Die Tagebücher des Pfarrers Diethelm Schweizer
19.2.1797
Christus hat uns unser Bedürfniß nach Entsündigung, nach Befreyung von unserm Tode, u. nach einer Seligkeitvollen Unsterblichkeit befriedigt .. wir fühlen uns durch sein Blut von Sünden gewaschen, wissen uns durch seinen Tod aus unserm Tod errettet u. durch seine Auferstehung zum Leben gebracht: Das besiegelt uns jede Feyr seines Todes. Die Befriedigung dieses unsers Hauptbedürfnisses ist uns Pfand für die Befriedigung unsrer anderweitigen Bedürfnissen, die sich auf Christus, auf sein Reich, auf seine Christenheit beziehen. Dies war der Hauptgedanke, an den wir uns in unsrer heutigen Feyrstunde27
Wir können uns in diese Idee immer weniger finden: Wenn Christus den Juden u. den Seinen auch die gröste Glükseligkeit auf Erde gäbe u. sie blieben dabey sterblich u. alle Augenblike dem Tode anheim gefallen, so wäre das keine wahre untrübbare Seligkeit: u. eine unwahre, unfeste, hinfällige Seligkeit hat uns Christus nicht verheissen, sondern eine wahre, ewig bleibende u. unsterbliche Seligkeit: und die kan nicht zu Stande kommen, bis aller Tod abgethan ist. Und wo wird der ganz abgethan seyn? Wir wissen nirgend anderswo als auf der uns verheissenen neüen Erde u. Himmel: dies wird der Ort seyn, wo Er alle seine Hauptverheißungen für Juden u. Heiden, das heisst für alle an Ihn Glaubende aus allen Völkern der Erde, ohne in irgend einem Punkte den Juden einen Vorzug zugeben, genau erfüllen wird. Warlich man nihmt die Sache mit den Juden immer zu sinnlich, zu physisch, zu buchstäblich, u. nicht nach dem Schriftgeiste, der vorzu aufs Unsinnliche, Ueberirdische, Unvergängliche u. Unsterbliche deütet u. in das allein die wahre Glükseligkeit der Menschen sezet.
Unter "Feyrstunde" versteht Schweizer ein ausserhalb der Kirche im kleinen Kreis der Frommen eingenommenes "Privatabendmahl", wie er sie seit Februar 1778 in steigender Intensität mit den Töchtern der Familie Gessner feiert; vgl. im Begleitbuch zur CD das Kap. III, darin: "Gemeinschaft in Christo".schliessen
anschmiegten und anstemmten. ––
Es ward diesen Abend auch geredet von der allgenohmenen28Verschrieb für: angenommenen oder allangenommenen (= allseits angenommenen), wie Schweizer den Begriff im Tagebuch vom 30.8.1780 verwendet.schliessen
Einführung der Juden in das Land Canaan, die besonders auch der l[iebe] Jung29Johann Heinrich Jung (1740-1817), genannt Jung-Stilling, Arzt, Prof. für Kameralistik und religiöser Schriftsteller. 1770-1772 Studium der Medizin in Strassburg, wo er Goethe kennenlernte, der ihn zur Niederschrift seiner Lebensgeschichte anregte, ab 1772 praktizierender Arzt, bekannt geworden v.a. durch seine Staroperationen, 1778 Professor für Landwirtschaft, Technologie und Vieharzneikunde an der Kameralschule Kaiserslautern und Heidelberg (1784), 1787 Professor für Kameralistik in Heidelberg, 1803 Berater des Kurfürsten, nachherigen Großherzogs Karl Friedrich von Baden (1728-1811) und freier religiöser Schriftsteller; publizierte u.a. den Roman Das Heimweh (1794-1796) u. die Zeitschrift Der graue Mann (1795-1816); Beziehungen zu Lavater, Jacobi, Juliane von Krüdener und zu unzähligen pietistischen Konventikeln, u.a. zu den hier erwähnten Zürcher, St. Galler und Schaffhauser Kreisen. Umfangreiche Korrespondenz (ca. 20000 Briefe); NDB X, 665-667; Killy VI, 160-162; Hauschronik, 57, 66, 86, 163.schliessen
in seinem Heimwehbuch30Roman von Jung-Stilling: Das Heimweh. Vollständige, ungekürzte Ausgabe nach der Erstausgabe Marburg 1794-1796, hg., eingeleitet und mit Anmerkungen und Glossar versehen v. Martina Maria Sam, Leck 1994; Schweizers lasen den Anfang 1794 erschienenen ersten, evt. auch den zweiten Band schon im Herbst 1794 und zählten damals den Roman nach Lavaters Pontius Pilatus zu den besten Büchern; vgl. den Eintrag vom 19.-22.10.1794, Bg. 369,3f. (Ms Z V 614.): "Wir lasen in diesen Tagen ein Buch – das Heimweh genannt, das uns gar sehr affizierte: es ist eigentlich ein christlicher Roman, den man die Reise des Christen in die Ewigkeit heissen könnte. Die Hauptideen sind: Gesalbtheit und Kreuzritterschaft: u. diese beyden Begriffe sind so biblisch wie möglich."schliessen
zimlich detallisiert beschreibt. Wir können uns in diese Idee immer weniger finden: Wenn Christus den Juden u. den Seinen auch die gröste Glükseligkeit auf Erde gäbe u. sie blieben dabey sterblich u. alle Augenblike dem Tode anheim gefallen, so wäre das keine wahre untrübbare Seligkeit: u. eine unwahre, unfeste, hinfällige Seligkeit hat uns Christus nicht verheissen, sondern eine wahre, ewig bleibende u. unsterbliche Seligkeit: und die kan nicht zu Stande kommen, bis aller Tod abgethan ist. Und wo wird der ganz abgethan seyn? Wir wissen nirgend anderswo als auf der uns verheissenen neüen Erde u. Himmel: dies wird der Ort seyn, wo Er alle seine Hauptverheißungen für Juden u. Heiden, das heisst für alle an Ihn Glaubende aus allen Völkern der Erde, ohne in irgend einem Punkte den Juden einen Vorzug zugeben, genau erfüllen wird. Warlich man nihmt die Sache mit den Juden immer zu sinnlich, zu physisch, zu buchstäblich, u. nicht nach dem Schriftgeiste, der vorzu aufs Unsinnliche, Ueberirdische, Unvergängliche u. Unsterbliche deütet u. in das allein die wahre Glükseligkeit der Menschen sezet.
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