Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 11 – 7.1.1849
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11 7.1.1849
[Berlin, 7. Januar 1849]
Liebe Eltern!

Wenn auch diese Zeilen nicht mehr in den Tagen zu Euch gelangen, in denen man Betrachtungen über die Erlebnisse des verflossenen Jahres anzustellen und Glückwünsche für das neue Jahr darzubringen pflegt, so haben sie doch für mich, als der erste Brief dieses Jahres dieselbe Bedeutung; und da von dem Tage des Wunsches die Erfüllung desselben nicht abhängig sein wird, so nehmt auch jetzt noch Alle meine besten Wünsche zum neuen Jahr; auf viel Worte kommt es nicht an; ernst ist es mir, und was so ein Neujahrswunsch zu bedeuten hat, fühlt man eigentlich erst in der Ferne.

Die zweite Weihnachts- und Neujahrszeit, die ich außerhalb der Heimath erlebte, habe ich nun, wie ich im letzten Brief erwähnte, im Kreise einer norddeutschen Familie zugebracht, und mich in derselben, so gut es möglich war, heimisch gefühlt. Es ist eine sehr nette, wohlhabende oder vielmehr reiche Kaufmannsfamilie, die mich sehr liebevoll aufnahm und mir im höchsten Grade das Schöne der deutschen Gastfreundschaft zeigte. Ich blieb auch länger in Magdeburg, als ich mir vorgenommen hatte, nämlich die ganzen Ferien hindurch vom Freitag vor Weihnachten bis Mittwoch nach Neujahr. Von großen Gesellschaften war zwar keine Rede, sondern jeden Abend saß eben die Familie, d.h. Vater, Mutter, Tante, Großtante, Sohn und zwei Töchter beisammen, und ich fühlte mich wohl dabei, da ich wie ein Sohn behandelt wurde, was mich eigentlich manchmal in Verlegenheit brachte, so z.B. am Weihnachtsfest, als ich, wie die andern beschenkt wurde, mit einer famos schönen Mappe, und Jeremias Gotthilfs "Uli der Pächter", nach welchem ich dummer Weise in Berlin einmal vor dem jungen Wolff meine Begierde ausgesprochen hatte. Überdies gab es eine Menge Fressalien, kurz die ganze Geschichte erinnerte mich lebhaft an die frühern Weihnachtsfeste im Hirzel; und auch an das diesjährige, von dem ich nun freilich nicht wußte, wie Ihr es feiern würdet, [S.2] und wer oder ob überhaupt noch Jemand Fremder bei Euch sein würde, wie ehedem Pfister und Gattiker — Von Magdeburg selbst, dem Dom und seinen Merkwürdigkeiten, habe ich schon in einem frühern Brief nach meinem ersten Besuch im Herbst geschrieben, weswegen ich dies jetzt übergehen kann. Dagegen kam ich diesmal etwas weiter in der Umgegend von Magdeburg herum, in den Dörfern einige Meilen weit ringsherum, wo ich meine Freude daran hatte, die Bauern über ihre politischen Zustände sprechen zu hören; man findet hier so verworrenes Zeug, daß ich, obgleich ich kein Freund davon bin unser Volk mehr als es verdient zu erheben, dennoch sagen muß, auch wenn ich dabei an die abgelegensten Nester, an die "Clus" und ans "Loch" und an "Ägeri" und ans "Muothathal" denke, daß unser Volk einen gewissen Takt, eine gewisse Reife besitzt (ohne "hoch und hehr" zu sein) die dem preußischen Volke abgeht. Ich bin dabei unpartheiisch, indem ich auf der andern Seite ja gerne und mit Bewunderung anerkenne, was die Wissenschaft leistet in der Hauptstadt Preußens. — Auf der Festung in Magdeburg werden ungeheure Rüstungen gemacht, auf den Glacis rings um die Stadt Holz abgeschlagen, um im Fall einer Belagerung von der Festung hinaus schießen zu können; kurz man sieht aus diesen und ähnlichen Anstalten so ziemlich, daß man in den höhern Regionen auf das Frühjahr Krieg mit Frankreich erwartet. Jedenfalls werden die Franzosen die Preußen gerüstet finden und nicht so überrumpeln können, wie unter Napoleon. — Von Berlin selbst weiß ich diesmal keine Neuigkeiten aus der politischen Welt mitzutheilen; seit dem Belagerungszustand ist jetzt Alles ruhig und Alle, die im Sommer sich durch Reden oder sonst wie auf der Volksparthei hervorgethan hatten, werden nun ungestört verhaftet. — Daß der König, nachdem er die Nationalversammlung aufgelöst, dem Volk selbst eine Verfassung gegeben hat, habt Ihr wohl in der Eidg. Zeitg gelesen; ich erwähne es hier nur deswegen, weil Prof. Keller133Der brillante Jurist Friedrich Ludwig Keller (1799-1860) war seit der Gründung der Universität Professor in Zürich; er war mit der Ausarbeitung eines Zürcher Zivilgesetzbuches beauftragt. Als liberaler Politiker wurde er 1839 beim konservativen Umschwung ("Straussenhandel") zum Weggang genötigt. Er war ein entschiedener Verfechter der Berufung des umstrittenen Theologen David Friedrich Strauss gewesen. Keller wurde Prof. für römisches Recht erst in Halle, dann 1848 in Berlin, wo er als Berater von König Friedrich Wilhelm IV. für die neue Verfassung beigezogen wurde und nun eine konservative Politik vertrat. M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin II 2, S. 129-132, und HLS 7, S. 160f.schliessen daran gearbeitet hat, was nun seinen liberalen Freunden in Berlin, besonders auch den Schweizern die Augen geöffnet und den falschen Kerl ins rechte Licht gesetzt hat.

Jetzt will ich zu etwas anderem übergehen, das mich mehr interessirt und mir mehr Freude macht, als die politischen Geschichten, nämlich zu der Familie Roose. Einige Tage vor Weih[S.3]nachten suchte Hr. Roose selbst mich in meinem Logis auf und brachte mir Eure Geschenke, für die ich bestens danke; ich war aber leider gerade im Colleg und zwei Tage nachher verreiste ich nach Magdeburg, so daß ich erst in diesem Jahr in ihr Haus kam und die Grüße und Nachrichten von ihrem Aufenthalt in Hirzel und Ägeri etc. erhielt. Natürlich waren Hr. und Frau Roose ungeheuer freundlich, sprachen mit großer Freude vom Hirzel von Euch Allen und Hr. Pfr. Wilds, luden mich ein, sie recht oft zu besuchen, was ich nun auch thun werde; in der That fühle ich mich nun viel mehr zu Hause bei ihnen und bin Euch daher sehr dankbar für die freundliche Aufnahme und die Fahrt nach Ägeri; indeß möchte ich aber durchaus nicht sagen, daß Hr. Rooses erst in Folge dieses Aufenthalts in Hirzel gegen mich so freundlich und familiär geworden seien; sie waren es schon vor einem Jahr und die Schuld, daß ich mich bei ihnen nicht behaglich und zu Hause fühlte, lag an mir. Sehr angenehm ist mir übrigens auch, daß ich, wenn ich etwa in eine Gesellschaft eingeladen werden sollte, jetzt nicht mehr der einzige Schweizer sein werde; es ist nämlich dies Semester auch ein Oeler, stud. jur. von Aarau hier (er wohnt in demselben Hause mit mir), der oft zu Hr. Roose geht, indem sein Vater ein Studienfreund ist von den drei Brüdern Roose. — Ich werde nun wahrscheinlich nächstens durch Hr. Roose in die hier existirende geographische Gesellschaft eingeführt werden; Näheres kann ich aber jetzt darüber noch Nichts schreiben, indem ich bei meinem letzten Besuch, da noch andere Herren dort waren, darüber nicht mit Hr. Roose sprechen konnte; ich werde nun nächster Tage zu einer Zeit hingehen, wo ich ihn allein treffen werde; und nächsten Sonntag muß ich hin zum Mittagessen. Seit Weihnachten haben wir hier tüchtig kalt, des Morgens in der Regel -15° Réaumur oder noch kälter, und seit einigen Tagen ist famoser Schlittweg; doch sieht man keine so ausgezeichnet schönen Schlitten mehr, wie vor einem Jahr, woraus man wohl schließen darf, daß die Reichen, wohl aus Furcht vor Unruhen, noch nicht nach Berlin zurückgekehrt sind. Auch der König ist noch immer nicht in Berlin sondern abwechselnd in Potsdam und Charlottenburg. —

[S.4] Da ich im September so freundlich in Bremen aufgenommen worden bin, so dachte ich, ich müsse doch noch einmal dahin schreiben; ich habe daher die Gelegenheit benutzt und auf Neujahr einen schönen Brief dahin abgehen lassen. Da die Cholera nun gänzlich von Berlin verschwunden ist, darf ich auch einmal darüber schreiben und zwar, daß sie eigentlich gar nie gefährlich gewesen ist; früher wollte ich Euch nicht darüber schreiben, um Niemanden unnütz in Angst zu setzen; kein einziger Schweizer verließ deshalb Berlin nur eine Stunde, ja sie war so unbedeutend, daß wir seit dem October gar nicht mehr darüber sprachen, während wir im August, als man fürchtete, sie werde gefährlicher werden, etwelche Besorgniß hatten. Es sind auch in Berlin niemals irgend welche Anstalten gegen die Cholera getroffen worden. — Der Belagerungszustand dauert zwar dem Namen nach immer noch fort, faktisch aber fühlt man rein Nichts mehr davon; er soll nun aber auch dem Namen nach nächstens aufgehoben werden.

Grüßet mir Alle im Hause; (die zurückgekehrte (?) Äga), Tante Wichelhausen, Hr. Pfr. Wilds und seid selbst herzlich gegrüßt von
Eur. tr. Sohn: J. Chr. Heusser, stud. phil.
Berlin den 7t. Jan. 1848134Verschrieb für "1849".schliessen

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