16.4.–24.4.1801
Zurück zum Register
1 Vorkommen in diesem Eintrag
Eintrag drucken
Den 16–24. Apr[il]
Stadtbesuch mit meiner Nette623
Anna Schweizer, geb. Gessner (1757-1836), Tochter von Pfr. Caspar Gessner u. Elisabeth, geb. Keller, verh. 1785 mit Diethelm Schweizer; vgl. Hauschronik, 30, 32-34, 91, 139f.schliessen
u. Sette,624
Elisabeth Gessner (1755-1831), Schweizers Schwägerin, Tochter von Pfr. Caspar Gessner u. Elisabeth, geb. Keller, lebte seit der Heirat Schweizers mit Anna Gessner 1785 in deren Haushalt, vgl. Hauschronik 33, 91.schliessen
u. den 3 jüngsten Kindern.625
Regula (geb. 1791), Margaretha Barbara (Meta) (geb. 1797) und Dorothea (geb. 1799).schliessen

Ich merke folgendes darüber an.
1.
Dies war das erste Mal, da wir unsre Haushaltung unsern beyden aeltesten Töchtern626
Elisabeth (Sette) (1796-1824) und Anna (Nette) Schweizer (1787-1837).schliessen
zuführen übergaben.
2.
Der Hauptendzweck dieses unsers Stadtbesuches war, daß die schwachen Augen meiner Nette von dem l[ieben] Jung u. Heinrich Stilling,627
Johann Heinrich Jung (1740-1817) genannt Jung-Stilling, Arzt, Prof. für Kameralistik und religiöser Schriftsteller. 1770-1772 Studium der Medizin in Strassburg, wo er Goethe kennenlernte, der ihn zur Niederschrift seiner Lebensgeschichte anregte, ab 1772 praktizierender Arzt, bekannt geworden v.a. durch seine Staroperationen, 1778 Professor für Landwirtschaft, Technologie und Vieharzneikunde an der Kameralschule Kaiserslautern und Heidelberg (1784), 1787 Professor für Kameralistik in Heidelberg, 1803 Berater des Kurfürsten, nachherigen Großherzogs Karl Friedrich von Baden (1728-1811) und freier religiöser Schriftsteller; publizierte u.a. den Roman Das Heimweh (1794-1796) u. die Zeitschrift Der graue Mann (1795-1816); Beziehungen zu Lavater, Jacobi, Juliane von Krüdener und zu unzähligen pietistischen Konventikeln, u.a. zu den hier erwähnten Zürcher, St. Galler und Schaffhauser Kreisen. Umfangreiche Korrespondenz (ca. 20000 Briefe); NDB X, 665-667; Killy VI, 160-162; Hauschronik, 57, 66, 86, 163.schliessen
der auf Zürich kam, visitirt würden, u. wir diesen merkwürdigen Menschen auch sehen u. geniesen könten.
3.
Dies leztere ward uns zimlich zu Theil. Wir assen einmal mit ihm bey unserm Georg628
Hans Georg Gessner (1765-1843), Sohn von Pfr. Caspar Gessner, Schwager von Diethelm Schweizer, verh. mit 1) 1791 Bäbe Schulthess, 2) 1795 Anna Lavater; ord. 1787, dann Vikar seines Vaters in Dübendorf, 1791 Diakon und 1794 Pfr. am Oetenbach und Diakon am Fraumünster, 1799 Pfr. am Fraumünster, 1828 Pfr. am Grossmünster und Antistes; ZhPfrB, 295; HBLS III, 500; Georg Finsler, Georg Gessner, 1862.schliessen
zu Mittag: ein andermal tranken wir mit ihm im Schönenhof629
Stadthaus der Barbara Schulthess-Wolf, an der Ecke Kühegasse (heute Rämistrasse) – Stadelhofgasse gelegen.schliessen
den Thee; u. wohnten mit ihm einer Feyrstunde630
Unter "Feyrstunde" versteht Schweizer ein ausserhalb der Kirche im kleinen Kreis der Frommen eingenommenes "Privatabendmahl", wie er sie seit Februar 1778 in steigender Intensität mit den Töchtern der Familie Gessner gefeiert hat; vgl. im Begleitbuch zur CD das Kap. III, darin: "Gemeinschaft in Christo".schliessen
bey am lezten Abend seines in Zürich Seyns. Er schien keine solche Idee von der Privatkommunion gehabt zu haben: er ward sehr gerührt, so daß er nur nicht Abschied von der Gesellschaft nehmen konnte.
4.
Jung ist physiognomisch631
In Lavaters Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe ist Jung-Stilling mit einem Kupferstich von Georg Friedrich Stoll auch aufgenommen; in seiner Lebensgeschichte (vollständige Ausgabe, hg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1976, 323, Anm. S. 729f.) schildert Jung, der sich im Übrigen kritisch zu Lavaters "System" geäussert hat (ebd., 322), diese erste Begegnung mit Lavater und die Umstände der Porträtsitzung. Lavater seinerseits charakterisierte Jung so: "Sein Blick ist nicht eines tiefgrabenden Erforschers! Aber Blick dennoch eines glücklichen, freyen Genies! die gerade, freye, unverstellte und dennoch überlegungsreiche Seele; dieß seltene Gemisch von Kindereinfalt, Kinderbiegsamkeit, reizbaren Enthusiasmus – und immer Herzensfestigkeit; diese Treue im Berufe; diese wahre, tiefe unschwatzhafte Gottesfurcht, dieser Fleiß, diese Ruhe, diese plane hell fortfließende Stille der Seele ..."; Physiognomische Fragmente (1775), 208f.schliessen
sehr ausgezeichnet – durch Leiden u. Druk Kraft- u. Liebevoll gemacht: Kindlich fromm u. religios: aufspringend an ihm der Bether: übrigens schnell, kurz, oft troken. Seine Frau,632
Jung-Stillings damalige Frau ist seine dritte Gattin, Elisabeth, geb. Coing (1760-1817); vgl. Jung-Stillings Lebensgeschichte, hg. von Gustav Adolf Benrath, 467-469.schliessen
die mit ihm reiset, ist eine edle gute mittheilende liebe Seele – auch voll Religionsliebe.
5.
Er hat die Reise in die Schweiz als Augendoktor u. Starroperist633
Jung-Stilling promovierte 1773 in Strassburg zum Arzt und wurde berühmt für seine Staroperationen. Seine ersten Operationen und den beginnenden Erfolg beschreibt er im ersten Teil seiner Lebensgeschichte (vollständige Ausgabe, hg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1976, 309ff.); auch auf seinen Reisen war er jeweils als "Staroperist" tätig, so auch auf dieser zweiten Schweizerreise, die er in seiner Lebensgeschichte auch beschreibt (ebd., 575-581), ohne dabei, im Gegensatz zur ersten Reise (ebd., 540-549) auf seinen Zürcher Aufenthalt einzugehen.schliessen
gemacht: nur in Schaafhausen, Winterthur u. Zürich hat er über die 50 Operationen gemacht: daher immer ein fürchterliches Gedräng von Augen-Patienten um ihn war, das ihn sehr ermüdete u. machte, daß man ihn nicht so religios genießen konnte, als man gern gehabt hätte. Wer unanmassend sich ihm nahete, der erhielte noch ammeisten von ihm.
6.
Meiner Nette rieth er für sein634
Mundartl. Neutrum für das Femininum: ihr.schliessen
schwaches Aug das Zukerwasser zubrauchen: auch gustirte er unser Augenpflaster für triefende flüssige Augen.
7.
Es war uns, so oft wir ihn sahen, innig wohl; u. unser Aug u. Herz waidete sich an diesem von Christus so ausgezeichneten Manne.
8.
Mit herzlicher Zufriedenheit über alles Gesehene u. Genossene kehrten wir wieder in unsern Hirzel zurük, u. trafen da alles in der Ordnung u. wohl bestellt an. Gott seye Dank dafür!
––

 


Zurück zum Register