22.1.1801
Aus Briefen.
1.
An Gritte Keller.548Anna Margaretha (Grite) Keller (1763-1820), Tochter von Elisabeth Gessner-Kellers Bruder Pfr. Heinrich Keller; vgl. auch Hauschronik, 67; Stammbaum Gessner-Keller, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
"Was machst Du, Liebe! in Deinem Alleinstübgen? Du wirst darin wohl verwahret seyn vor dem draussen fürchterlich heülenden Sturmwind, der unser Haus oft aus seiner Veste zuheben droht. Dennoch wirds bestehen, weil ich mir nicht denken kan, daß es auf Sand gebauen sey.
Es ist dem Christusehrer so wunderbar bey diesen Stürmen, die immer haüfiger u. gewaltiger zuwerden beginnen: muß er nicht dadurch auf die großen Naturrevolutionen geführt werden, die kommen sollen?549
Es ist dem Christusehrer so wunderbar, daß Lavater vor diesen Naturrevolutionen hat heim gehen müssen!
Der Herr mache uns in denselben bestehen, u. gebe uns Muth, noch in größern, wichtigern Revolutionen, die da kommen werden, zubestehen! u.
wir werden bestehen, wenn wir nur keinen Revolutionsgeist berühren! von dem bewahre der Herr uns u. eüch!"
Es ist dem Christusehrer so wunderbar bey diesen Stürmen, die immer haüfiger u. gewaltiger zuwerden beginnen: muß er nicht dadurch auf die großen Naturrevolutionen geführt werden, die kommen sollen?549
Von den erwarteten Naturrevolutionen schreibt Schweizer schon am 1. Januar 1801.schliessen
u. Es ist dem Christusehrer so wunderbar, daß Lavater vor diesen Naturrevolutionen hat heim gehen müssen!
Der Herr mache uns in denselben bestehen, u. gebe uns Muth, noch in größern, wichtigern Revolutionen, die da kommen werden, zubestehen! u.
wir werden bestehen, wenn wir nur keinen Revolutionsgeist berühren! von dem bewahre der Herr uns u. eüch!"
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2.
An A. Barb. Bernet.550Anna Barbara Bernet (1759-1818), älteste Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, verh. 1809 mit Kaspar Steinmann (1. Frau Anna Ehrenzeller, gest. 1806); vgl. Stammbaum der Familie Schlatter-Bernet, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
St. Gallen. "Lavater leidet nicht mehr, u. hat ausgelitten –
O m[eine] Th[eüre]! in wie manchem Sinne? sie sind zum Ende gekommen – seine religiosen, moralischen, politischen, oekonomischen Leiden.
All dieser Leiden Kampf ist von Ihm ausgekämpft; von allen diesen seinen Leiden hat Er sich zur Ruhe geleget!
Und da entstehet meinem Herzen die weehmüthige Frage: 'Warum müssen auch die besten frömsten religiosesten christlichsten Menschen in .. ich sage nicht religiosen moralischen politischen, sondern in oekonomischen Leiden dahin sterben?' Jenes verstehet sich perse,551
Lavater leidet nicht mehr! nein, m[eine] Th[eüre]! ich sehe Ihn in den höhern Regionen, in die hinauf Er sich geschwungen, umher laufen, u. heißhungerig seine Ihm vorgegangnen Brüder u. Schwestern aufsuchen: u. hat er die gefunden, so hör ich Ihn sie anreden: "O wie anders ists hier, als drunten auf unsrer armen Sünder Erde – nun lebe ich in meinem Elemente!";553
So denke ich mir den th[eüren] für uns Entschlafnen, aber gewiß für Christus u. deßen Himmelreich lebenden Vater: Seine Erndte fängt izt schon an, u. Er wird forterndten von Ewigkeit zu Ewigkeit!"
O m[eine] Th[eüre]! in wie manchem Sinne? sie sind zum Ende gekommen – seine religiosen, moralischen, politischen, oekonomischen Leiden.
All dieser Leiden Kampf ist von Ihm ausgekämpft; von allen diesen seinen Leiden hat Er sich zur Ruhe geleget!
Und da entstehet meinem Herzen die weehmüthige Frage: 'Warum müssen auch die besten frömsten religiosesten christlichsten Menschen in .. ich sage nicht religiosen moralischen politischen, sondern in oekonomischen Leiden dahin sterben?' Jenes verstehet sich perse,551
Lat. per se: von selbst.schliessen
u. ist zu begreiffen: aber das leztere – das oekonomische macht Mühe, zuerklären: u. es ist keines der geringsten, es ist eines für den Christen peinlichstes Leiden, der weisst daß es in das ABC des Christenthums hinein gehört: 'Gieb dem, der dich bittet, u. wende Dich nicht von dem, der von Dir entlehnen will!'552Zitat aus der Bergpredigt, Mat. 5,42 .schliessen
ich weiß, was man hierauf sagt – 'Ja, wenn du hast!' aber, warum sollte der Christ nicht immer haben? mittelbar immer haben durch, in u. mit seinen Mitchristen? die Ein Herz u. Eine Seele unter einander seyn sollen – wirklich auch in Absicht auf's Oekonomische: der eine hat viel, der andere wenig: u. zum vielen u. zum wenigen hat der Herr seinen Segen zugeben verheißen, damit seine Sachen von Außen ihren Fortgang haben. Lavater leidet nicht mehr! nein, m[eine] Th[eüre]! ich sehe Ihn in den höhern Regionen, in die hinauf Er sich geschwungen, umher laufen, u. heißhungerig seine Ihm vorgegangnen Brüder u. Schwestern aufsuchen: u. hat er die gefunden, so hör ich Ihn sie anreden: "O wie anders ists hier, als drunten auf unsrer armen Sünder Erde – nun lebe ich in meinem Elemente!";553
Der Gedanke, dass der Mensch, in dem er zu Gott kommt, "mit Gott harmoniert", zu sich selbst kommt, begegnet in den Aussichten in die Ewigkeit an verschiedenen Stellen; vgl. etwa 21. Brief, Ausgewählte Werke II, 504f. u. 25. Brief, Ausgewählte Werke II, 548.schliessen
Oder dann sehe ich ihn im Kabinet seines Herrn am Tische sizen u. da schreiben mit stärker beflügelter Hand, als seine Erdenhand bey all seinem Durst nicht erreichen mogte: seh Ihn da aufhorchen auf die hohen himlischen Sachen, die entweder ihm in die Feder diktirt werden, oder die er andern in die Feder diktirt: dies leztere trieb Er ja auf Erde bis nahe an sein einschlafen!554Für das Neujahrsblatt 1801 der Musikgesellschaft hatte Lavater drei Wochen vor seinem Tod noch ein Gedicht verfasst; wieder abgedruckt in: Nachgelassene Schriften, hg. v. Georg Gessner, III, 105ff. und Ausgewählte Werke, hg. v. Ernst Staehelin, IV, 242ff. Am letzten Tag des Jahres diktierte er seinem Schwiegersohn ein kurzes Gedicht zum Jahresanfang, das sein Pfarrerkollege nach der Neujahrspredigt der Gemeinde vorlesen sollte; abgedruckt in: Nachgelassene Schriften, hg. v. Georg Gessner, IV, 438 und Ausgewählte Werke, hg. v. Ernst Staehelin, IV, 249.schliessen
Seh Ihn da Besuchen beywohnen, Besuche empfangen, u. Besuche geben, u. durch alles sein Wesen himlisch aeterischer werden555Auch hier liegen wohl Gedanken aus Lavaters Aussichten in die Ewigkeit (v.a. 11. Brief, Ausgewählte Werke II, 248ff.) zugrunde, wo er mit vielen Bibelstellen belegt, dass die Seligen nach der Auferstehung, wie Christus, einen Lichtleib bekommen werden.schliessen
durch alles sein geistiges Wesen zurüsten zum Hören der großen Gloke, die seine Ankunft in Solyma556In Heinrich Jung-Stillings Roman Das Heimweh ist das Friedensreich Solyma der Zufluchtsort für verfolgte Christen, wo der eingeweihte Christ Eugenius, vormals Christian von Ostenheim zusammen mit seiner Braut Sophia den Auftrag erhält, den Plan "zu einem Reich Gottes auf Erden" (Heimweh I, 498) zu entwerfen.schliessen
ankündigen soll: u.s.f. So denke ich mir den th[eüren] für uns Entschlafnen, aber gewiß für Christus u. deßen Himmelreich lebenden Vater: Seine Erndte fängt izt schon an, u. Er wird forterndten von Ewigkeit zu Ewigkeit!"
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3.
An Helena Schlatter-Bernet.557Helene Schlatter-Bernet (1757-1830), Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann.schliessen
"Wir haben ein neües Jahrhundert angefangen.
Unser Herz schlug ihm mächtig entgegen um vieles willen.
Ach, bringt es wol den lezten Tag der Weltwoche, den Abend, auf dem der grosse dem Volk Gottes aufbehaltene Sabbat anbricht?
Aber das wißen wir, daß es abet558
die Wissenschaft u. die Ungerechtigkeit sich mehret:
die Liebe in vielem erkaltet: u.
der antichristische Unglaube sich auf den Thron schwinget, u.s.f.
Alles Vorbotten des kommenden Tags des Herrn.
O sollten wir den erleben, nicht wahr, Freündin! sie werden froloken, u. sich mit allen Ehrern u. Verehrern Jesu freüen, Ihn – Ihn durch die lezten Glutheissen Leiden gebähren zuhelfen? O welche einzige ewige Freüden mit sich bringende Geburt wird das seyn! wie freü ich mich, daß an der nicht allein das Weib, sondern auch der Mann theilnehmen kan! wie wird uns seyn, wenn wir da auch einmal zugleich mit dem Weib gebären könen!"
Lavater ist gewiß nicht der geringste unter den merkwürdigen großen frommen christlich religiosen Menschen, die auf der Erde gelebt u. gestorben sind. Beynahe ein halbes Jahrhundert hat er christlich religios gewirket; u. alle christlichen Menschen, die dermal in Eüropa leben, haben Ihm u. seinen religiosen Schriften ihre Erwekung u. ihre Religion u. Bibel-Liebe zuverdanken. Ich glaube, aüsserst wenige unsrer heütigen Christen würden sich hievon ausnehmen: u. das ist nun ein Großes, das Ihn zu unsern Reformatoren erhebet, u. weit hinan zu den Aposteln des Herrn führet, wo uns der tröstliche Gedanke entgegen kömt: 'Daß, wie dieser großen Männer Wirkung bis auf uns geblieben ist, auch des th[eüren] Heimgegangnen Lavaters Wirkung bey uns bleiben, u. sich bis auf unsre Kinder fort erstreken werde.'
Ja, Liebe! Lavater ist uns nicht gestorben: Er ist uns nur entrükt: Er lebt noch bey uns in seinen Schriften, die wir von Ihm haben, u. in seinen Worten, die Er zu uns geredet hat. Und
Er – der fromme kindliche Bether – bethet gewiß für uns alle, so oft es ihm vergönnet wird, dem Thron der Gnade, der droben im Himmel ist, sich zunahen! O wie wird Er da waiden! in sich schluken! u. sich sättigen mit allem, wornach Er auf Erden hungerte u. dürstete!
Den Ausgang seines Wandels haben wir nun beschauet, da gebühret uns, seinem Glauben nachzufolgen!"
Unser Herz schlug ihm mächtig entgegen um vieles willen.
Ach, bringt es wol den lezten Tag der Weltwoche, den Abend, auf dem der grosse dem Volk Gottes aufbehaltene Sabbat anbricht?
Aber das wißen wir, daß es abet558
Mundartl. für: Abend wird.schliessen
u. der Tag sich neiget: daß der Abfall vom Christenthum da ist: die Wissenschaft u. die Ungerechtigkeit sich mehret:
die Liebe in vielem erkaltet: u.
der antichristische Unglaube sich auf den Thron schwinget, u.s.f.
Alles Vorbotten des kommenden Tags des Herrn.
O sollten wir den erleben, nicht wahr, Freündin! sie werden froloken, u. sich mit allen Ehrern u. Verehrern Jesu freüen, Ihn – Ihn durch die lezten Glutheissen Leiden gebähren zuhelfen? O welche einzige ewige Freüden mit sich bringende Geburt wird das seyn! wie freü ich mich, daß an der nicht allein das Weib, sondern auch der Mann theilnehmen kan! wie wird uns seyn, wenn wir da auch einmal zugleich mit dem Weib gebären könen!"
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"Wir haben ein neües Jahrhundert angefangen – u. nur 2 Tage davon musste unser theüre Lavater erleben. Ach, dieser unser Freünd ist entschlafen! Ist wol der Herr schon hingegangen, daß Er Ihn aus dem Schlaf aufweke u. zur ersten Auferstehung559Unter erster Auferstehung wird die Auferstehung der Märtyrer und Gerechten verstanden, die dem Antichristen widerstanden haben; vgl. Off. 20,4 . Schweizer erläutert diese Stelle der Offenbarung im Tagebuch mehrmals.schliessen
hinführe! Ich glaub es, m[eine] Th[eüre]! Lavater lebt gewiß: Kund that Ihm sein Herr die Wege des Lebens! Sein Herr erfreüt Ihn mit seinem Angesichte!560Dies hat im Hinblick auf Lavaters Physiognomie einen zweiten Sinn: Für Lavater war das Angesicht Christi zugleich die vollkommenste Physiognomie und ein Glaubensbeweis; vgl. Physiognomische Fragmente IV, 434f.schliessen
O wie wird Ihm geworden seyn! u. wird Ihm nun immer seyn – entladen von allen seinen Lasten, angethan mit ewiger Freüd u. Wonne! Lavater ist gewiß nicht der geringste unter den merkwürdigen großen frommen christlich religiosen Menschen, die auf der Erde gelebt u. gestorben sind. Beynahe ein halbes Jahrhundert hat er christlich religios gewirket; u. alle christlichen Menschen, die dermal in Eüropa leben, haben Ihm u. seinen religiosen Schriften ihre Erwekung u. ihre Religion u. Bibel-Liebe zuverdanken. Ich glaube, aüsserst wenige unsrer heütigen Christen würden sich hievon ausnehmen: u. das ist nun ein Großes, das Ihn zu unsern Reformatoren erhebet, u. weit hinan zu den Aposteln des Herrn führet, wo uns der tröstliche Gedanke entgegen kömt: 'Daß, wie dieser großen Männer Wirkung bis auf uns geblieben ist, auch des th[eüren] Heimgegangnen Lavaters Wirkung bey uns bleiben, u. sich bis auf unsre Kinder fort erstreken werde.'
Ja, Liebe! Lavater ist uns nicht gestorben: Er ist uns nur entrükt: Er lebt noch bey uns in seinen Schriften, die wir von Ihm haben, u. in seinen Worten, die Er zu uns geredet hat. Und
Er – der fromme kindliche Bether – bethet gewiß für uns alle, so oft es ihm vergönnet wird, dem Thron der Gnade, der droben im Himmel ist, sich zunahen! O wie wird Er da waiden! in sich schluken! u. sich sättigen mit allem, wornach Er auf Erden hungerte u. dürstete!
Den Ausgang seines Wandels haben wir nun beschauet, da gebühret uns, seinem Glauben nachzufolgen!"
