31.5.–28.8.1801
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[36] May – Augstm[onat] 1801.
Kurze Nachhohlungen.
1.
Am lezten Tag May verreisste ich auf Zürich auf die Synode – bey Bändlikon635
Bändlikon oder Bendlikon, heute eingemeindetes Dorf am linken Seeufer, das zur politischen sowie zur Kirch- und Schulgemeinde Kilchberg gehört, Wohnort von Anna Margaretha (Grite) Keller und Anna Catharina (Cäther) Nägeli, vorher Brunner, geb. Keller.schliessen
vorbey, wo ich Frau Nägeli636
Anna Catharina (Cäther) Nägeli, geb. Keller (1764-1818), Schwester von Anna Margaretha (Grite) Keller, verh. mit 1) 1790 Pfr. Caspar Brunner (gest. 1793), 2) 1800 Rudolf Nägeli.schliessen
etwas verdrüßlich antraf über ihr schwaches Wochenbeth.
2.
In der Stadt die l[iebe] A. Barb. Bernet637
Anna Barbara Bernet (1757-1818), Tochter des Ratsherrn Caspar u. der in diesem Jahr verstorbenen Cleophea, geb. Weyermann.schliessen
von St. Gallen angetroffen: sie kam mir sehr gealtert vor.
3.
Von der Synode /den 2 u. 3 Brachm[onat]/638
Im alten Zürich fand die Synode immer am ersten Montag, später Dienstag nach dem ersten Mai statt; in der Helvetik wurde dieses Datum offenbar verlegt, ab 1804 wurde die Maisynode auf den Dienstag nach dem Bettag verlegt. Die Synode wurde vom Antistes geleitet; der Bürgermeister hatte dabei den Ehrenvorsitz. In der Helvetik ging dieser Vorsitz an den Regierungsstatthalter über, wohl nicht zur Freude der Pfarrherren, die in ihrer Mehrheit antihelvetisch gesinnt waren; vgl. Wilhelm Baltischweiler, Die Institutionen der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 1904, 56, 58ff.; Christoph Guggenbühl, Zensur und Pressefreiheit, Zürich 1996, 220-224.schliessen
nichts, als dies: Statt des ehemaligen Herrn Bürgermeisters nun der weiche revolutionaire Stadthalter Ulrich639
Johann Konrad Ulrich (1761-1828), Pädagoge und Politiker; erfolgreich als Taubstummenlehrer; in der Helvetik, gemässigter Unitarier; nach dem ersten Staatsstreich am 7.1.1800 ersetzte er den ersten Regierungsstatthalter Pfenniger; nach dem dritten, föderalistischen Staatsstreich wurde er durch den reaktionären Hans von Reinhard ersetzt, kam aber nach dem vierten Staatsstreich der Unitarier (16./17. April 1802) am 25.5.1802 für kurze Zeit ins Amt zurück (bis 2.11.1802); Dändliker III, 145ff.; HBLS VII, 118.schliessen
– u. dann noch ein seidener Doktor Toggenburger von Marthaln.640
Toggenburger, Hans Konrad, Arzt in Winterthur, ursprünglich von Marthalen, 1797 Bürger von Zürich. 1798 Mitglied des Distriktgerichts Benken, 1801 der Zürcher Verwaltungskammer, im selben Jahr Präsident des Erziehungsrates, 1813 Grossrat, 1823 Bezirksrichter. Daß Schweizer Toggenburger, obwohl er zu jener Zeit bereits Zürcher Bürger war, immer noch als Marthaler bezeichnet, zeigt den Vorbehalt, ja die Ablehnung, die die Städter gegenüber der neuen ländlichen Führungsschicht hatten, der Toggenburger angehörte. Marthalen gehörte damals zu jenen Gemeinden im Weinland, in denen die Anhänger der Helvetik eine ernstzunehmende Gruppe darstellten; HBLS VII, 16; Graber; Zeit des Teilens, 276ff.schliessen
4.
Auf'm Heimweg rief mir ein Bauer zu Wollishofen zu: "Guten Tag, Wohlehrwürdiger Herr Pfarrer!641
Eine solche Anrede war in den Volksbewegungen zur Zeit der Helvetik ausser Gebrauch gekommen und in der Helvetik verpönt, da sich in ihr die Unterwürfigkeit aus der Zeit des Ancien Régime ausdrückte. Pfarrer Schweizer scheint sie hier wie eine Vorankündigung der Wiederherstellung der alten Verhältnisse.schliessen
Das war gestern auch eine Freüde für mich, so die Herrn Pfarrer wieder bey einander versammelt zusehen! So kan man auch wieder anfangen hoffen, daß das liebe Alte wieder aufkomme!"
5.
Die liebe Bernet,642
Anna Barbara Bernet (1759-1818), älteste Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, heiratete nach dem Tod von dessen erster Frau (Anna Ehrenzeller, gest. 1806), Kaspar Steinmann; vgl. Stammbaum der Familie Schlatter-Bernet, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
kam mit mir heim, u. blieb etwa 4 Tage bey uns, u. lebte ganz schwesterlich unter uns u. mit beobachtenden Augen. Es ward von vielem u. über vieles gesprochen; unter anderm auch auch von der Auferziehung der Kinder643
An sie hatte Bäbe Gessner-Hess einen Brief über mangelnde Strenge der Schweizers gegenüber dem Eigensinn der Kinder geschrieben; vgl. Tagebuch vom 21.7.1800.schliessen
wo die Liebe über unsre Kinder das gleiche Urtheil fällte, das wir schon viel hören mussten, daß sie nemlich sehr eigensinnig seyen, u. wir sie nicht recht behandeln: u.s.f. Die Liebe sah aber hier durch der l[ieben] Bäbe Brille, u. urtheilte durch deßen644
Mundartl. Neutrum für das Femininum: deren.schliessen
Belehrung: Indeß gestande sie mir, daß man's in Biegung des Eigensinns der Kinder auch zu weit treiben könne, und erzählte mir folgende Geschichte von ihrer Schwester Anna:645
Anna Schlatter-Bernet (1773-1826), Tochter von Ratsherr Caspar Bernet und Cleophea, geb. Weyermann, verh. 18.2.1794 mit Hektor Schlatter; Marianne Jehle-Wildberger: Anna Schlatter-Bernet 1773-1826. Eine weltoffene St. Galler Christin.schliessen
/Frau Schlatter hinter dem Thurm/646
So heisst das Wohnhaus von Hektor und Anna Schlatter-Bernet; vgl. Marianne Jehle-Wildberger, Anna Schlatter-Bernet, eine weltoffene St. Galler Christin, 47 (dort Abb.).schliessen

Eines ihrer Kinder seye nemlich auf dem Tisch herum gekrochen.
Die Mutter sagte ihm, es solle ab dem Tisch gehen. Das Kind gehorchte nicht.
Wenn du's wieder thust – so muß ich dich schlachten! /Anspielung auf's Kälbli stechen/
Das Kind fuhr fort, auf dem Tisch herum zukriechen.
Die Mutter langte nach einem Messer, u. sprach: Nun muß ich thun, was ich gesagt habe.
Schnell wandte sich das Kind ab dem Tisch, kroch unter die Laube, u. wollte nicht mehr hervor aus Furcht, es werde gestochen.
Nachher ward von seinen Geschwistern in allen Haüsern u. selbst in der Schule gesagt: "Die Mutter habe das Kind tödten wollen."
So weit die Geschichte, über die gewiß viel pädagogische Anmerkungen gemacht werden könten – besonders von mir. Aber ich enthalte mich, sie nur hier niederzuschreiben.
Uebrigens gefiels der l[ieben] Freündin recht wohl in unserm Hirzel, u. sie schied von uns mit dem ihr wohlmachenden Gedanke, wie sie sagte, uns in unsrer haüslichen Lage nun zukennen.
6.
Frau Hptm. Schultheß647
Barbara (Bäbe) Schulthess, geb. Wolf (1743-1818), Freundin Goethes und Mittelpunkt des schöngeistigen Zürichs, Mutter von Georg Gessners erster Frau, Patin von Schweizers jüngstem Kind Dorothea; HBLS VI, 255.schliessen
u. ihr liebes Nanndli648
Anna Schulthess (geb. 1775), Tochter der Bäbe Schulthess, verh. 18.10.1803 mit Jakob (Jaque) Gessner; vgl. Tagebuch vom 2.6. u. 15.-18.10.1803.schliessen
etwa 10 Tage bey uns: während ihrem Hierseyn auch Jaque u. Georg bey uns, u. hernach der l[iebe] Wirz649
Hans Heinrich Wirz (1756-1834), Sohn von Pfr. Hans Konrad Wirz (1726-1794); ord. 1776; Weiterstudium in Halle 1777-1778, Vikar in Kilchberg (Vertretung des kranken Vaters), 1794-1834 Pfr. in Kilchberg. 1795 Schlichtungsversuch im Stäfner Handel; enge Beziehung zu Pfr. Schweizer; Literaturvermittlungstätigkeit; Memorabilien der Zeit; Hauschronik, v.a. 60f.; Wernle III, 310ff.; ZhPfrB, 623.schliessen
u. seine Frau650
Anna Wirz, geb. Füssli (1768-1842), eine Tochter von Obmann Füssli und Gattin des Kilchberger Pfarrers Hans Heinrich Wirz.schliessen
auch für ein paar Tage: wirklich eine sehr genußvolle Zeit – wo die l[iebe] Schultheß – Schultheß, d. h. eigen war, wie sie das allerorthen ist, u. wo ein Saame der Freündschaft zwischen Wirz u. uns ausgestreüt ward, der nun ersterben u. dann aufkeimen muß, u. will's Gott – wird!
7.
Im Augstm[onat] hatten wir die l[iebe] Jgfr. Tante beym Kleinod651
Anna Barbara Keller (1736-1810), Schwester von Anna Schweizer-Gessners verstorbener Mutter Elisabeth.schliessen
mit unsrer Döde652
Dorothea (Döde) Gessner (1749-1830), Tochter von Pfr. Caspar Gessner u. Elisabeth, geb. Keller, ältere Schwester von Schweizers Gattin Anna, lebte damals bei Tante Anna Barbara Keller im "Kleinod", nach deren Tod 1810 im Hirzel, zuerst im Pfarrhaus, dann im Doktorhaus.schliessen
u. Caspar653
Caspar Gessner (1780-1812), ältester Sohn von Hans Caspar Gessner und Bäbe, geb. Hess.schliessen
auf'm Graben bey uns: leztrer trank ein Wasserruhete654
Eine Wasserkur.schliessen
aus von vielem, u. gedeyhte wirklich zu seiner Gesundheit.
8.
Während ihrem Seyn bey uns besuchte ich unsern gefährlich kranken Emmanuel655
Der Bauer Emmanuel Fenner (gest. 1801) aus Dübendorf, die sich dem Kreis der Frommen um Diethelm Schweizer angeschlossen hatte. Sein Hof schienen der Gruppe den Grundstock für eine christliche Gemeinschaft zu bilden, die als Vorstufe des Tausendjährigen Reichs verstanden wurde; vgl. die Tagebücher von Schweizer 1783ff. und Gessner 1783; Georg Finsler, Georg Gessner, 19ff.schliessen
zu Dübendorf: ich fand den Lieben schwach, aber doch nicht so, daß ich an seinem Wiederaufkommen zweifelte: wirklich redte ich mit ihm u. verliess ihn in der getrosten Hofnung, daß wir uns hienieden noch weiter sehen werden.
9.
Meine Nette656
Anna Schweizer, geb. Gessner (1757-1836), Tochter von Pfr. Caspar Gessner u. Elisabeth, geb. Keller, verh. 1785 mit Diethelm Schweizer; vgl. Hauschronik, 30, 32-34, 91, 139f.schliessen
u. Sette657
Elisabeth Gessner (1755-1831), Schweizers Schwägerin, Tochter von Pfr. Caspar Gessner u. Elisabeth, geb. Keller, lebte seit der Heirat Schweizers mit Anna Gessner 1785 in deren Haushalt, vgl. Hauschronik 33, 91.schliessen
fuhren mit der l[ieben] Jgfr. Tante u. unsrer Döde in die Stadt, um den lieben Kranken zu Dübendorf zu besuchen: u. da erhielt ich den 26 Augstm[onat] folgende Zeilen von meiner Nette ...
"Wie giengs eüch bis heüte – dir, mein Herz! so allein mit deinen Kindern? es ist mir wunderbar, dich u. unsre Kinder alle so allein bey dir zudenken: aber an was müssen wir uns auf der Erde nicht gewöhnen? was werden wir noch lernen müßen. Gestern kamen wir zu guter Zeit u. wohl hier an, u. trafen unsre Bäbe da beym Kleinod658
Haus am Rennweg 10, das über Generationen im Besitz der Familie Keller vom Steinbock war. Zu jener Zeit wohnte die "Jungfer Tante" Anna Barbara Keller dort, zusammen mit Dorothea und Jakob (Jaque d.Ä.) Gessner, den zwei Kindern ihrer verstorbenen Schwester Elisabeth Gessner-Keller.schliessen
an, das uns den herzzerschneidenden Bericht sagen musste:
'Emmanuel ist gestorben!'

Unser Emmanuel ist heim – vor uns allen heim! O du wunderbarer Gott! dennoch unser Gott! der uns einst beßres geben wird, als wir bathen! wir gehn nun hin, die liebe Leiche zusehn, und so der Herr uns giebt etwas Trost in des armen Annelis659
Anna Fenner, Gattin des Dübendorfer Bauern Emmanuel Fenner.schliessen
Herz zu gießen: mich planget660
Mundartl. für: ich sehne mich.schliessen
recht hin. Auch in deinem Nammen, mein Herz! wollen wir die theüre Leiche unsers Emmanuels einsegnen auf unser gewisses Wiedersehn!"
10.
An die l[iebe] A. Barb. Bernet.661
Anna Barbara Bernet (1759-1818), älteste Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, heiratete 1809 nach dem Tod von dessen erster Frau (Anna Ehrenzeller, gest. 1806), Kaspar Steinmann; vgl. Stammbaum der Familie Schlatter-Bernet, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen

"1. Eine ganze vollkomne Befreyung von der Sünde ist uns für unser Erdenleben so wenig verheissen, als eine ganze vollkomne Befreyung vom Tod.
2. weil wir sterben müßen, so müßen wir, wenn ichs sagen darf, gleichsam fortsündigen, damit wir sterben könen.
3. So bald wir nicht mehr sündigen, sterben wir nicht. Und doch sind die besten christlichsten Menschen gestorben – warum? weil sie gesündigt haben.
4. Und sind gestorben mit dem Gefühl der Vergebung ihrer Sünden – woher das?
5. Daher – weil sie sich freylich als Sünder, aber nicht als muthwillige vorsezliche Sünder fühlten u. kannten: weil sie einen Unlust an der Sünde hatten; die Sünde so gleich als Sünde erkanten, ihr allen möglichen Wiederstand thaten, u. dabey mit vollkomnem Herzen an Jesus Christus als den einzigen Sündentilgner glaubten: glaubten, daß sie zur gänzlichen Verzeihung ihrer Sünden gelangen werden, wenn die fürchterlichste Folge der Sünde – der Tod von Jesus Christus wird abgeschaft werden.
6. Denn, Sünden verzeihen im strengsten Sinne heisst – nicht bloß unsre Sünden vergessen, sondern alle üblen Folgen unsrer Sünden, alle Schuld u. Straf derselben aufheben u. von uns entfernen. Zu dieser Verzeihung unsrer Sünden werden wir nicht gelangen, bis aller Tod abgethan u. verschlungen ist.
7. Zu welcher Verzeihung der Sünden könen wir dann in diesem Leben gelangen? Zu der, wo wir die Sünde als Sünde erkennen; wo wir einen Unlust an der Sünde haben; wo die Sünde uns zur Last wird; wo wir so gerne nicht mehr sündigten; wo wir aber, wenn wir sündigen, unsern Fürsprech beym Vater kennen u. wißen – Jesum Christum den Gerechten.
8. Wo Er uns den Glauben an Ihn als an unsern Erlöser von Sünden giebet – da giebet Er uns Verzeihung unsrer Sünden."
11.
Einige Gedanken.
1.
Unsre Existenz auf Erden ist Symbol unsrer Existenz im Himmel.
2.
Welcher Mensch sich selbst ganz kennet, der kennt die ganze Menschheit in sich.
3.
Gehe deine Straasse fort, wenn auch Niemand sie wandelt mit dir;
führet dich nur der Herr – du wirst weder straucheln noch fallen.
4.
Bequemst du dich nicht nach der Ordnung des Hausvaters,
Ist die dir Last u. Verdruß, dann sage nicht:
daß Hausgenossen Treüe dein Inneres berühre.
5.
Versaümst du zunüzen den Nähesten, wie wirst du nüzen mögen den Fernen?
6.
Achtsam seyn auf alles u. in allem heisst die christliche Liebe Dich.
7.
Kan dein Aug bey den guten u. bösen Erfahrungen
christlicher Menschen wainen, dann glaube nicht ferne zuseyn ihrem Herzen.
8.
Ehe du siegst, worin es seye, glaube nicht Held zuseyn.
Nur wer überwunden hat, ist Held u. Sieger zugleich.
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