22.11.1802
an meine Lieben.785
"Um 8 Uhr, ihr Lieben! gieng ich nach Bändlikon, u. traf da auch die l[iebe] Bäbe789
Bald nach halb 9 Uhr nahm ich Abschied von den Lieben u. gienge der Stadt zu: wo ich um 10 Uhr unsre Lieben beym Kleinod, wohl, munter und voll froher Hofnung, daß es gestern gut gegangen, antrafe: allein, da ich ihnen das Gegentheil sagte, erschraken sie sehr: ich gabe ihnen hierauf eine Beschreibung des gestrigen Tages zulesen, die ich heüt Morgen auf Kilchberg gemacht790
Ach, daß ich wüsste, wie ihrs habet: ich hoffe dennoch gut, denn der Herr ist gut, u. ist gewiß eüer Schuz u. Schirm! Ihm empfehl ich dich, mein Herz! u. die l[iebe] Tante,793
Fortsetzung des Briefchens vom 21.11. abends, FA Schweizer, D I 2, Bg. 1, S. 4, Bg. 2, S. 1-3 oben.schliessen
"Guten Tag, ihr l[ieben] Herzen! wie habt ihr – wie unsre Kinder geschlafen? Hat der Herr eüch bewachet? ich glaube, ich hoffe es! denn wir sind Ihm doch theüer, wenn wir revolutionairen Menschen schon nicht theüer sind.
Ich bin diesen Morgen nach einem 5stündigen ruhigen Schlaf Gottlob mit der gleichen Seelenruhe erwachet, zu der ich mich am lezten Samstag Nachmittag hindurch gekämpft habe. /Ich hohle dies hier nach: den 20 zwischen 2 u.3 Uhr Nachmittags ward mir einsmals innerlich unaussprechlich wohl: ich empfand, daß etwas wichtiges vorgefallen seyn müsse, das mich aus den Händen meiner Gegner erretten werde: diese Empfindung bliebe wenigstens eine halbe Stunde gleich lebhaft u. mir immer wöhler machend in mir; sie machte mich ganz frey von aller Furcht u. Bangigkeit, in der ich izt 14 Tage mehr und minder gelebt habe/ Ich musste denken –
1.) was werden die Lieben zu Bändlikon,786
2.) was ist seit gestern im Hirzel vorgegangen – mehr Günstiges oder mehr Ungünstiges für uns?
[44] So dann schwebte mir auch das fürchterlich Gewaltthätige des gestrigen Vorfalls vor: wenn der antichristische Gewalt einer ganzen Gemeine den ganzen sontäglichen Gottesdienst entziehen kan, um den Willen einiger weniger zuerfüllen – was wird diesem Gewalt nicht bald möglich werden u. möglich seyn?
Der l[iebe] Wirz787
Dem l[ieben] Wirz ist noch nichts wiedriges begegnet; und er hat Hofnung, daß er izt noch in Ruhe gelaßen werde, indem ihm keine huberschen Menschen in seiner Gemeine bekannt seyen, die so übergwaltthätig alles durchsezen, was ihre Bosheit ihnen eingiebt."
Ich bin diesen Morgen nach einem 5stündigen ruhigen Schlaf Gottlob mit der gleichen Seelenruhe erwachet, zu der ich mich am lezten Samstag Nachmittag hindurch gekämpft habe. /Ich hohle dies hier nach: den 20 zwischen 2 u.3 Uhr Nachmittags ward mir einsmals innerlich unaussprechlich wohl: ich empfand, daß etwas wichtiges vorgefallen seyn müsse, das mich aus den Händen meiner Gegner erretten werde: diese Empfindung bliebe wenigstens eine halbe Stunde gleich lebhaft u. mir immer wöhler machend in mir; sie machte mich ganz frey von aller Furcht u. Bangigkeit, in der ich izt 14 Tage mehr und minder gelebt habe/ Ich musste denken –
1.) was werden die Lieben zu Bändlikon,786
Anna Catharina (Cäther) Nägeli-Keller und ihre Schwester Anna Margaretha (Grite) Keller, die in Bändlikon wohnten.schliessen
die Lieben in Zürich zu unsrer Geschichte sagen? u. 2.) was ist seit gestern im Hirzel vorgegangen – mehr Günstiges oder mehr Ungünstiges für uns?
[44] So dann schwebte mir auch das fürchterlich Gewaltthätige des gestrigen Vorfalls vor: wenn der antichristische Gewalt einer ganzen Gemeine den ganzen sontäglichen Gottesdienst entziehen kan, um den Willen einiger weniger zuerfüllen – was wird diesem Gewalt nicht bald möglich werden u. möglich seyn?
Der l[iebe] Wirz787
Hans Heinrich Wirz (1756-1834), Sohn von Hans Konrad Wirz (1726-1794), Pfr. in Kilchberg; verh. mit Anna Füssli, Tochter von Obmann Füssli; ord. 1776, Weiterstudium in Halle 1777-1778, Vikar in Kilchberg (Vertretung des kranken Vaters), 1794-1834 Pfr. in Kilchberg; 1795 Schlichtungsversuch im Stäfner Handel; Freundschaft mit Lavater und enge Beziehung zu Pfr. Schweizer während dessen Hirzler Zeit; Literaturvermittlungstätigkeit; Memorabilien der Zeit; Hauschronik, 60f.; Wernle III, 310ff.; ZhPfrB, 623.schliessen
nihmt unsern Fall ganz in diesem Sinn, als Untergrabung aller Religion u. alles öffentlichen Cultus: 'Die Religionslehrer seyen nur zuschelten u. zuschmähen, dann seye es um ihre öffentliche Wirkung geschehen: u. seye die hin, dann seye ihre Vertreibung bald bewirkt, indem im Ganzen der weit wenigere Theil der Gemeinen religios seye, u. dieser schweigen oder sich mit dem Religionslehrer auch verfolgen lassen müsse: u. dazu seyen diese wenigen noch nicht stark genug.' Dem l[ieben] Wirz ist noch nichts wiedriges begegnet; und er hat Hofnung, daß er izt noch in Ruhe gelaßen werde, indem ihm keine huberschen Menschen in seiner Gemeine bekannt seyen, die so übergwaltthätig alles durchsezen, was ihre Bosheit ihnen eingiebt."
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Zürich beym Kleinod788Haus am Rennweg 10, das über Generationen im Besitz der Familie Keller vom Steinbock war. Zu jener Zeit wohnte die "Jungfer Tante" Anna Barbara Keller (1735-1810) dort, zusammen mit Dorothea und Jakob (Jaque d.Ä.) Gessner, den zwei Kindern ihrer verstorbenen Schwester Elisabeth Gessner-Keller.schliessen
– Vormittag nach 10 Uhr. "Um 8 Uhr, ihr Lieben! gieng ich nach Bändlikon, u. traf da auch die l[iebe] Bäbe789
Bäbe Gessner, geb. Hess (1754-1826), Tochter von Hans Conrad Hess, Amtmann am Oetenbach, und Anna Barbara, geb. von Orelli, verh. 1779 mit Hans Caspar Gessner; vgl. Stammbäume Gessner-Keller und Hess-von Orelli, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
an; die alle schon um den gestrigen Vorfall wussten: der Zimmermann zu Bändlikon, der Tochtermann von einem Bruder des verstorbenen Felix Striklers war gestern an seinem Leichenbegängniß, u. der brachte ihnen Abends schon den Bericht von diesem fürchterlichen Vorfall: die Lieben haben inniges Mitleiden mit uns, u. entsezen sich ob dem Gewalt, der so wenigen Menschen über eine ganze Gemeine gegeben ist. Bald nach halb 9 Uhr nahm ich Abschied von den Lieben u. gienge der Stadt zu: wo ich um 10 Uhr unsre Lieben beym Kleinod, wohl, munter und voll froher Hofnung, daß es gestern gut gegangen, antrafe: allein, da ich ihnen das Gegentheil sagte, erschraken sie sehr: ich gabe ihnen hierauf eine Beschreibung des gestrigen Tages zulesen, die ich heüt Morgen auf Kilchberg gemacht790
Dieser Bericht (Sontag den 21 Winterm.) hat sich im Nachlass erhalten; er umfasst zwei Bogen. Auf der dritten und vierten Seite des zweiten Bogens hat Schweizer mit anderer Feder stichwortartig seine Besuche, Berichte und Geschäfte in Zürich vom 24. November 1802 notiert; vgl. FA Schweizer/Heusser D I 3.schliessen
wo ich schon um 4 Uhr wach war, u. nicht mehr schlafen mogte. Dies schreib ich eüch in unsers l[ieben] Jaquens791Jakob Gessner d.Ä. (1759-1823), Schweizers Schwager, Sohn des Caspar Gessner und der Elisabeth, geb. Keller, verh. 1803 mit Anna Schulthess; Offizier in holländischen Diensten bis 1795, Oberrichter in Zürich, 1803 Stadtrat, 1805 Statthalter des Bezirks Zürich; vgl. Stammbaum Gessner-Keller, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
Stube, u. gehe nun ins Pfarrhaus792Pfarrhaus der Gemeinde Fraumünster, Waaggasse 1/3, wo Hans Georg und Anna Gessner-Lavater wohnten.schliessen
zum Mittagessen. Ach, daß ich wüsste, wie ihrs habet: ich hoffe dennoch gut, denn der Herr ist gut, u. ist gewiß eüer Schuz u. Schirm! Ihm empfehl ich dich, mein Herz! u. die l[iebe] Tante,793
Elisabeth (Sette) Gessner (1755-1831), Schweizers Schwägerin, Tochter von Pfr. Caspar Gessner u. Elisabeth, geb. Keller, lebte seit der Heirat Schweizers mit Anna Gessner 1785 in deren Haushalt, vgl. Hauschronik 33, 91.schliessen
u. die l[iebe] Töchtern: lebt so gut u. froh unter u. mit einander, wie ihr könt u. möget. Seyd herzlich gegrüsst von allen Lieben hier, u. besonders von eüerm Papa."794
Alle drei Teile dieses Briefes (Sonntag Abend, 21.11.1802 in Kilchberg, Montag Morgen, 22.11.1802 in Kilchberg u. Montag Morgen in Zürich, Kleinod) haben sich im FA Schweizer/Heusser erhalten; FA Schweizer/Heusser, Sign D I 2.schliessen
