Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 6 – 18.6.1848
Eintrag drucken
6 18.6.1848
Berlin den 18t. Juni 48
Liebe Eltern!

Euern Brief vom 27t. Mai habe ich also richtig erhalten, und das Geld, wie Ihr bereits werdet erfahren haben, richtig mit vielem Danke bezogen. Ich wollte nicht sogleich antworten, weil die Pfingstferien nahe bevorstanden, an denen ich vorhatte eine Reise zu machen; daher wollte ich den Brief versparen bis nachher, um Euch von der Reise erzählen zu können. Nun ist aber doch Nichts aus der Reise geworden, indem meine Professoren dies Jahr ausnahmsweise keine Ferien machten; weil das Semester, durch die politischen Unruhen sonst vielfach gestört, auch gar zu klein geworden wäre, wenn noch Pfingstferien hinzugekommen wären. Ich bin daher bis jetzt noch nicht weiter von Berlin weggekommen, werde nun aber in den Herbstferien eine größere Reise machen und zwar zunächst nach Bremen und dann auf die Insel Rügen, wohin ich in diesen Pfingstferien hätte reisen wollen; möglich ist es aber, daß ich auch im Herbst nicht nach Rügen komme, wenn nämlich der Krieg zwischen Preußen und Dänemark75Im Krieg, der im Frühjahr 1848 zwischen Preussen und Dänemark ausgebrochen war, ging es um den Besitz von Schleswig-Holstein.schliessen nicht vorher ein Ende nimmt, so werden wohl keine preußischen Schiffe nach Rügen fahren, da sie von den Dänen, die eine Flotte haben, genommen werden. Wenn ich nicht nach Rügen werde gelangen können, so werde ich dann meinen Weg nach Süden wenden in die Rheingegenden, und da die Familie Röhrig76Anna Barbara Schlatter (1795-1842) war verheiratet gewesen mit dem Kaufmann Friedrich Wilhelm Röhrig (1790-1842). Die Familie hatte in Barmen/Wuppertal gelebt. Vgl. J. Ninck, Anna Schlatter und ihre Kinder, 2. Aufl. Leipzig 1935, S. 202, und R. Schindler, Memorabilien, Stammbaum der Familie Schlatter-Bernet.schliessen oder deren Überreste (so viel ich weiß, existirt weder Vater noch Mutter mehr?) aufsuchen, wozu ich mir übrigens einen Brief ausbitte; denn von Gustav Röhrig kann ich keine Grüße und Empfehlungen bringen, da ich ihn seit Ostern nicht mehr gesehen habe; er hat nämlich den Krieg in Dänemark mitmachen müssen; und ich habe noch Nichts von ihm vernehmen können, da sein Vetter Zahn dies Semester in seiner Heimath zubringt.

In Berlin ists immer noch nicht ruhig; besonders letzte Woche war wieder ein großer Sturm; die Arbeiter sammelten sich jeden Abend und zogen in drohenden Haufen durch die Stadt; Mittwochs den 14t. verlangten sie, massenhaft vor dem Zeughause erscheinend, daß dasselbe vom [S.2] Militär verlassen, und daß auch ihnen, wie seit dem 18t. März, den Bürgern, Waffen ausgetheilt werden; das Militär befand sich innerhalb des Zeughauses, und ringsherum war bewaffnete Bürgerwehr; Einzelne von den letztern feuerten los, und es fielen gleich drei Arbeiter nieder. Einer todt und zwei verwundet. Natürlich zankt man sich wieder herum; von wem und ob überhaupt Befehl zum Schießen gegeben worden sei. Die Arbeiter wurden aber wüthend darob, zerstreuten sich zwar für den Augenblick, aber nur um mit Stöcken oder irgendwie bewaffnet wieder zu kommen und die Bürger anzugreifen; diese fanden es aber nicht rathsam die Arbeiter abzuwarten, sondern zogen sich vom Zeughaus weg, und als die Arbeiter wieder kamen, konnten sie dasselbe ohne Widerstand einnehmen; denn das wenige Militär, das sich drin befand, vertheidigte es nicht, sondern hatte sich in den obersten Stock zurückgezogen und die Treppe unter sich abgebrochen, um nicht angegriffen werden zu können. Das war nun wirklich ein famoses Schauspiel, wie diese Proletarier das Zeughaus plünderten, dem ich mit viel Vergnügen zusah; zunächst wurden die Scheiben fast alle eingeschmissen, überhaupt wurde mir ziemlich klar, daß sie mehr durch Zerstörung ihrer Rache Luft zu machen, als durch Plündrung sich zu bereichern suchten. Die Gewehre wurden zwar sämtlich herausgenommen, aber meist von 14-16jährigen Buben; Kugeln wurden massenhaft von Einzelnen weggetragen, oder auch nur zu den Fenstern hinausgeworfen; um die schweren Bleistücke herauszuschaffen, strengten sie sich mehr an, als jemals bei ihrer Arbeit; doch wie sie noch an der besten Arbeit waren, kamen unvermuthet nach etwa 3 Stunden mehrere tausend Mann Bürgerwehr und Militär an; die Bürger hatten nämlich unterdessen das Militär, das in der letzten Zeit ausserhalb der Thore gelegen war, hereinkommen lassen, und die Arbeiter konnten in ihren ungeordneten Massen auch keinen Widerstand leisten, sondern stoben aus einander, wenige Häupter wurden verhaftet; wenn sie aber strenge bestraft werden, so bin ich überzeugt, werden ihre Brüder sie befreien wollen, und die Geschichte geht wieder von vorne an. Sie gelangen je länger je mehr zur Einsicht ihrer physischen Kraft, und wollen dies nun um so mehr geltend machen, da sie bis zum 8t. März [S.3] eine vollkommene Null gewesen waren. So griffen sie vor einigen Tagen auch zwei Mitglieder der Landtagsversammlung, Anhänger des alten Systems: Minister Arnim77Heinrich Friedrich Graf von Arnim (1791-1859) war preussischer Aussenminister.schliessen und Prediger Sidow,78Karl Leopold Adolf Sydow (1800-1882) war Hofprediger in Potsdam. Weil er für Bekenntnisfreiheit eintrat, geriet er 1846 in Gegensatz zum König Friedrich Wilhelm IV. Er übernahm 1848 eine Pfarrstelle an der Neuen Kirche in Berlin. DBE 9, S. 643.schliessen als diese aus der Versammlung der Landstände kamen, ungenirt an; ließen sie dann aber los, als sich Studenten in die Sache mischten (es war in der Nähe der Universität); denn den Studenten gehorchen sie wirklich beinahe aufs Wort.79Zu diesen Tumulten und der Rolle der Studenten, die von Arnim und Sydow vor der Menge in Schutz nahmen, vgl. M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin II 2, S. 246-248.schliessen

Vor einigen Wochen (Mitte Mai) hatte ich einen Besuch von einem Zürcher, der mich wirklich freute; es war ein Herr Frei80Im Verzeichnis der Niedergelassenen in der Stadt Zürich auf das Jahr 1855 ist ein Johannes Frey von Aussersihl (*1818), Holzhändler und Sägemüller angeführt, auf den die Angaben im Brief zutreffen könnten.schliessen von Aussersihl, der im letzten Krieg bei Euch einquartirt war; wenn er auch mit Freuden den Feldzug mitmachte, so scheint er doch ein guter Kerl zu sein, von dem gewiß der unterlegene Feind wenig zu dulden hatte; er erinnerte mich einigermaßen an den verstorbenen Kantonsrath Pfister; er kam auf einer Handlungsreise aus Jütland, und blieb einige Tage hier in Berlin, wo er bald mit den übrigen Schweizern bekannt wurde und jeden Mittag und Abend bei uns war. Von da reiste er nach Sachsen, wußte aber noch nicht wann er wieder nach Zürich zurückkehren werde. — Wir Schweizer stehen sehr gut zusammen, wie Ihr vielleicht auch von diesem Hr. Frei vernehmen werdet; von Politisiren ist keine Rede, was uns allenfalls etwas entzweien könnte; es sind Theologen und Juristen aus den Kantonen Bern, Basel, Solothurn, Schaffhausen, Aargau und Neuenburg; des Abends spaziren wir im Thiergarten, der aber auch uns Allen langweilig vorkommt verglichen mit der langweiligsten Schweizergegend. Etwas freundlicher sind die Ufer des Tegelsees, 3 Stunden von Berlin entfernt, die ich am Pfingstmontag besuchte, doch auch nicht werth, daß man oft hingeht.

Von meinen Studien will ich Euch weiter Nichts erzählen, da ich denke, daß dies bei Dir, lieber Papa, trübe Gedanken wecken würde; indeß kann ich Euch versichern, daß ich meine Zeit benutze, so gut es mir möglich ist, und damit hoffe auch Eure Erwartungen realisiren zu können.

Nun lebt wohl! Grüßt mir herzlich alle Bekannten und seid selbst gegrüßt von
Eur. tr. Sohn: J. Chr. Heußer.
Berlin den [..]81Das Datum des Tages ist offen gelassen.schliessen Juni 48.

vorheriger nächster