14.2.1805
An A. Maria Bernet2481
Anna Maria Bernet (geb. 1765), Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, verh. 1808 mit Pfr. Christian Sulzer.schliessen
z. St. Gallen. "Meine Theüre!
Sie haben den 23 April 1804 einen so herzlichen Brief an mich u. meine Lieben geschrieben, daß ich doch den 23 April 1805 nicht will kommen lassen, ohne Ihnen auf diesen Brief etwas geantwortet zuhaben. Sie werden zwar aus den Auszügen aus meinem Tagebuch, die ich auf's Ende des vorigen Jahrs den l[ieben] Bernetischen Schwestern gemacht habe, zum Theil ersehen haben, daß sie mein Stillschweigen gegen Sie alle ersezen sollen. Allein gegen Sie kan ich mich mit diesen Auszügen nicht beruhigen, u. es wäre mir nicht zuverzeihen, wenn ich Sie, die so wenig Zeit zum schreiben haben, ganz leer ausgehen liesse in Absicht auf Ihren obbedeüteten Brief. Muß man doch eben solche Menschen, die für andre sich aufopfern, besonders ins Aug fassen, u. ihre Aufopferung zunähren suchen, damit ein reicher Gewinn ihnen daraus entstehe.
Oh Sie sind mir auf Ihrem Posten respektabel, u. mit mir gewiß vielen Tausenden uns izt unbekanten ehrlichen2482
Oh es ist gewiß eine Segenreiche Schuhle, wo wir zu Kindern in die Schuhle gehen müßen: wir sehen da nicht bloß, wie wir Kinder waren, sondern auch, wie wir durch Anstrengung und Verlaügnung uns zum Reich der Himmeln geschikt machen müßen: u. was für Hindernisse für uns selbst, in unserm Temperament, in unsrer physischen u. moralischen Organisation ligen, die wir bekämpfen müßen, damit alle Sinnlichkeit in uns schweige, u. nur das in uns zur Sprach komme, was ächt menschlich u. christlich ist, um durch das uns ins Reich der Himmeln hinein zubilden. Wie ich sehe, daß meine Kinder meiner bedürfen, um als Menschen zubestehen, so zeigen sie mir, daß ich des Christus bedarf, um als Christ zubestehen. Und was mich auf dies Verhältniß mit dem Herrn führt, sollte mir das nicht respektabel, gleichsam ein Heiligthum seyn, in dem ich gerne wandle u. in dem ich priesterlich bethend u. opfernd mich zu jeder Zeit des Tages – beym Morgen u. Abendgebeth u. zwischen ein bey der Tagesarbeit, u. bey des Tages Freüden u. Erhohlungen einfinde. Kurz, der Craiß der Kinder ist eigentlich der christliche Craiß, in den wir versetzt werden, u. in dem wir ammeisten für uns lernen könen. 'Solcher ist das Reich Gottes'2486 – welch ein erhabnes, uns alles sagendes Wort, was wir werden sollen, um einst am ewigen Reich unsers Herrn u. Heilandes Jesu Christi Theil zuhaben.
Herzlichen Dank Ihnen, m[eine] Th[eüre]! für Ihre innige Theilnahme an unsern frohen u. traurigen Schiksalen, die uns trafen, seit Sie mit Ihrem l[ieben] Bruder Jakob2487
Liebe! wir denken uns oft in Ihre Lage hinein, u. bethen für Sie. Thun Sie das auch für uns. Unsre dermalige Lage ist Gottlob ruhig, u. wir leben in unserm Craiße mit stillem u. mit lautem rufen: Vorwärts! Vorwärts!
Der Herr nahe sich Ihnen, so oft Sie sich Ihm nahen!
Seine Gnade werde an uns allen täglich offenbarer, u. nach allen Tagen komme Er bald zu den Seinen, Amen!"
Sie haben den 23 April 1804 einen so herzlichen Brief an mich u. meine Lieben geschrieben, daß ich doch den 23 April 1805 nicht will kommen lassen, ohne Ihnen auf diesen Brief etwas geantwortet zuhaben. Sie werden zwar aus den Auszügen aus meinem Tagebuch, die ich auf's Ende des vorigen Jahrs den l[ieben] Bernetischen Schwestern gemacht habe, zum Theil ersehen haben, daß sie mein Stillschweigen gegen Sie alle ersezen sollen. Allein gegen Sie kan ich mich mit diesen Auszügen nicht beruhigen, u. es wäre mir nicht zuverzeihen, wenn ich Sie, die so wenig Zeit zum schreiben haben, ganz leer ausgehen liesse in Absicht auf Ihren obbedeüteten Brief. Muß man doch eben solche Menschen, die für andre sich aufopfern, besonders ins Aug fassen, u. ihre Aufopferung zunähren suchen, damit ein reicher Gewinn ihnen daraus entstehe.
Oh Sie sind mir auf Ihrem Posten respektabel, u. mit mir gewiß vielen Tausenden uns izt unbekanten ehrlichen2482
Im Tagebuch: ehlichen.schliessen
Menschen u. Christen, die das vom Herrn beschehrte Glük haben u. genießen, eine mütterliche Tante in ihrer Mitte zuhaben. Ihre th[eüre] Schwester Anna2483Anna Schlatter-Bernet (1773-1826), Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, verh. 1794 mit Hektor Schlatter; in deren Haushalt lebte und wirkte Annas Schwester Anna Maria bis zu ihrer Verheiratung mit Pfr. Sulzer.schliessen
geniesst dies Glük in Ihnen, u. wir geniessens in unsrer mit uns alternden th[eüren] Sette.2484Elisabeth (Sette) Gessner (1755-1831), lebte seit der Heirat Schweizers mit Anna Gessner 1785 in deren Haushalt und spielte in der Fam. Schweizer diese Rolle einer "mütterlichen Tante" bis zu ihrem Tode; vgl. Hauschronik, 33, 91.schliessen
Und da muß ich von allen so besondern Gnaden, die der Herr den Seinen ertheilt, denken, daß Er sie allen allen Seinen an allen Orthen ertheile; u. Sie allso, m[eine] Th[eüre]! mit allen diesen mütterlichen Tanten im Aufgang u. Niedergang, im Mittag u. Mitternacht in genauer Verbindung stehen, u. mit ihnen allen einst im Reich der Himmeln mit Abraham, Isaak, u. Jakob zu Tische sizen, u. an jenem Abendmahl Theil haben werden, das der Herr mit allen Seinen zuhalten verheissen hat.2485 Oh das mache Sie stark zu bestehen in jedem Kampfe, der Ihnen fürgeleget ist; das erhöhe Ihren Muth in jedem Schwachheitsgefühl; das lichte Ihre Seele auf in jeder Düsternheit, die in ihr aufsteiget, das halte Sie fest im Glauben, daß der Herr Ihre Arbeit nicht ohne auffallenden Segen, nicht ohne reichen Lohn werde seyn lassen. Oh es ist gewiß eine Segenreiche Schuhle, wo wir zu Kindern in die Schuhle gehen müßen: wir sehen da nicht bloß, wie wir Kinder waren, sondern auch, wie wir durch Anstrengung und Verlaügnung uns zum Reich der Himmeln geschikt machen müßen: u. was für Hindernisse für uns selbst, in unserm Temperament, in unsrer physischen u. moralischen Organisation ligen, die wir bekämpfen müßen, damit alle Sinnlichkeit in uns schweige, u. nur das in uns zur Sprach komme, was ächt menschlich u. christlich ist, um durch das uns ins Reich der Himmeln hinein zubilden. Wie ich sehe, daß meine Kinder meiner bedürfen, um als Menschen zubestehen, so zeigen sie mir, daß ich des Christus bedarf, um als Christ zubestehen. Und was mich auf dies Verhältniß mit dem Herrn führt, sollte mir das nicht respektabel, gleichsam ein Heiligthum seyn, in dem ich gerne wandle u. in dem ich priesterlich bethend u. opfernd mich zu jeder Zeit des Tages – beym Morgen u. Abendgebeth u. zwischen ein bey der Tagesarbeit, u. bey des Tages Freüden u. Erhohlungen einfinde. Kurz, der Craiß der Kinder ist eigentlich der christliche Craiß, in den wir versetzt werden, u. in dem wir ammeisten für uns lernen könen. 'Solcher ist das Reich Gottes'2486 – welch ein erhabnes, uns alles sagendes Wort, was wir werden sollen, um einst am ewigen Reich unsers Herrn u. Heilandes Jesu Christi Theil zuhaben.
Herzlichen Dank Ihnen, m[eine] Th[eüre]! für Ihre innige Theilnahme an unsern frohen u. traurigen Schiksalen, die uns trafen, seit Sie mit Ihrem l[ieben] Bruder Jakob2487
Jakob Bernet (1775-1874), Gerber, verh. 25.10.1801 mit Sabine Rietmann; vgl. Tagebuch vom 25.10.1801.schliessen
bey uns waren. Ja, Liebe! wir glauben wirklich, der Revolutionssturm, der über uns ergangen ist, habe unter anderm dazu dienen müßen, um uns unsrer Gemeine aufzudeken, was wir seyen; u. es ist zum Theil geschehen: aber der Revolutionisme, von dem der weit größere Theil meiner Gemeine angestekt u. gefangen genohmen ist, hat hier wie an allen Orthen, wo er herrscht, Augen, die nicht sehen, Ohren, die nicht hören, Herzen, die nicht verstehen:2488In Anlehnung an Mat. 13,13ff. , Mark. 4,12 resp. Jes. 6,9-10 ; vgl. auch Off. 2,7.11.17.29 ; Off. 3.6.13.22 .schliessen
u. dann hats noch so viele, die auf dem Scheidweg stehen, u. nicht wißen, zu welcher Parthey sie sich schlagen wollen: u. die Guten, die wirklich die gute Parthey ergrieffen haben, haben so viel egoistisches, daß sie auch ehandum2489Wohl im Sinne von: im Handumdrehen.schliessen
über den Haufen geworfen sind. Doch, ich will Sie hievon nicht weiter unterhalten, aber mit Ihnen an dem Grundsaz vest bleiben: 'Der Christ gewinnt immer in allem u. durch alles.'2490Der zitierte Gedanke ist möglicherweise aus 1. Kor. 9,24f. abgeleitet: "Wisst ihr nicht, dass die, welche in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber nur einer den Preis erlangt? Laufet so, dass ihr ihn erlangt! 25) Jeder Wettkämpfer aber ist in allen Dingen enthaltsam; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen."schliessen
Ja, th[eüre] Liebe! dies ist gewiß eine Erfahrungswahrheit aller Christen, die durch enge Dinge der Weite zuwandeln müßen, u. die allein durch jene erreichen könen. Und wo ist in unsern Tagen u. Zeiten ein Christ, ein wahrer Ehrer u. Verehrer Jesu, der nicht enge Dinge leiden müße? Oh dieser engen Dingen sind unbescheiblich viel, u. haben [113] ihre verschiedenen Nammen u. Rubriken; u. der Herr bezeichnet jedem seiner Verehrer die, die ihn bey Ihm erhalten. Selig, wer da bis ans End verharret! Liebe! wir denken uns oft in Ihre Lage hinein, u. bethen für Sie. Thun Sie das auch für uns. Unsre dermalige Lage ist Gottlob ruhig, u. wir leben in unserm Craiße mit stillem u. mit lautem rufen: Vorwärts! Vorwärts!
Der Herr nahe sich Ihnen, so oft Sie sich Ihm nahen!
Seine Gnade werde an uns allen täglich offenbarer, u. nach allen Tagen komme Er bald zu den Seinen, Amen!"
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