21.11.1802
Nachts gerade nach 1 Uhr ward ich aus dem Schlaf gewekt. Es erschienen 2 Munizipalen, die mir anzeigten, daß meine Gegner diese Nacht die Munizipalität haben versameln laßen, u. ihr angezeigt: "daß sie mich heüte nicht predigen laßen, u. Gewalt brauchen werden, wenn ich mich erfreche, in die Kirche zukommen." Was nun zuthun seye?776
Das – erwiederte ich mit Ruhe: "ich bin entschloßen zupredigen: ich habe vor 8 Tagen schon zu viel nachgegeben: izt kan ichs nicht mehr: ich erwarte, daß die Munizipalität mir allen Schuz verschaffe: u. wenn sie sich zu schwach fühlet, so kan ich ihr sagen, daß auch noch gute Leüte in der Gemeine seyen, die sich meiner annehmen." Und damit entließ ich die Munizipalen: legte mich wieder zur Ruhe, anbefahle diese Sache meinem Gott, u. schlief noch einige Stunden wohl.
Nach 6 Uhr erwacht' ich wieder, u. war guten Muths, der Herr werde mich siegen laßen, u. den Gewalt der Finsterniß u. Rohheit dämmen; bethete und lernte meine Predigt.
Meine Lieben wurden auch wach, u. bald tranken wir zu Morgen, u. redten viel über den Auftritt in der Nacht, der von Schwäche u. Nichtintresse der Munizipalität so auffallend zeüget.
Ein wenig vor dem Einlaüten in die Kirche sahe man die Rotte bey einander versammelt: der Huber, der gestern dem Schuhlmeister versprach, nichts Gewaltthätiges zu unternehmen oder geschehen zulassen, stand an ihrer Spize: sie postirten sich am Kirchenstegli, u. sagten zu den Leüten, die zur Kirche kamen – "sie kommen diesmal vergebens, indem sie mich nicht predigen laßen." Mitlerweile kam der Agent777
Nun, sagte ich zum Agent, ist dieser Befehl diesen Männern angezeigt u. verlesen worden? Freylich, erwiederte er, aber sie achten nicht darauf, u. sagen: "es stehe ja nicht darin, daß ich predigen dürfe: sie laßen mich durchaus nicht in die Kirche."
Ich ließ den Agent gehen, u. verfügte mich zu den Meinigen: erschroken u. weehmütig blikten wir einander an, u. fragten: was ist nun zuthun? u. fanden – nichts, als die Gemeine nun machen zulaßen.
Inzwischen ward die Leiche gebracht u. beerdigt: das Leid778
Bald versammelten sich unten im Pfarrhaus der Agent, die Munizipalität, einige junge Leüte u. viele brave Männer u. Weiber. Die jungen Leüte bestanden darauf – "sie wollen mich in die Kirche führen: zween wollen mich, u. zween die Frau Pfarrerin in die Mitte nehmen, u. so sich durchschlagen." Allein man rief ihnen u. uns von allen Seiten zu: "Man solle das doch nicht wagen!" Einige Guten tratten näher zu mir, u. bathen mich um Gottes willen, "doch nicht hervor zutretten, sondern es geschehen zulaßen, daß der Gottesdienst für heüt eingestellt werde."
Ich musste der Uebermacht weichen, u. sagte: "Ich wolle Niemanden in der Gemeine unglüklich machen um Meinetwillen, am wenigsten die Beßern." u. damit gieng ich mit Mamma in die Wohnstube zurük: wir staunten einander an, u. riefen: "Herr Jesus! was wills werden! Wozu wirds noch kommen, wenn eine solche Rotte eine ganze Gemeine des Gottesdienstes berauben kan?" staunten u. fragten, warum es der Herr bey u. mit uns auch so weit kommen lasse? Es ist etwas ausser Kirchengeschichtliches, daß einige Glieder der Gemeine die ganze Gemeine am öffentlichen Gottesdienst hindern kan.
Das Leid779
Ein trauriger Anblik für uns – die Gemeine so ohne Gottesdienst aus einander gehen zusehen! es sollte ein Kind getauft werden: ich liess es mit Vater, Göthi und Gothen ins Pfarrhaus kommen, u. taufte es in unsrer Wohnstube. Ein feyrlicher Auftritt, der uns deütete, wie nach u. nach der Christen Sache an Privathaüser angebunden werden dürfte.
Nun gieng ich mit meinen Lieben zu Rath, was zuthun seye; wir fanden einstimmig, daß ich in die Stadt müsse, um diese u. alle vorigen Auftritte mündlich zuerzählen. Ich fande gut, noch vor meiner Abreise den Hürlimann zu mir kommen zulassen, u. der rieth mir, den Richter Höhn780
Ich aß nun noch einwenig zu Mittag, machte mich reisefertig, bethete mit den l[ieben] Meinen, u. schied von ihnen mit dem festen Vertrauen, daß der Herr uns gewiß nicht verlassen werde: Er werde auch sie beschüzen u. bewahren!
Schweizer wandte sich mit einem schriftlichen Hilferuf an Hürlimann im Wolfensbühl, abgedruckt auch in: Jürg Winkler, Johanna Spyri. Aus dem Leben der "Heidi"-Autorin, 26f.schliessen
[Dok. 4] Das – erwiederte ich mit Ruhe: "ich bin entschloßen zupredigen: ich habe vor 8 Tagen schon zu viel nachgegeben: izt kan ichs nicht mehr: ich erwarte, daß die Munizipalität mir allen Schuz verschaffe: u. wenn sie sich zu schwach fühlet, so kan ich ihr sagen, daß auch noch gute Leüte in der Gemeine seyen, die sich meiner annehmen." Und damit entließ ich die Munizipalen: legte mich wieder zur Ruhe, anbefahle diese Sache meinem Gott, u. schlief noch einige Stunden wohl.
Nach 6 Uhr erwacht' ich wieder, u. war guten Muths, der Herr werde mich siegen laßen, u. den Gewalt der Finsterniß u. Rohheit dämmen; bethete und lernte meine Predigt.
Meine Lieben wurden auch wach, u. bald tranken wir zu Morgen, u. redten viel über den Auftritt in der Nacht, der von Schwäche u. Nichtintresse der Munizipalität so auffallend zeüget.
Ein wenig vor dem Einlaüten in die Kirche sahe man die Rotte bey einander versammelt: der Huber, der gestern dem Schuhlmeister versprach, nichts Gewaltthätiges zu unternehmen oder geschehen zulassen, stand an ihrer Spize: sie postirten sich am Kirchenstegli, u. sagten zu den Leüten, die zur Kirche kamen – "sie kommen diesmal vergebens, indem sie mich nicht predigen laßen." Mitlerweile kam der Agent777
Grob auf dem Zimmerberg; in der Helvetik ist der Agent der Regierungsvertreter in der Gemeinde.schliessen
zu mir u. zeigte mir einen schriftlichen Befehl vom Reg. Stadthalter, "daß meine Wiederpart zur Ruhe gewiesen werden soll: daß, wenn sie gerechte u. begründete Klagen wieder mich haben, sie die mit Anstand beym Kirchenrath anbringen, u. sich aller u. jeder Gewaltthätigkeit enthalten solle." Nun, sagte ich zum Agent, ist dieser Befehl diesen Männern angezeigt u. verlesen worden? Freylich, erwiederte er, aber sie achten nicht darauf, u. sagen: "es stehe ja nicht darin, daß ich predigen dürfe: sie laßen mich durchaus nicht in die Kirche."
Ich ließ den Agent gehen, u. verfügte mich zu den Meinigen: erschroken u. weehmütig blikten wir einander an, u. fragten: was ist nun zuthun? u. fanden – nichts, als die Gemeine nun machen zulaßen.
Inzwischen ward die Leiche gebracht u. beerdigt: das Leid778
Die Trauergemeinde.schliessen
verfügte sich in die Kirche, u. wartete auf mich: die übrigen Gemeinsgenoßen standen auf dem Kirchhof; einige Gutgesinten thaten sich zusamen, u. versuchtens, die Rotte zu bewegen, daß sie aus einander gehe, u. mich in die Kirche kommen laße. Aber alles war vergebens: die Unmenschen truzten der ganzen Gemeine, u. fiengen fürcherlich an zudrohen. Schuhlmeister kam, u. sagte mir mit Zittern, wie die Sachen stehen; u. fügte bey, "es seyen genug Leüte da, die mich in Schuz nehmen, u. in die Kirche werden bringen könen: aber er fürchte, es gebe Unglük." Bald versammelten sich unten im Pfarrhaus der Agent, die Munizipalität, einige junge Leüte u. viele brave Männer u. Weiber. Die jungen Leüte bestanden darauf – "sie wollen mich in die Kirche führen: zween wollen mich, u. zween die Frau Pfarrerin in die Mitte nehmen, u. so sich durchschlagen." Allein man rief ihnen u. uns von allen Seiten zu: "Man solle das doch nicht wagen!" Einige Guten tratten näher zu mir, u. bathen mich um Gottes willen, "doch nicht hervor zutretten, sondern es geschehen zulaßen, daß der Gottesdienst für heüt eingestellt werde."
Ich musste der Uebermacht weichen, u. sagte: "Ich wolle Niemanden in der Gemeine unglüklich machen um Meinetwillen, am wenigsten die Beßern." u. damit gieng ich mit Mamma in die Wohnstube zurük: wir staunten einander an, u. riefen: "Herr Jesus! was wills werden! Wozu wirds noch kommen, wenn eine solche Rotte eine ganze Gemeine des Gottesdienstes berauben kan?" staunten u. fragten, warum es der Herr bey u. mit uns auch so weit kommen lasse? Es ist etwas ausser Kirchengeschichtliches, daß einige Glieder der Gemeine die ganze Gemeine am öffentlichen Gottesdienst hindern kan.
Das Leid779
Die Trauergemeinde.schliessen
des Verstorbenen u. ohne Abdankung bestatteten lieben Felix Striklers gieng nun aus einander; u. auch das übrige Volk auf dem Kirchhof verlor sich nach u. nach: viele sollen mit wainenden Augen nach Hause gegangen seyn, u. mit den Worten: "es seye doch mit der Gewaltthätigkeit in unsern Tagen weit gekommen!" Ein trauriger Anblik für uns – die Gemeine so ohne Gottesdienst aus einander gehen zusehen! es sollte ein Kind getauft werden: ich liess es mit Vater, Göthi und Gothen ins Pfarrhaus kommen, u. taufte es in unsrer Wohnstube. Ein feyrlicher Auftritt, der uns deütete, wie nach u. nach der Christen Sache an Privathaüser angebunden werden dürfte.
Nun gieng ich mit meinen Lieben zu Rath, was zuthun seye; wir fanden einstimmig, daß ich in die Stadt müsse, um diese u. alle vorigen Auftritte mündlich zuerzählen. Ich fande gut, noch vor meiner Abreise den Hürlimann zu mir kommen zulassen, u. der rieth mir, den Richter Höhn780
Jakob Höhn, Alt-Richter, 1803 zum Gemeinderat gewählt; vgl. Hauschronik, 47ff.schliessen
auch zubeschiken: ich thats auf der Stelle: u. da der da war, fragte ich beyde – wie sie den heütigen Vorfall ansehen? beyde sagten – sie sehen nichts anderes vor, als daß Exekutionstruppen in die Gemeine kommen werden: da werde aber die ganze Gemeine gestraft, indem die Truppen der Rotte allein nicht aufgebürdet werden könen, weil die meisten davon nichts haben: es wäre am besten, wenn dieser ganze Vorfall als eine wiederrechtliche Sache in den Rechtsgang gebracht werden könte, wo dann nur der Fehlende zum Vorschein komme und gestraft werde. Ich versprach den beyden Männern, hierüber mit dem Reg. Stadthalter zureden u. ihn zubitten, daß er der Gemeine mit Exekutionstruppen verschohne. Ich aß nun noch einwenig zu Mittag, machte mich reisefertig, bethete mit den l[ieben] Meinen, u. schied von ihnen mit dem festen Vertrauen, daß der Herr uns gewiß nicht verlassen werde: Er werde auch sie beschüzen u. bewahren!
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Nachts um 10 Uhr auf Kilchberg781Als Gast bei seinem Freund und Taufpaten der jüngsten Tochter, Pfr. Hans Heinrich Wirz (1756-1834), seit 1794 als Nachfolger seines Vaters Pfr. in Kilchberg; ZhPfrB, 623; vgl. auch Tagebuch vom 23.7.1799.schliessen
an m[eine] Lieben. "Da schreib ich eüch noch, liebe Seelen! Damit ihr Morgen doch wenigstens auch etwas bekommet.782
Da ich allein war /unser Knecht kam mit mir bis auf Horgen/ wanderte ich fort unter allerhand Gedanken über unser Schiksal überhaupt u. besonders über die Geschichte des heütigen Tages. Welchen Weg wandelst du? u. warum? welche Macht wird noch der Finsterniß und Nichtreligiosität gegeben? wie beynahe Beyspiellos ist der heütige Vorfall im Hirzel? wird Gott uns retten von dieser Rotte der Gottlosen? u. bald wieder unser in Gnaden gedenken? wie habens nun wol meine Nette u. Sette? u. die l[ieben] Kinder? wie lautets wol in allen hirzlischen Haushaltungen? u.s.f. Derley Gedanken und Fragen durchkreüzten meine Seele; u. kame so – nachdem ich an vielen Orthen mit warmer Theilnahme angehalten wurde, auf Thaalwyl, wo ich den B[ürger] Distrikthalter783
Von da eilte ich auf Kilchberg, wo ich die Lieben784
Die Lieben zeigten mir die herzlichste Theilnahm an unsrer Führung, u. freüten sich nur darüber, daß wir in dieser Lage unsers Leibs u. Gemüths halber noch so aufrecht stehen. Nun sage ich eüch allen von meinem ganzen Herzen eine gute Nacht! ach, schlafet wohl bewacht vom Herrn und im Herrn!"
Das Brieflein hat sich vollständig erhalten; vgl. FA Schweizer/Heusser, D I 2, Bg. 1, S. 1-3.schliessen
Da ich allein war /unser Knecht kam mit mir bis auf Horgen/ wanderte ich fort unter allerhand Gedanken über unser Schiksal überhaupt u. besonders über die Geschichte des heütigen Tages. Welchen Weg wandelst du? u. warum? welche Macht wird noch der Finsterniß und Nichtreligiosität gegeben? wie beynahe Beyspiellos ist der heütige Vorfall im Hirzel? wird Gott uns retten von dieser Rotte der Gottlosen? u. bald wieder unser in Gnaden gedenken? wie habens nun wol meine Nette u. Sette? u. die l[ieben] Kinder? wie lautets wol in allen hirzlischen Haushaltungen? u.s.f. Derley Gedanken und Fragen durchkreüzten meine Seele; u. kame so – nachdem ich an vielen Orthen mit warmer Theilnahme angehalten wurde, auf Thaalwyl, wo ich den B[ürger] Distrikthalter783
Johann Jakob Aschmann (1747–1809), der in Thalwil wohnt.schliessen
als solchen antraf, u. auch als solchen behandelte. Von da eilte ich auf Kilchberg, wo ich die Lieben784
Gemeint ist hier die Familie Wirz, Hans Heinrich Wirz (1756-1834) Schweizers Freund und Taufpate der jüngsten Tochter Dorothea, seine Frau Anna, geb. Füssli (1768-1842), die Kinder Anna Susanna, später Gessner-Wirz (1784-1838), August Heinrich (1787-1834), Anna Cleophea, später Zeller-Wirz (geb. 1795) und Johannes (1800-1867).schliessen
als Liebe antraf: so gleich vermutheten sie, daß das wieder uns angefangene Bosheitswerk weiter fortgerükt sey, u. erstaunten, da ich ihnen erzählte, welche enorme Höhe es bereits erreicht habe. Der Abend gienge hier mit erzählen schnell hin: u. unser allseitiges Resultat war – "daß die Aussichten der Pfarrer in jeder Rüksicht schlimm seyen, indem alle Gemeinen religios u. moralisch fürchterlich verdorben seyen, u. meist vom Revolutionisme getrieben werden." Die Lieben zeigten mir die herzlichste Theilnahm an unsrer Führung, u. freüten sich nur darüber, daß wir in dieser Lage unsers Leibs u. Gemüths halber noch so aufrecht stehen. Nun sage ich eüch allen von meinem ganzen Herzen eine gute Nacht! ach, schlafet wohl bewacht vom Herrn und im Herrn!"
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