Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 14 – 13.5.1849
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14 13.5.1849
[Berlin, 13. Mai 1849]
Liebe Eltern!

Euern Brief vom 22t. April, nebst Deinem Einschluß, lieber Papa, an Hr. Rose habe ich richtig erhalten; derselbe ist auch an seine Addresse gelangt und von Hr. Rose sehr freundlich aufgenommen worden; er kam gerade noch zur rechten Zeit, denn in wenigen Tagen wird Hr. Rose verreisen, jedoch nicht direkt nach der Schweiz, sondern will zunächst nach Kiel und dem dänischen Kriegsschauplatz, von da nach London und über Paris zurück nach Kölln und dann den Rhein hinauf der Schweiz zu. Natürlich wird seine Frau ihn den ganzen Weg begleiten und etwa Mitte oder gegen Ende Juni werden sie in Zürich und bald darauf dann wohl auch einmal bei Euch erscheinen! Ich war in letzter Zeit noch ziemlich oft bei ihnen, wie immer freundlich aufgenommen, und mich dabei ganz wohl fühlend.

Während der letzten Frühlingsferien machte ich einmal einen Ausflug für einige Tage nach Dresden; ich wählte dazu die Ostertage, wo die Witterung sehr günstig war. Dresden mit seinen lieblichen Umgebungen gefiel mir ausgezeichnet wohl. Die Elbe ist hier schon ein gewaltiger Strom, und überdies schienen mir auch die Hügel, da ich von der ganz ebenen Mark Brandenburg her kam, nicht so winzig klein. Die Natur war allerdings so ziemlich mein einziger, aber vollkommen befriedigender Genuß in Dresden; denn alle Sammlungen, wie Gemäldegallerie, Antikencabinet, Rüstkammer etc. sind erst im Sommer unentgeldlich geöffnet vom Monat Mai an, auf den Sommer konnte ich aber diese Reise nicht verschieben, da ich nun auch noch die Insel Rügen sehen will, die selbst aber nur im Sommer bereist werden kann. An der Gemäldegallerie war mir aber nicht viel gelegen, da die in Berlin der in Dresden wohl nicht viel nachstehen wird; ich besah mir daher bloß das grüne Gewölbe, da in Berlin nicht etwas Ähnliches zu sehen ist. Es ist dies eine Sammlung von ausgezeichnet feinen und kunstreichen Schnitzwerken aus Elfenbein und edeln Metallen, von den schönsten Edelsteinen und Kristallen, die sich wirklich nicht beschreiben lassen; es ist auch Alles rein [S.2] nur für das Auge da, ohne irgendwelchen Nutzen, obgleich ein Werth von vielen Millionen darin steckt; daß viele ausgezeichnet schöne und werthvolle Sachen dabei sind, läßt sich denken, da Alle Geschenke sind, die seit Jahrhunderten von Herzogen, Königen und Kaisern den Königen von Sachsen gemacht wurden. — Das Theater besuchte ich auch einmal, fand aber, daß dasselbe weit hinter dem Berlinertheater zurücksteht; eine Oper wurde während meines Aufenthalts in Dresden nicht gegeben, dagegen hatte ich Gelegenheit, das ganze Opernpersonal in einem Passionsoratorium am Charfreitag zu hören. — Eine sehr angenehme Überraschung war mir bei meinen einsamen Wanderungen in und um Dresden ein natürlich ganz unerwarteter Besuch von jenem Hr. Frei von Außersihl bei Zürich, der im Sonderbundskrieg bei Euch einquartirt war, und mich vor einem Jahre schon einmal in Berlin besucht hatte. Er hält sich noch immer in Geschäften für sein Haus in Sachsen auf und suchte mich sogleich, da er meinen Namen im Fremdenblatt gelesen hatte; wir machten dann zusammen einen Spaziergang ins sogenannte Waldschlösschen, eine Bierbrauerei eine halbe Stunde von Dresden entfernt, mit wunderschöner Aussicht auf die Elbe, die Stadt und die Berge der sächsischen Schweiz. — Diese zogen mich nun nach Zürich hin; wenn es auch noch früh im Jahr war, so konnte ich doch das Charakteristische dieser sogenannten Schweiz, ihre eigenthümliche Felsbildung eben so gut wie in den Sommermonaten sehen. Man kann zwar auf der Elbe per Dampfschiff hinauf fahren, ich zog es aber vor, zu Fuß zu gehen; man kann auch die ganze sächsische Schweiz bequem zu Fuß in 2-3 Tagen durchwandern, denn alle Entfernungen und Höhen sind so gering; und irgendeinen Weg, den die Sachsen 2 Stunden lang nennen, gieng ich in der Regel in Einer. So kam ich auch schon in einem Nachmittag von Dresden aus über Pillnitz und den Borsberg, der eine große Fernsicht über die nördliche Ebene darbietet, den Liebethaler- und Ottowalder-Grund nach der Bastei. Von diesen beiden Gründen habe ich weiter Nichts zu sagen, obgleich sie in allen Reisebüchern herausgestrichen sind; einem Schweizer können sie jedenfalls nicht großartig vorkommen; die Bastei dagegen überraschte mich wirklich. Ihre absolute Höhe über Meer ist zwar nicht bedeutend, aber die relative Höhe dieser Felsmaßen über der Elbe (600') kommt beinahe der Höhe der Felswand in Pfäffers gleich. — Auch erheben sich diese Felsen ebenso steil, fast vertikal, zeigen aber im [S.3] Ganzen eine total andere Bildung. Es erhebt sich nämlich nicht eine einzige Felswand, sondern einzeln verschiedene, zerrissene Felsmassen, thurm- und kegelförmig; alles Sandsteine, so daß das Ganze einen fremden, aber günstigen und imposanten Eindruck auf mich machte. Am folgenden Tag stieg ich auf den Lilienstein, einen ähnlichen aber höhern Felskegel, dem Königstein gerade gegenüber; letzterer ist zwar der Festung wegen berühmter, aber etwas niedriger, so daß die Aussicht vom Lilienstein viel ausgebreiteter ist. — Vom Lilienstein ging es wieder hinunter an die Elbe und dann auf den großen Winterberg, der so ziemlich in der Mitte aller dieser Felsparthien liegt und eine weite Aussicht nach den böhmischen Gebirgen darbietet. Hier wurde ich aber eingeschneit und stieg deshalb bald wieder an die Elbe hinunter nach Hernischkretschen in Böhmen, um noch denselben Tag mit dem Dampfschiff nach Dresden zurückzukommen. Ich hatte somit von der ganzen sächsschen Schweiz einen einzigen bekannten Punkt nicht gesehen, den sog. Kuhstall, wo zwar die Felsen am großartigsten sein sollen; indeß kann ich mir auch diese Parthie leicht vorstellen, da eben überall die ganz gleiche Felsenformation sich zeigt und alle diese einzelnen Punkte nur Wiederholungen ein und derselben Bildung sind. — In Dresden hielt ich mich dann nicht wieder auf, sondern reiste über Leipzig und Halle nach Berlin zurück. —

In Berlin fand ich dann endlich einmal die längst erwartete Empfehlung an Ritter, die mir Fisch verschafft hatte. Ich überbrachte sie nun natürlich bald an Ritter, der mich sehr freundlich aufnahm und mit viel Interesse nach Hr. Ziegler157Adrian Ziegler (*1806) führte mit Fischs Schwiegervater Johannes Hagenbuch (1789-1863) zusammen die Buchhandlung und Buchdruckerei Orell, Füssli u. Comp.schliessen erkundigte, der mir die Empfehlung geschickt hatte, worüber ich ihm aber leider Nichts antworten konnte. Übrigens versprach er mir in Allem seine Hülfe und seinen Rath, den ich nun jedenfalls benutzen werde. Ich habe nun ein Colleg bei ihm angenommen, Geographie Europas, das sehr interessant ist, da Ritter dieselbe natürlich nicht in politischer, sondern in rein physikalischer, mineralogischer, geognostischer und ethnographischer Hinsicht behandelt. Da ich nun im Sinne habe in den Pfingstferien mit einigen Schweizern nach der Insel Rügen zu gehen, so werde ich dann vorher noch einmal zu Ritter gehen und ihn darüber befragen, auf welche geognostischen Erscheinungen man auf der Insel Rügen besonders zu achten habe, etc. — Natürlich kann ich bis jetzt noch von keinem reellen Gewinn, der aus jener Empfehlung entsprungen wäre, sprechen, indeß hoffe ich aber durch Ritters Unterstützung und Förderung zur Realisirung meiner Zwecke zu gelangen.

[S.4] Auf das Sommersemester sind sehr viele neue Schweizer in Berlin angekommen, von denen ich mich aber keinem mehr anschließe, mit Ausnahme eines einzigen, dessen Heimath der meinigen auch sehr nahe ist. Es ist dies ein Frick158Hans Rudolf Frick (1829-1851) wurde Prof. für Mineralogie, starb sehr früh an einer Gasvergiftung im Bergbau: vgl. Matrikeled. der Universität Zürich 1833-1924.schliessen von Hausen am Albis, der auch Naturwissenschaften studirt, aber mehr in praktischer Beziehung in Verbindung mit Chemie und Technologie. Ich kannte ihn schon in Zürich ein wenig, aber nicht näher, da er die Industrieschule durchmachte, ich dagegen das Gymnasium.

Hier in Berlin ist nun wieder Alles ruhig, denn davon, daß bei einem Auflauf nach der Auflösung der Kammern etwa 10 Proletarier erschossen wurden, spricht kein Mensch mehr. So was erscheint eben in der gegenwärtigen Zeit als Kleinigkeit. In Dresden, wo während meines Aufenthalts daselbst noch Alles ganz ruhig war, ist es also in den letzten Zeiten auch einmal losgegangen, das Volk aber vom Militär total besiegt worden, jedoch erst nach hartnäckigem Kampfe. Darüber habt Ihr übrigens in der Schweiz gerade so sichere Nachrichten als wir in Berlin, denn hier waren eine Zeitlang die abenteuerlichsten Gerüchte im Umlaufe vom Brande der Stadt, dann wieder vom Siege des Volkes u.s.w.

Während meiner Reise nach Sachsen verließ ich mein Logis, und zog, da es nachher besetzt war, nach der Marienstrasse No Ic, zu Mad. Ranft. Ich habe hier ein freundliches Zimmer mit Aussicht auf einige Gärten, deren Bäume schon seit 8 Tagen in voller Blüthe stehen und mich bisweilen an diese schöne Zeit am Zürchersee erinnern; wenn ich mich dann aber an das ganze neue Machwerk der Schweiz159Die neue Bundesverfassung von 1848.schliessen und an die erbärmliche Stellung Zürichs erinnere, so bin ich froh, daß ich 200 Meilen davon entfernt bin!

Grüßet mir Alle vielmal, im Pfarrhaus, den übrigen bekannten Häusern und in Zürich, und seid selbst herzlich gegrüßt von

Eur. tr. Sohn: J. Chr. Heusser, stud. phil.
Berlin den 13t. Mai 1849

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