20.1.1805
Ich predigte heüt über Jes. XXXIII,2. Anf.
"Herr! Erbarme Dich unser."2436
Die Fortsetzung von Jes. 33,2 lautet: "Auf Dich hoffen wir, sei unser Arm an jedem Morgen, ja unsere Hilfe in der Zeit der Drangsal!"schliessen
Ich zeigte im Eingang, daß die fürchterlichen Vorfälle der vorigen Woche mich bewogen haben, an diesem Sontag über dies Jesaische Gebeth um die Erbarmung Gottes zupredigen, weil diese genug zeigen, daß wir den Bedürfen. So dann im Verfolg meiner Rede, die ich unter viel Gebeth zu meinem Gott u. mit scharf wägender Bedachtsamkeit geschrieben habe, führte ich meine Zuhörer auf folgende 3 wesentliche Punkte, warum wir der Gnade u. Barmherzigkeit unsers Gottes bedürfen,
1.) weil viele von ihnen das, was uns schrekendes, vor der Sünde u. dem Laster warnendes Beyspiel seyn sollte, zum fürchterlichsten Muthwillen, zur Füllerey u. Trunkenheit, zur frevlen Vergreiffung am Leib u. am Leben unsers Nächsten u. Nebenmenschen mißbrauchen. Hier führte ich sie auf die Geschichte des lezten Montag, u. zeigte ihnen aus dem Begriff eines Exekutionstages, wie fürchterlich verkehrt viele von ihnen diesen Tag zugebracht haben.
2.) Weil viele von ihnen keine Religion u. Gottesfurcht, keine Sittlichkeit u. Ehrbarkeit, keine Schaam vor Gott u. Menschen, keine innige Anmuth u. Liebe haben, sich mit ihrer Lasterhaftigkeit u. Gottlosigkeit noch brüsten, in ihrer Verkehrtheit stolz einher tretten, alle aelterliche Warnung verachten, u. das Joch der religiosen, sittlichen u. politischen Geseze von sich werfen.
3. Weil unser Gott allein es sey, der uns noch aus unsrer Verkehrtheit, aus unserm religiosen u. sittlichen Verderben, aus unsrer Unordnung und Zerrüttung, aus unsrer Schmach u. Schande, aus der Gefahr, ewig verloren zugehen, erretten könne.
Herr, erbarme Dich unser!
Hilf Du, wo wir nicht mehr helfen; rede Du, wo wir nicht mehr reden; erweiche Du, wo wir nicht mehr erweichen; schlage Du, wo wir nicht mehr schlagen, u. züchtige Du, wo wir nicht mehr züchtigen können! ach, wo unsre Hilfe aus ist, da ist doch Deine Hilfe nicht aus. Wo wir nichts mehr vermögen, da vermagst Du noch etwas. Deine Erbarmung ist grösser, als unsre Sünden, u. Deine Kraft mächtiger, als unsre Verkehrtheit u. Verhärtung. Oh nihm die Binde ab den Augen so vieler verblendeter Aeltern, ab den Augen so vieler verhärteter Kinder! ach laß sie auf Dich als auf ihren einzigen Erbarmer bliken: u. dieser Blik ziehe ihnen Deine ganze Erbarmung zu! u.s.w.
Vieler meiner Zuhörer Rührung war offenbar; vieler Entrüstung war auch offenbar: doch erstere war überwägend: u. noch an diesem Tage ward mir bezeügt, daß, wer ein Wort nun wieder diese Predigt rede, der gewiß aller Belehrung unfähig seye.
An diesem Sontag Abend kame der Bruder des geschlagenen Groben2437
Die Person konnte nicht identifiziert werden; zur Sache siehe Tagebuch vom 16.1.1805.schliessen
zu mir, u. sagte mir, wie's um seinen Bruder stehe – aüsserst gefährlich nemlich immer: er lige beynahe in einer fortdaurenden Sinnlosigkeit, leide fürchterlichen Durst, u. rede nichts. Der Distriktarzt habe ihn gestern auf die Beine stellen wollen, aber er seye so gleich eingesunken: die Wunde seye beynahe heil, aber innerlich seye er noch fürchterlich angegriffen, u.s.f. ich erschrak über diesen Bericht, weil ich immer noch die Hofnung hatte, daß der Geschlagene doch noch mit dem Leben davon kommen werde: wir verordneten dem Kranken etwas für den Durst. ––
