16.10.–23.10.1799
Morgens um 9 Uhr verabscheidete ich mich nun auch beym Kleinod: u. gienge noch für eine Stunde in die Helferey,286
Die Amtswohnung des Fraumünsterpfarrers, damals Georg Gessner, an der Waaggasse.schliessen
die uns nur zu bald hingeschwunden war. Ich redte mit der l[ieben] Nette287Anna Gessner, geb. Lavater (1771-1852), Johann Caspar Lavaters Tochter und Georg Gessners zweite Frau.schliessen
über seinen288Hier und im Folgenden mundartl. Neutrum für das Femininum: ihren.schliessen
l[ieben] Papa, wo es mir offen gestand, "es für sich glaube fast, der Herr werd es den Feinden seines Papa's nicht gelingen lassen, daß er an seinen Wunden sterbe: aber es seyen gewisse Symptomen da, die ein Schleichfieber289Schwindsucht, Auszehrung.schliessen
befürchten lassen: u. dann seye der Liebe über alle Vorstellung empfindlich, wie noch in keiner Krankheit." Dies machte mich wehmüthig in mancher Rüksicht. Dem Georg290Hans Georg Gessner (1765-1843), Sohn von Pfr. Caspar Gessner, Schwager von Diethelm Schweizer, verh. mit 1) 1791 Bäbe Schulthess, 2) 1795 Anna Lavater; ord. 1787, dann Vikar seines Vaters in Dübendorf, 1791 Diakon und 1794 Pfr. am Oetenbach und Diakon am Fraumünster, 1799 Pfr. am Fraumünster, 1828 Pfr. am Grossmünster und Antistes; ZhPfrB, 295; HBLS III, 500; Georg Finsler, Georg Gessner, 1862.schliessen
entdekte ich noch der l[ieben] Cäther291Anna Catharina (Cäther) Brunner, geb. Keller (1764-1818), Schwester von Anna Margaretha (Grite) Keller, verh. mit 1) 1790 Pfr. Caspar Brunner (gest. 1793), 2) 1800 Rudolf Nägeli; Stammbaum Gessner-Keller, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
auf Brunnen ehl[iches] Versprechen mit dem Nägeli:292Rudolf Nägeli, Bauer und Seckelmeister aus Kilchberg, heiratete im März 1800 Anna Catharina Brunner, geb. Keller.schliessen
er erschrak heftig u. sagte so gleich – mit diesem Schritte verlieren sie alle Innigkeit ihrer bisherigen christlichen Freündschaften: u.s.f. was mir auch ganz einleüchtete. Allein nun musste ich mich eben auf Brunnen auf den Weg machen. Es war aüsserst angenehm Wetter, u. ich laufte nicht streng, um den heitern Himmel, unter dem ich wandelte, zugenießen. Um 12 Uhr langte ich bey den Lieben an, asse mit ihnen ihr schwesterliches Mahl; redeten noch ein Wort von ihrer Verbindung, wo ich sie dringend bate, doch alles wohl zuprüfen: u. verabscheidete mich dann von ihnen, wo ich dann meinen Weg nach Hause in einem fort machte: um 6 Uhr war ich bey meinen Lieben, die ich mit den Kindern ganz wohl antrafe: so bald wir allein waren, sagte ich ihnen von der Cäther Heürath: beyde schlugen die Hände zusammen u. jammerten ... Hier nun über diese Sache noch einen Auszug aus einem Brief von unserm Georg v. 23 d[es] M[onats]. "Vorige Woche waren die Schwestern ab Brunnen hier.
Sie sprachen mit mir von ihrer Angelegenheit.
Wenn es beschlossen ist, Liebe! sagte ich, so versichere ich eüch, daß der Mann mit aller mir möglichen Achtung u. Liebe von mir soll aufgenohmen werden, u. daß ich für eüch bethen will. Sonst kan ich eüch, nachdem es beschlossen ist, nichts sagen.
Sie wollten nun aber durchaus meine Gedanken wissen, ohne bestimmt zu sagen ob es beschlossen sey oder nicht. Mit aller Schohnung u. Freymüthigkeit macht ich sie nun aufmerksam –
1. auf das unersezliche Mißverhältniß der Cultur, das bey christlicher Freündschaft unbeschadet statt haben kan; aber in der ehl[ichen] Verbindung eine nie versiegende Quelle von grössern u. kleinern Leiden sein muß. Sie zerstöhren ihr haüsliches Glük, das izt idealisch ist.
2. Auf den unvermeidlich schädlichen Einfluß auf ihre bisherigen Freündschaften, besonders mit Heß.293
3. Auf den nicht zu berechnenden Schaden für ihre Kinder in Absicht auf Erziehung, künftige Bestimmung, u. selbst oekonomische Lage. Schon izt bringen sie zwo ewig nicht gleichwerdende Klassen von Menschen zusamen, u. eine dritte, abermals verschiedene u. verschieden bleibende werden sie zeügen: u. so auf alle Zeiten drey unvereinbare Nationen und Nationalcharakter in einem Hause haben
Eüre Vernunft, sagt ich, ist gebunden, nur eüre Liebe spricht: Sehet eüch vor, daß ihr nicht eüre Herzensstimme Gottes Stimme nennt!
O wie viel hätte ich ihnen noch sagen mögen, aber ich wollte für alles die Delikatesse294
Sie sprachen mit mir von ihrer Angelegenheit.
Wenn es beschlossen ist, Liebe! sagte ich, so versichere ich eüch, daß der Mann mit aller mir möglichen Achtung u. Liebe von mir soll aufgenohmen werden, u. daß ich für eüch bethen will. Sonst kan ich eüch, nachdem es beschlossen ist, nichts sagen.
Sie wollten nun aber durchaus meine Gedanken wissen, ohne bestimmt zu sagen ob es beschlossen sey oder nicht. Mit aller Schohnung u. Freymüthigkeit macht ich sie nun aufmerksam –
1. auf das unersezliche Mißverhältniß der Cultur, das bey christlicher Freündschaft unbeschadet statt haben kan; aber in der ehl[ichen] Verbindung eine nie versiegende Quelle von grössern u. kleinern Leiden sein muß. Sie zerstöhren ihr haüsliches Glük, das izt idealisch ist.
2. Auf den unvermeidlich schädlichen Einfluß auf ihre bisherigen Freündschaften, besonders mit Heß.293
Welcher Hess gemeint ist, ist nicht klar; wahrscheinlich der unten genannte Antistes Johann Jakob Hess, aber vielleicht auch ein Hess aus der Familie von Bäbe Gessner-Hess: ein Onkel von Bäbe war in zweiter Ehe mit einer Küngolt Keller aus der Familie Keller vom Steinbock verheiratet, der auch die Schwestern Anna Margaretha und Anna Catharina entstammen.schliessen
3. Auf den nicht zu berechnenden Schaden für ihre Kinder in Absicht auf Erziehung, künftige Bestimmung, u. selbst oekonomische Lage. Schon izt bringen sie zwo ewig nicht gleichwerdende Klassen von Menschen zusamen, u. eine dritte, abermals verschiedene u. verschieden bleibende werden sie zeügen: u. so auf alle Zeiten drey unvereinbare Nationen und Nationalcharakter in einem Hause haben
Eüre Vernunft, sagt ich, ist gebunden, nur eüre Liebe spricht: Sehet eüch vor, daß ihr nicht eüre Herzensstimme Gottes Stimme nennt!
O wie viel hätte ich ihnen noch sagen mögen, aber ich wollte für alles die Delikatesse294
Von frz. délicatesse: Feingefühl, Takt.schliessen
nicht verlezen. Warum sind doch diese feinsinnigen, so richtigen Takt habenden edeln Kinder, wenn es um Verheürathung zuthun ist, so vor den Kopf geschlagen? Wir wißen, was sie daran schon das erste Mal gethan – aber wir dürfen es nicht sagen: warum fühlen sie es nicht selbst? wie sehr sie durch jene Verbindung zurük kamen. Liebe, bethet für sie. Sie haben meine Vorstellungen – sie sind auch ganz Papa's295Wahrscheinlich Gessners Schwiegervater Johann Caspar Lavater (1741-1801), Sohn des Johann Heinrich, Arztes, und der Regula Escher vom Glas, verh. 1766 mit Anna Schinz; ord. 1762, 1765 Mitglied der Helvetischen Gesellschaft und Mitarbeiter am Erinnerer, 1769 Diakon, 1775 Pfr. am Oetenbach, 1778 Diakon, 1787 Pfr. an St. Peter. Mit seinen Werken, bes. den Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1783-1787) und den Aussichten in die Ewigkeit (1768/69) wurde er eine europäische Berühmtheit, unterhielt Kontakt mit u.a. Spalding, Herder, Jung-Stilling, Claudius, Goethe; HBLS IV, 636; ZhPfrB, 403; Killy VII, 181-183.schliessen
Gefühle – zwar artig angenohmen. Heß296Johann Jakob Hess (1741-1828), ord. 1760, dann Vikar seines Onkels Kaspar in Neftenbach, anschliessend ausführliches Bibelstudium, Grundlage seines grossen theologischen Werks, 1777 Diakon am Fraumünster, 1777-1795 Präs. der Asketischen Gesellschaft, 1795 Antistes; HBLS IV 208f.; ZhPfrB, 334f.; G. Gessner, Blicke auf Leben und Wesen von J.J. Hess, 1829, F. Ackva, Johann Jakob Hess (1741-1828) und seine Biblische Geschichte, Bern 1992; Nachlass in ZBZ: FA Hess 1741, und StAZ: Amtsnachlass.schliessen
hat ihnen ungefehr das gleiche gesagt: ich sprach mit ihm darüber."––
