Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 10 – 17.11.1848
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10 17.11.1848
[Berlin, 17. November 1848]
Liebe Eltern!

Bereits waren die Collegien wieder in ihrem ordentlichen Gang und kein Mensch dachte daran, daß die politischen Ereignisse dies Semester wieder störend einwirken würden, als plötzlich die Ereignisse in Wien auch Berlin wieder in Allarm versetzten; und da die beiden Zürcherzeitungen nur spärliche und unsichere Nachrichten über Berlin bringen, so will ich Euch einiges Nähere darüber mittheilen:125Wie zuvor während der März-Revolution fasst Heusser die sich überstürzenden Ereignisse im Oktober und November 1848 übersichtlich und korrekt zusammen: vgl. M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin II 2, S. 254-256.schliessen Gegen Ende Oktober wurden einige Mitglieder der Nationalversammlung, die zur Rechten gehörten, beim Heimgehen aus der Sitzung von zusammengelaufenen Haufen wiederholt insultirt, und am 31t. Okt. kam es so weit, daß eine Horde Proletarier mit Stricken vor das Sitzungslokal der Nationalversammlung zog in der besten Absicht, die Mitglieder der Rechten aufzuhängen. Doch bald hatte die Bürgerwehr, welche seit dem 18t. März überall den Dienst des Militärs übernommen hat, die verrückten Kerls zur Ruhe gebracht und zwar meist nur durch besänftigende Worte. Die Mitglieder der Rechten wurden dann von Bürgerwehrabtheilungen nach Hause begleitet, keinem wurde ein Haar gekrümmt, wenn auch vielleicht noch einige etwas beschimpft. In den ersten Tagen des October geschah nun gar Nichts, und erst als der Kampf in Wien entschieden war, entwickelte auch der König von Preußen seine Thätigkeit und zwar bis jetzt mit dem besten Erfolg. Zunächst Freitags den 10t. November ließ er 25000 Mann in die Stadt einrücken, unter dem Vorwand, die Bürgerwehr sei zu schwach die Nationalversammlung zu schützen, das Militär müsse diesen Dienst übernehmen. In Berlin war man über dies plötzliche und unerwartete Einrücken des Militärs sehr entrüstet, und hätte sich demselben vielleicht mit Gewalt entgegengesetzt, wenn man noch Zeit gehabt hätte vor dem Einrücken desselben Barrikaden zu bauen. [S.2] Sodann verlangte der neu erwählte Ministerpräsident Brandenburg126Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg (1792-1850) wurde am 1. November 1848 zum Ministerpräsidenten ernannt, was eine deutliche Verhärtung der Fronten bedeutete.schliessen im Namen des Königs daß die Nationalversammlung sich auflösen und erst nach 14 Tagen sich wieder versammeln solle und zwar in Brandenburg, nicht mehr in Berlin. Die Nationalversammlung beschloß sogleich dem Gebote des Königs nicht Folge zu leisten, die Sitzung nicht aufzuheben, sondern in Berlin selbst fortzusetzen, worauf dann General Wrangel127Friedrich Graf von Wrangel (1784-1877) war im September 1848 zum Oberbefehlshaber der preussischen Armee ernannt worden.schliessen die Stadt in Belagerungszustand erklärte. Die Bürgerschaft von Berlin war in ihrer großen Mehrheit, und das Proletariat natürlich ohne Ausnahme für die Nationalversammlung und nun erwartete man allgemein einen Ausbruch des Kampfs. Indeß, da das Militär einmal in der Stadt war, war es nicht mehr so leicht sich zu erheben, und man wollte noch warten, bis die Provinzen zur Hilfe herbei rücken könnten. Aber General Wrangel machte den Berlinern bald allen Widerstand unmöglich, indem er Montag den 13t.. Standrecht ausrufen (wer mit einer Waffe getroffen würde, solle erschossen werden) und sämtliche Bürgerwehrmänner auffordern ließ, ihre Waffen abzugeben. Dies thaten sie zwar nicht selbst, aber seit Dienstag den 14t. durchzieht nun das Militär alle Gassen Berlins und holt sich die Waffen selbst aus den Häusern herunter, so daß jetzt die Berliner so unbewaffnet der Militärgewalt Preis gegeben sind, wie vor dem 18t. März. — Die Nationalversammlung hält immer noch in verschiedenen Lokalen ihre Sitzungen, wird aber täglich vom Militär aufgespürt und auseinandergetrieben. Die einzige Hoffnung derselben ist, was man schon lange vergebens erwartete, daß die Provinzen am Ende doch noch aufstehen werden. In Berlin selbst aber glaube ich, kann und wird es nicht mehr zum Kampfe kommen. Was nun den Belagerungszustand und das Standrecht anbetrifft, so klingen die Worte etwas Achtung gebietend und so in der Ferne vielleicht etwas beängstigend; aber so gefährlich ist es auch nicht; die Hauptbestimmung, daß nicht mehr als 20 Personen beisammen stehen dürfen, wird vom Militär nicht gehandhabt; in den ersten Tagen des Belagerungszustands befahlen zwar die Offiziere einige Mal zu schießen, was aber die Soldaten verweigerten; und es scheint auch nicht mit [S.3] Strenge gegen diese Soldaten eingeschritten worden zu sein, um nicht einen Aufstand unter dem Militär selbst hervorzurufen. — Was den Einfluß des Belagerungszustands auf meine Studien betrifft, so genirt er mich nicht im geringsten und würde mich nicht stören, wenn er den ganzen Winter hindurch dauern würde. Was ich fürchtete war einzig, daß die Universität geschlossen würde, wovon man allgemein sprach, da die Studenten eben wieder großen Antheil nahmen an der ganzen Bewegung, und was um so eher zu befürchten war, da die königliche Bauschule wirklich das Loos traf. Da übrigens bis jetzt die Universität nicht geschlossen wurde, so wird es wohl auch nicht mehr geschehen, da ja in Berlin selbst nun kaum mehr ein Ausbruch zu erwarten ist. — Seit Anfang October ist auch ein lieber alter Bekannter von mir hier in Berlin, zwar nicht ein Student, sondern Conditor, nämlich Steinfels von Zürich, der mit mir das ganze Gymnasium durchgemacht hat, dann aber aus verschiedenen Gründen nicht fortstudiren [konnte]128Siegelausriss.schliessen: er ist in derjenigen Conditorei angestellt, wo die eidgenössische Zeitung geh[alten] wird, [die ich da]her wöchentlich ein- oder zwei Mal besuche; er selbst hat nur alle 14 T[age einen Sonn]tag-Nachmittag frei. — Seid ich das letzte Mal geschrieben habe, wird d[ie Familie] Roose nach Zürich gekommen sein und vielleicht auch Euch einen Besuch gemacht haben;129In Meta Heussers Memorabilien der Zeit ist ein Besuch Roses vom 26. bis 28. Oktober 1848 vermerkt.schliessen ebenso soll Gelzer in den Ferien am Zürichsee gewesen sein; ich bin aber froh, wenn er Nichts von Theodor gehört und gesehen hat, denn, wenn dies nicht der Fall ist, so werde ich nicht mehr zu ihm gehen; ich will lieber die Familie Roose noch von Zeit zu Zeit besuchen; für beide habe ich weder Zeit noch Lust.

Die schon nahe bevorstehenden Weihnachtsferien werde ich wahrscheinlich in Magdeburg zubringen, wohin ich von Zschokkes Vetter,130Der mehrfach erwähnte Mitstudent Wolff von Magedeburg.schliessen der hier Naturwissenschaften studirt, eingeladen bin; da ich dieselbe Einladung vor einem Jahr abgeschlagen habe, so werde ich sie wohl dies Jahr annehmen müssen, ich weiß es zwar noch nicht sicher, aber wahrscheinlich werde ich Euch im nächsten Brief von einer in Magdeburg verlebten Weihnachten erzählen; bis dahin lebt wohl und seid herzlich gegrüßt von

Eur. tr. Sohn J. Chr. Heusser, stud. phil.
Berlin den 17t. November 48.

[S.4] NB. Meine Wirthin hat ihre andern Zimmer nicht vermiethen können und muß daher die Wohnung aufgeben; ich werde vom 1t. Decbr. an wohnen: Dorotheenstrasse No 75 bei Hr. Voigt, wo auch Theodor schon gewohnt hat.


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