20.12.1800
An die l[iebe] A. Maria Bernet510
Anna Barbara Bernet (1759-1818), älteste Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, heiratete nach dem Tod von dessen erster Frau (Anna Ehrenzeller, gest. 1806) Kaspar Steinmann; vgl. Stammbaum der Familie Schlatter-Bernet, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
in St. Gallen. "Nein, m[eine] Th[eüre]! die Uebungen u. Erfahrungen, die Sie an Ihrem izigen Plaz zu durchgehen haben, stumpfen Ihr inneres geistiges Leben nicht ab.
Dies zuglauben bin ich berechtigt, wenn ich dem Herrn – unserm Erzieher nicht Vernachläßigung der Seinen zuschreiben muß. Und kan ich das? Könen Sie das? Wollen Sie das? gewiß nicht! vielmehr sagt Ihnen Ihr Inneres ...
'Der Herr hat mich mit Absicht an diesen Plaz gesezt, u. Er will durch die Uebungen u. Erfahrungen, die er mir da auferlegt, mein inneres geistiges Leben nicht schweinen511
Hats nur einmal so in Ihnen gelautet, so haben Sie darin eine Stimme des Herrn, daß dieser Plaz – truz allem Gefäch512
Sie bliken da nur mehr zu Ihrem Gott auf. Sie kommen da in Lagen, wo Sie zum Gebeth gedrungen werden, u. wo der Herr Ihnen durch Hilfe antwortet.
Sie haben da tagtäglich Uebung in der christlichen, verträglichen, duldsamen Liebe.
Sie lernen da aller Art Menschen kennen, u. mit aller Art Menschen als eine Christin umgehen, u.s.f.
Alles Sachen, die gewiß nicht zur Abstumpfung, wol aber zur Erhöhung u. Veredlung unsers innern geistigen Lebens dienen –das uns zwar, u. ich denke [26] schier, das seye hauptsächlich Ihr Fall, durch vieles uns drükende, kränkende, weethuende oft verdunkelt werden kan, daß wirs in seiner vollen Regung u. Bewegung auf eine Zeit nicht fühlen, u. eben dann im Glauben an dasselbe schwach werden: aber, wenn diese Zeit vorbey ist, u. es wieder leichter und lichter um uns wird, so fühlen wir nicht nur keine Abnahme, sondern im Gegentheil Vergrößerung dieses unsers innern geistigen Lebens, wenn die oft auch in nichts anderm besteht, als daß wir mehr glauben, lieben, dulden, hoffen gelernt haben: u. wenn es hierin weiter mit uns fortgehet – welch ein großer Gewinn ist das auf die kommenden folgenden Zeiten, wo Gewirr u. Gefäch,514
Finden Sie, m[eine] Fr[eün]din! in diesen Gedanken etwas Beruhigung für Ihr christlich religioses Herz in Ihrer gegenwärtigen Lage; so danken Sie das dem Herrn, u. nicht mir."
Von dem hinschwinden[den] Jahre, u. von dem sich bald endenden Jahrhundert – wie viel wäre zusagen, mündlich zureden u. zuschreiben! O m[eine] Th[eüre]! ich möchte immer alles alles nur ins Kurze zusammen ziehen u. sagen ...
'Der Herr ist nahe!' wenigstens nun wieder um 100 Jahre näher! u. alles, was im lezten Jahrzehend des 18. Jahrhunderts in der ganzen Welt u. Christenheit vorgienge – hat seine Nähe gewiß befürdert.518
'Der Herr ist nahe!' – mit diesem Bedürfniswort wollen wir das lezte Jahr des 18. Jahrhunderts beschliessen u. mit diesem Bedürfniswort das erste des 19. Jahrhunderts anfangen! Vielleicht, daß das neüe Jahrhundert das angenehme Jahr des Herrn – die 1000jährige Ruhe des Volkes Gottes herbey bringen wird!
O Liebe! mit funkelnd wainenden Augen sehn' ich mich nach dieser Ruhe! Sie werde Ihnen u. mir u. allen zu Theil, die die Erscheinung unsers Herrn lieb haben!
Und damit entlaß ich Sie nun: die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des H[eiligen] Geistes seye mit Ihnen u. mit Ihrem Geiste in der Zeit u. in der Ewigkeit,
Dies zuglauben bin ich berechtigt, wenn ich dem Herrn – unserm Erzieher nicht Vernachläßigung der Seinen zuschreiben muß. Und kan ich das? Könen Sie das? Wollen Sie das? gewiß nicht! vielmehr sagt Ihnen Ihr Inneres ...
'Der Herr hat mich mit Absicht an diesen Plaz gesezt, u. Er will durch die Uebungen u. Erfahrungen, die er mir da auferlegt, mein inneres geistiges Leben nicht schweinen511
Mundartl. "schwiine": schwinden, kleiner werden; Grimm 15, Sp. 2443f.schliessen
aber wachsen machen.' Hats nur einmal so in Ihnen gelautet, so haben Sie darin eine Stimme des Herrn, daß dieser Plaz – truz allem Gefäch512
Mundartl. für: Unruhe, Geschäftigkeit.schliessen
u. Gewirr, das entstehen mag, truz allem Zeitraub, dem Sie da ausgesezt sind, truz aller nicht zum Behagenden Gesellschaft der Arbeiter,513Wohl zu verstehen: "trotz aller nicht zum Behagen beitragenden Gesellschaft der Arbeiter".schliessen
der Sie sich nicht entziehen könen – 'daß dieser Plaz zur Erhöhung Ihres innern geistigen Lebens dienen müsse.' Sie bliken da nur mehr zu Ihrem Gott auf. Sie kommen da in Lagen, wo Sie zum Gebeth gedrungen werden, u. wo der Herr Ihnen durch Hilfe antwortet.
Sie haben da tagtäglich Uebung in der christlichen, verträglichen, duldsamen Liebe.
Sie lernen da aller Art Menschen kennen, u. mit aller Art Menschen als eine Christin umgehen, u.s.f.
Alles Sachen, die gewiß nicht zur Abstumpfung, wol aber zur Erhöhung u. Veredlung unsers innern geistigen Lebens dienen –das uns zwar, u. ich denke [26] schier, das seye hauptsächlich Ihr Fall, durch vieles uns drükende, kränkende, weethuende oft verdunkelt werden kan, daß wirs in seiner vollen Regung u. Bewegung auf eine Zeit nicht fühlen, u. eben dann im Glauben an dasselbe schwach werden: aber, wenn diese Zeit vorbey ist, u. es wieder leichter und lichter um uns wird, so fühlen wir nicht nur keine Abnahme, sondern im Gegentheil Vergrößerung dieses unsers innern geistigen Lebens, wenn die oft auch in nichts anderm besteht, als daß wir mehr glauben, lieben, dulden, hoffen gelernt haben: u. wenn es hierin weiter mit uns fortgehet – welch ein großer Gewinn ist das auf die kommenden folgenden Zeiten, wo Gewirr u. Gefäch,514
Mundartl. für: Unruhe.schliessen
Allgemeinheit u. Zerstreüung in unsre Lebensweise immer mehr verflochten wird – nicht mit unserm Willen, sondern um deß willen, der es so über uns beschlossen hat, u. für den wir immer bethen müßen – 'Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!'515Jesus in Gethsemane, Luk. 22,42 : "Vater, wenn du willst, so lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!"schliessen
Finden Sie, m[eine] Fr[eün]din! in diesen Gedanken etwas Beruhigung für Ihr christlich religioses Herz in Ihrer gegenwärtigen Lage; so danken Sie das dem Herrn, u. nicht mir."
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"Sie fragen so liebend nach, wie's bey uns u. bey meiner Haushaltung stehe? gerade so, m[eine] Liebe! wie's die th[eüre] Rietmann516Sabine Rietmann (1774-1808), Tochter des Hans Jakob und der Sabine, geb. Huber, verh. mit Jakob Bernet (25.10.1801).schliessen
u. die l[iebe] Heß517Judith Hess-Bernet (geb. 1762), Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, verh. mit dem St. Galler Waisenvater Lorenz Hess.schliessen
bey uns gesehen haben. Immer Gottlob alle gesund, u. alle vom Herrn schohnend getragen, und – ich darfs wol sagen, da mein Pfrundeinkommen mir nicht bezahlt wird, vom Herrn ernährt und erhalten: der lässt uns seine sorgende, helfende u. durchführende Hand unverkennbar erfahren. Gelobet seye sein Namme dafür! Izt herrschen die Poken in meiner Gemeine, u. unsre 2 jüngsten Kinder haben diese Krankheit vor sich. Ach, ich waine, so oft ich sie anblike, und ruhe dann wieder Willenlos im Willen des Herrn, der wirds wol machen, wie Ers auch machen wird! Ihm leben wir – Ihm sterben wir, denn Sein sind wir mit allem, was unser ist, denn es ist auch Sein! Izt sind die th[eüren] Kleinen noch wohl, und auch die grösseren, auf die wir auch immer mit Freüde bliken könen u. dürfen. – Von dem hinschwinden[den] Jahre, u. von dem sich bald endenden Jahrhundert – wie viel wäre zusagen, mündlich zureden u. zuschreiben! O m[eine] Th[eüre]! ich möchte immer alles alles nur ins Kurze zusammen ziehen u. sagen ...
'Der Herr ist nahe!' wenigstens nun wieder um 100 Jahre näher! u. alles, was im lezten Jahrzehend des 18. Jahrhunderts in der ganzen Welt u. Christenheit vorgienge – hat seine Nähe gewiß befürdert.518
Vorstellungen einer Endzeit oder des Anbruchs eines Tausendjährigen Reiches waren im pietistischen Protestantismus weit verbreitet, differierten aber in der Interpretation der Johannes-Offenbarung. Ausgehend von Speners "Erwartung besserer Zeiten" in den Pia desideria hofften viele Pietisten auf einen "bessern Zustand" der Kirche Jesu "hier auf Erden". Dieser Zustand wurde später mit dem Tausendjährigen Reich identifiziert; der schwäbische Pietist Johann Albrecht Bengel (1687-1752) erwartete in seiner Erklärten Offenbarung Johannis oder vielmehr JEsu Christi (1740) und in den Sechzig erbaulichen Reden über die Offenbarung Johannis oder vielmehr JESU Christi (1747), die Schweizer kannte (Die eilfte Rede des sel. Bengels über die Offenbarung an Johannes befindet sich als Abschrift in Schweizers Nachlass, C II 2), nicht nur ein, sondern zwei aufeinanderfolgende Reiche (Dichiliasmus). Erst danach würde in ferner Zukunft Christus ein zweites Mal erscheinen (Postmillenarismus). Schweizer selbst scheint hier eher einer millenaristischen Vorstellung zuzuneigen; er erwartet die Parusie Christi in näherer Zukunft; Vgl. Martin H. Jung, 1836 – Wiederkunft Christi oder Beginn des Milleniums? Zur Eschatologie Bengels und seiner Schüler. In: ders.: Nachfolger, Visionärinnen, Kirchenkritiker. Theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zum Pietismus, Leipzig 2003, 93, 100f., 106-110.schliessen
'Der Herr ist nahe!' – mit diesem Bedürfniswort wollen wir das lezte Jahr des 18. Jahrhunderts beschliessen u. mit diesem Bedürfniswort das erste des 19. Jahrhunderts anfangen! Vielleicht, daß das neüe Jahrhundert das angenehme Jahr des Herrn – die 1000jährige Ruhe des Volkes Gottes herbey bringen wird!
O Liebe! mit funkelnd wainenden Augen sehn' ich mich nach dieser Ruhe! Sie werde Ihnen u. mir u. allen zu Theil, die die Erscheinung unsers Herrn lieb haben!
Und damit entlaß ich Sie nun: die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des H[eiligen] Geistes seye mit Ihnen u. mit Ihrem Geiste in der Zeit u. in der Ewigkeit,
Amen!"
