12.12.1802
Wir bereiteten uns heüte mit aller Ruhe zur Kirche. Gv. Schuhlmeister kam zu uns, u. der rieth mir, daß ich mit dem kleinen Glökli in die Kirche laüten laßen soll: ich gabe dem Siegrist dazu Befehl: er fieng an laüten – die Gemeine versammelte sich. Und siehe, man kam mir zusagen, "daß sich wieder 2 meiner Gegner in Werktagskleidern beym Kirchhofthürli postiren, u. der Huber876
Herr Jesus! seüfzt' ich – da wirds wieder etwas geben! Dennoch fassten wir uns, u. wagtens in die Kirche zugehen.
Die 2 beym Thürli stehenden ließen meine Kinder vorbey; Mamma wollte ihnen nach, u. wäre auch durchgelaßen worden: aber sie blieb stehen: denn der eine dieser Männer – Bruppacher878
"Du lasterhafter Mensch! brüllte er mir aus vollem Halß entgegen ...
Du Meineid! Du Rebell wieder die Constitution von 98, wieder die Nation! wieder Frankreich, wieder Bonaparte den grossen Consul! /hier zog er den Güllenhut ab, den er auf hatte, und sezte ihn schnell wieder auf/ Du bist nicht würdig, eine Kanzel zubesteigen! Du must einen Vikar haben!"
In aller Güte sagte ich zu ihm – "er solle mich doch in die Kirche laßen, u. die versammelte Gemeine nicht wieder am Gottesdienst hindern."
Nichts! sagte er, u. fieng an zufluchen aus vollem heissern Hals.
Ich wandte mich an einige Gemeinsgenossen, die mit uns zur Kirche wollten, u. mit uns stille standen: zu diesen sagte ich: "Sie sehen u. hören, wie dieser Mensch wüthe: ich köne ihm mich nicht Preiß geben, u. Händel anfangen: auch meine beßern Gemeinsgenossen könen sich nicht mit ihm schlagen: es seye das Beste, daß sie sich auch heüte den Gottesdienst so freventlich rauben lassen: ich kehre in mein Haus zurük mit Wehmuth: mit Wehmuth sollen sie auch in ihre Haüser zurük kehren. Es werde wol noch anders kommen." u. damit gieng ich mit den Meinen ins Pfarrhaus zurük, wo der graüliche Mensch in seiner Wuth – denn wüthend war er – noch vieles zurief, auf das ich aber nicht mehr achtete. Und da standen wir wieder vor einander – staunend, daß uns das zum 2ten Mal habe begegnen müssen: so seye, sagten wir zu einander, gewiß noch kein Pfarrer u. keine christliche Gemeine behandelt worden.879
Ich konte mich jedoch bald faßen, u. hinsezen, so gleich dies neüe Ereigniß auf Zürich an den Reg. Stadth.,880
An diesem Sontag Abend erscholl noch das Gerücht, daß die Rotte mich von hier deportiren wolle. Einige meiner Freünde liessen mir das sagen, u. zugleich bitten, daß ich doch weichen, u. in die Stadt gehen soll. Ich achtete aber noch nicht viel hierauf. Denn solcher Gerüchte war um diese Zeit eine Legion: auf welche alle zuachten uns peinlich schwer gefallen wäre. Wir brachten den Sontag Abend in Stille zu, und konnten unsre gewöhnliche Abendmahlfeyr in Ruhe halten: Drangvoll betheten wir zu unserm in allem Menschlichen versuchten Menschengott.
Jakob Huber im Feld, der Anführer von Schweizers Gegnern; vgl. Hauschronik, 43f., 51f.schliessen
mit einem diken Steken877Vermutlich in Anlehnung an die Prügelmänner, die auf eine alte ländliche Protesttradition zurückgehen, und dann 1798, im Übergang von der Helvetik zur Mediation 1802/03 und 1804 im Vorfeld des Bockenkriegs im ländlichen Protestverhalten eine Rolle spielten; vgl. Graber, Zeit des Teilens, 180f., 295, 321ff.schliessen
auf dem Kirchhof stehe." Herr Jesus! seüfzt' ich – da wirds wieder etwas geben! Dennoch fassten wir uns, u. wagtens in die Kirche zugehen.
Die 2 beym Thürli stehenden ließen meine Kinder vorbey; Mamma wollte ihnen nach, u. wäre auch durchgelaßen worden: aber sie blieb stehen: denn der eine dieser Männer – Bruppacher878
Brupbacher im Kühweidli, Bauer auf einem Hof auf dem Zimmerberg.schliessen
im Kühweidli schriee mich an: wo ich hinwolle? Er lasse mich hier nicht durch! "Du lasterhafter Mensch! brüllte er mir aus vollem Halß entgegen ...
Du Meineid! Du Rebell wieder die Constitution von 98, wieder die Nation! wieder Frankreich, wieder Bonaparte den grossen Consul! /hier zog er den Güllenhut ab, den er auf hatte, und sezte ihn schnell wieder auf/ Du bist nicht würdig, eine Kanzel zubesteigen! Du must einen Vikar haben!"
In aller Güte sagte ich zu ihm – "er solle mich doch in die Kirche laßen, u. die versammelte Gemeine nicht wieder am Gottesdienst hindern."
Nichts! sagte er, u. fieng an zufluchen aus vollem heissern Hals.
Ich wandte mich an einige Gemeinsgenossen, die mit uns zur Kirche wollten, u. mit uns stille standen: zu diesen sagte ich: "Sie sehen u. hören, wie dieser Mensch wüthe: ich köne ihm mich nicht Preiß geben, u. Händel anfangen: auch meine beßern Gemeinsgenossen könen sich nicht mit ihm schlagen: es seye das Beste, daß sie sich auch heüte den Gottesdienst so freventlich rauben lassen: ich kehre in mein Haus zurük mit Wehmuth: mit Wehmuth sollen sie auch in ihre Haüser zurük kehren. Es werde wol noch anders kommen." u. damit gieng ich mit den Meinen ins Pfarrhaus zurük, wo der graüliche Mensch in seiner Wuth – denn wüthend war er – noch vieles zurief, auf das ich aber nicht mehr achtete. Und da standen wir wieder vor einander – staunend, daß uns das zum 2ten Mal habe begegnen müssen: so seye, sagten wir zu einander, gewiß noch kein Pfarrer u. keine christliche Gemeine behandelt worden.879
Die Szene wird fast identisch auch in Meta Heusser-Schweizers Hauschronik dargestellt; vgl. Hauschronik, 44f.schliessen
Ich konte mich jedoch bald faßen, u. hinsezen, so gleich dies neüe Ereigniß auf Zürich an den Reg. Stadth.,880
Ein Entwurf dieses Briefes an Regierungsstatthalter Hans Jakob Koller (1757-1841) befindet sich im Nachlass FA Schweizer/Heusser, D I 12.schliessen
an Herrn Antistes881Johann Jakob Hess (1741-1828), ord. 1760, dann Vikar seines Onkels Kaspar in Neftenbach, anschliessend ausführliches Bibelstudium, Grundlage seines grossen theologischen Werks, 1777 Diakon am Fraumünster, 1777-1795 Präs. der Asketischen Gesellschaft, 1795 Antistes; HBLS IV, 208f.; ZhPfrB, 334f.; ADB; G. Gessner, Blicke auf Leben und Wesen von J.J. Hess, 1829, F. Ackva, Johann Jakob Hess (1741-1828) und seine Biblische Geschichte, Bern 1992; Nachlass in ZBZ: FA Hess 1741, und StAZ: Amtsnachlass.schliessen
u. an unsre Lieben zuschreiben: es zeigten sich ein paar junge Leüte, die meine Briefe auf Zürich tragen u. selbst zum Reg. Stadthalter um alles willen gehen wollten: ich freüte mich hierüber, denn ich war wirklich verlegen um einen sichern Eilbotten. Schon um 12 Uhr kont' ich die Jünglinge mit den Briefen absenden. Ueber das Mittageßen fiel uns auf, "daß die Rotte diesen Schritt wieder gewaget in der Hofnung, daß eine Schlägerey entstehe, u. sie dann ihre ganze verruchte Sache hinter die verbergen, u. ihre ganze verruchte Sache als eine Schlägerey ausmachen laßen könen." An diesem Sontag Abend erscholl noch das Gerücht, daß die Rotte mich von hier deportiren wolle. Einige meiner Freünde liessen mir das sagen, u. zugleich bitten, daß ich doch weichen, u. in die Stadt gehen soll. Ich achtete aber noch nicht viel hierauf. Denn solcher Gerüchte war um diese Zeit eine Legion: auf welche alle zuachten uns peinlich schwer gefallen wäre. Wir brachten den Sontag Abend in Stille zu, und konnten unsre gewöhnliche Abendmahlfeyr in Ruhe halten: Drangvoll betheten wir zu unserm in allem Menschlichen versuchten Menschengott.
––
