anzahl Studenten mit Schwarz-roth-goldnen Fahnen hin; dort wehten aus allen Häusern schwarz und weiße, und so kam es bald zu Thätlichkeiten; die Studenten behaupteten, es seien zuerst Steine auf sie geworfen worden.

So viel über die politischen Bewegungen; natürlich war den ganzen Sommer durch mehr oder weniger Unruhe und wird wohl auch im Winter noch fortdauern; ich ließ mich aber wenig stören dadurch, sondern studirte ruhig fort, und so wird es wohl auch im Winter gehen. — Was nun Deinen Plan betrifft, lieber Papa, daß ich in Zürich doktoriren soll, so kann mir dies allerdings auch angenehm sein; denn theils wird dies jedenfalls leichter gehen als in Berlin, theils wird es mich auch freuen, diese Zeit in Zürich statt in Berlin zuzubringen. Indeß möchte ich mir dann doch noch einen Rath von Ritter vorbehalten, an den ich nun [S.3] eine Empfehlung durch Fisch87Der Buchhändler und Buchdrucker Friedrich Fisch (*1817) war verheiratet mit Pfarrer Wilds Schwägerin Ida Hagenbuch. Sein Schwiegervater Johannes Hagenbuch (*1789) seinerseit Buchhändler und Buchdrucker, führte mit Adrian Ziegler (*1806) zusammen die Buchdruckerei Orell, Füssli u. Comp. Ziegler wiederum war ein Bekannter von Prof. Ritter in Berlin.schliessen erhalte, und der wohl großen Einfluß auf meine Zukunft haben wird, wenn er sich meiner annehmen will. — Die Familie Roose wird wahrscheinlich diesen Sommer nicht in die Schweiz kommen; so sagten sie mir wenigstens, als ich das letzte Mal bei ihnen war; es ist zwar ziemlich lange her; denn da Hr. Roose mir mehrere Mal ausdrücklich sagte, er sei Abends um 3 Uhr zu treffen, ich aber um diese Stunde Colleg hatte, so gieng ich lange nicht mehr hin, da ich zwei Mal zu einer andern Stunde nur Frau und Tochter traf. — Dagegen bekommt Ihr vielleicht ein Mal einen kurzen Besuch von einem stud. theol. Garonne88Alexis Garonne (1826-1881), von 1853 an Pfarrer in Aarau; wichtiger Reform-Theologe: HBLS III, 399.schliessen von Zurzach aus dem Canton Aargau; er war diese zwei Semester neben mir in Berlin und will nun die langen Ferien zu einer Schweizerreise benutzen; er beabsichtigt über Zürich nach dem Rigi zu gehen, und fragte mich ob er Euch Grüße bringen solle, was ich natürlich nicht verneinen konnte. — Aus dem hiesigen Universitätsleben interessirt vielleicht Hrn. Pfr. Wild, daß der Theologe Nitzsch89Carl Immanuel Nitzsch (1787-1868) wurde 1847 als Theologe nach Berlin berufen.schliessen für das folgende Jahr Rektor geworden ist. Schweizer Theologen studiren übrigens auffallend wenig hier; von Zürich ist seit den zwei Semestern ein einziger da, und zwar der bornirteste Kerl, den man sich denken kann. Auf nächstes Semester will wieder Einer herkommen, Kubler90Der aus Winterthur stammende Theologe und Dr. phil. Johann Jakob Kübler (1827-1899), später Pfarrer in Neftenbach und Schriftsteller. HLS 7, S. 472, und Zürcher Pfarrbuch, S. 395.schliessen von Winterthur, an den ich hier einen Brief beilege; ich wünsche nämlich, daß er mir einige Bücher mitbringe; er wird also zu dem Zwecke einmal auf den Graben91In das Haus von Frau Wichelhausen am oberen Hirschengraben.schliessen kommen, und da bitte ich Euch ihm von meinen hinterlassenen Büchern folgende zu geben: 1) Hirzels92Caspar Hirzel, Praktische französische Grammatik, war ein Standardwerk, das seit 1820 benützt wurde und 1844 in der 14. Auflage erschienen war.schliessen franz. Grammatik, 2) ein franz. Lexikon (Theodor hatte zwei solche) 3) das engl. Lexikon, die engl. Grammatik und das engl. Lesebuch von Hegner93Rudolf Hegner, The English reader, or a choice collection of miscellan. pieces, compiled by R.H., 1.A. 1843.schliessen (wenn Jemand die Grammatik und das Lesebuch brauchen sollte, so ist mir nicht viel daran gelegen, aber das Lexikon muß ich haben.) 4) Poissons Mechanique.94Siméon Denis Poisson, Traité de mécanique, 2 Bde., 1811 u. 1813.schliessen Sollte er nicht alle nehmen können, so gebt ihm der Reihe nach 1),2),3), so viel er nehmen kann. Und sollte er seinen Plan, nach Berlin zu kommen, ganz aufgegeben haben, so fragt doch Fisch, ob er die Bücher durch Buchhändlergelegenheit schicken könne, was doch weniger kosten würde; geht es nicht so schickt sie hieher durch die Achse,95Im 19. Jh. gebräuchlicher Ausdruck für "durch die Post".schliessen so bald als möglich. Wenn nämlich Kubler nicht nach Berlin kommen sollte, so wird er es Euch zu wissen thun, damit Ihr die [S.4] Bücher sogleich könnt abgehen lassen. Den Brief an Kubler braucht Ihr bloß in einen Briefeinwurf zu legen.

Herzliche Grüße an Alle von Eurem tr. Sohn: J. Chr. Heusser, stud.
Berlin den 6t. Aug. 48.

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