1.9.–30.9.1799
1-8. In diesen Tagen, in denen bey uns alles gleich fortgienge, sahen wir auch wieder einmal einmal257
9–24. Nichts Erhebliches in diesen Tagen in unsrer Nähe vorgefallen: nur fürchterliche Zurüstungen von Seite der Franken zu einem neüen Angriff gegen die Kaiserlichen so wohl bey Zürich als zu Lachen u. Uznach. Und der 25 war dieser fürchterliche Angriffstag. Frühe Morgens hörten wir unten bey der Stadt das Musketenfeüer, u. oben bey Lachen u. Uznach den Canonendonner. Eine fürchterlich blutige Schlacht, wo auf beyden Seiten bey 1000den todt geschossen, bey 1000den verwundet, u. bey 1000den gefangen wurden. In dieser schrekensvollen Lage dachten wir immer an unsre Lieben auf Brunnen, und an unsre Lieben in der Stadt. Von den erstern erhielten [wir] Freytags den 27 folgenden Bericht ...
Samstag den 28 erhielten wir von unsern Lieben in der Stadt folgendes ...
Das zweite "einmal" ist möglicherweise im Sinne des mundartl. "ämel" = jedenfalls, wenigstens zu verstehen oder eine irrtümliche Verdoppelung.schliessen
ein Briefgen von unsrer l[ieben] Bäbe,258Bäbe Gessner, geb. Hess (1754-1826), Tochter von Hans Conrad Hess, Amtmann am Oetenbach, und Anna Barbara, geb. von Orelli, verh. 1779 mit Hans Caspar Gessner; vgl. Stammbäume Gessner-Keller und Hess-von Orelli, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
nicht zwar an uns, sondern an unsre Lieben auf Brunnen,259Die Cousinen Anna Margaretha (Grite) Keller (1763-1820) und Anna Catharina (Cäther) Brunner, geb. Keller (1764-1818), spätere Nägeli, Töchter von Pfr. Hans Heinrich Keller (1719-1771), die auf dem Hof Brunnen in Bendlikon lebten; vgl. Stammbaum Gessner-Keller, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
die es uns zulesen schikten. Es war eine Herzensfreüde, dies Briefgen zulesen, nicht allein darum, weil wir daraus sahen, daß alle unsre Lieben in der Stadt gesund, ruhig u. wohlgetröstet sind; sondern auch darum, weil es eine wahre Beschreibung der Russen, die nach Zürich gekommen, in sich enthält: u. diese Beschreibung will ich nun hier von Wort zu Wort beyfügen ... "Von der russischen Cavallerie, die am Mitwoch u. Donstag kame, sahen wir einen Theil im Lager vor der Sihlbrüke: u. ein anderer Theil muß sich auf der andern Seite der Limat durch das Wähnthal260
Mir ist immer, wir sehen nicht mehr so viele blutige Auftritte da in unsrer Nähe; so scheints die Absicht der obersten Führer der Armeen zuseyn.
Die Russen u. Kosaken, die wir bey so viel 1000 im Lager sahen, frappirten uns gar sehr: ihre Freündlichkeit, ihre Güte u. Gefälligkeit, mit der sie den sie Besuchenden begegnen, lässt sich kaum beschreiben, so wie auch eine gewisse Sanftheit u. bescheidene Stille, die durch alle aüssere Rohheit stark durchdringt u. diese sehr mildert. Noch keine Krieger frappirten mich so; es hat so viele schöne edle Menschengesichter u. Gestalten unter ihnen, so viele unverdorbene Menschen; auch die hiessige Garnison zeichnet sich aus: so still ordentlich u. streng war noch keine: auch ists frappant, wie sie täglich in der Fraumünsterkirche Gottesdienst halten: u. ist dieser griechische Gottesdienst wirklich etwas feyrlich Ehrwürdiges: sie weyhen nun die von den Franzosen entweyhte Fraumünsterkirche wieder zum Gotteshaus ein;261
Das ist izt eine gewiß wahre Beschreibung von der russischen Armee, die, ehe sie da war, so sehr gefürchtet ward, u. von der man sich eine so schrekliche Vorstellung von Wildheit u. Rohheit machte, die gar nicht passt, höchstens im Punkte des Gefechtes gegen über dem Feind, da sind sie gewiß sehr muthvolle, heldenhafte, starke, furchtbare Krieger, u. als solche mehr als die Oestreicher zufürchten."
Wehntal.schliessen
u. gegen Baden gezogen haben. Mir ist immer, wir sehen nicht mehr so viele blutige Auftritte da in unsrer Nähe; so scheints die Absicht der obersten Führer der Armeen zuseyn.
Die Russen u. Kosaken, die wir bey so viel 1000 im Lager sahen, frappirten uns gar sehr: ihre Freündlichkeit, ihre Güte u. Gefälligkeit, mit der sie den sie Besuchenden begegnen, lässt sich kaum beschreiben, so wie auch eine gewisse Sanftheit u. bescheidene Stille, die durch alle aüssere Rohheit stark durchdringt u. diese sehr mildert. Noch keine Krieger frappirten mich so; es hat so viele schöne edle Menschengesichter u. Gestalten unter ihnen, so viele unverdorbene Menschen; auch die hiessige Garnison zeichnet sich aus: so still ordentlich u. streng war noch keine: auch ists frappant, wie sie täglich in der Fraumünsterkirche Gottesdienst halten: u. ist dieser griechische Gottesdienst wirklich etwas feyrlich Ehrwürdiges: sie weyhen nun die von den Franzosen entweyhte Fraumünsterkirche wieder zum Gotteshaus ein;261
Die Fraumünsterkirche wurde beim Einrücken der Franzosen am 26. April 1798 für militärische Bedürfnisse in Anspruch genommen und diente u.a. als Heulager. In der kurzen Zeit der russischen Besatzung wurde dort orthodoxer Gottesdienst gehalten; erst am 23. August 1801 konnte die Kirche wieder für den protestantischen Gottesdienst eingeweiht werden; vgl. Georg Finsler, Georg Gessner, 74f.schliessen
was den l[ieben] Pfr. unsern Georg262Hans Georg Gessner (1765-1843) war als Nachfolger des zum Antistes gewählten Johann Jakob Hess seit Anfang 1795 Diakon am Fraumünster und wurde im Frühjahr 1799, also erst kurz vor dem Einmarsch der Russen, zum Pfarrer am Fraumünster gewählt; Georg Finsler, Georg Gessner, 66, 80.schliessen
unaussprechlich freüt. Der hiessige Priester Pope, wie sie ihm sagen, ist ein grosser schöner Mann mit zierlichem Haupt- und Barthaar, u. hat ein sehr schönes jüdisches Gesicht; viele sehr schöne Christusbilder gleichen ihm; auch seye er im Umgang ein liebenswürdiger Mann, so wie man durchweg allen einquartirten Offiziers u. Gemeinen das beste Zeugniß giebt von Stille und Bescheidenheit. Das ist izt eine gewiß wahre Beschreibung von der russischen Armee, die, ehe sie da war, so sehr gefürchtet ward, u. von der man sich eine so schrekliche Vorstellung von Wildheit u. Rohheit machte, die gar nicht passt, höchstens im Punkte des Gefechtes gegen über dem Feind, da sind sie gewiß sehr muthvolle, heldenhafte, starke, furchtbare Krieger, u. als solche mehr als die Oestreicher zufürchten."
9–24. Nichts Erhebliches in diesen Tagen in unsrer Nähe vorgefallen: nur fürchterliche Zurüstungen von Seite der Franken zu einem neüen Angriff gegen die Kaiserlichen so wohl bey Zürich als zu Lachen u. Uznach. Und der 25 war dieser fürchterliche Angriffstag. Frühe Morgens hörten wir unten bey der Stadt das Musketenfeüer, u. oben bey Lachen u. Uznach den Canonendonner. Eine fürchterlich blutige Schlacht, wo auf beyden Seiten bey 1000den todt geschossen, bey 1000den verwundet, u. bey 1000den gefangen wurden. In dieser schrekensvollen Lage dachten wir immer an unsre Lieben auf Brunnen, und an unsre Lieben in der Stadt. Von den erstern erhielten [wir] Freytags den 27 folgenden Bericht ...
"Unaussprechlich gnädig führte uns der Herr durch den schreklichen Sturm des 25. Die Gefahr war [14] uns noch nie so nahe: d. h. wir waren noch nie so mitten drinnen, wie izt. Die Russen jagten den Franzosen nach bis hieher, u. es wurde rings um unser Haüschen schreklich geschossen, so daß wir uns eine kleine halbe Stunde auf dem Laübli vor der Stubenthüre, wo wir glaubten vor dem Eindringen der Kugeln am sichersten zuseyn, mit unsern Kleinen flehend um Rettung aufhielten. Der Herr half wunderbar; uns geschahe kein Leid; auch von den erhizten Kriegern, die auf der Stelle nachher Brandtwein forderten, wurde uns kein Haar gekrümt: ganz furchtlos reichten wir etwa 20 Russen aus'm Fenster, was sie begehrten: Nachmittag waren sie wilder, raubten in den meisten Haüsern mehr u. minder; nur ein paar Haüser wurden verschohnt: Freünd Nägeli263
Freylich ist die Stadt wieder in französischen Handen. Es seye eine Capitulation vorgegangen; vom nähern wissen wir noch nichts: geraubt soll nicht worden seyn. Aber, ach Gott! wie anders der Ausgang, als die Besten Frömmsten erwarteten; als besonders auch der th[eüre] Heß264
Rudolf Nägeli, Bauer und Seckelmeister aus Kilchberg, heiratete im März 1800 Anna Catharina Brunner, geb. Keller. Die Briefschreiber sind hier die beiden Schwestern Anna Margaretha (Grite) Keller (1763-1820) und Anna Catharina (Cäther) Brunner, geb. Keller (1764-1818), die auf dem Hof Brunnen in Bendlikon (Kilchberg) wohnten.schliessen
und wir gänzlich: weder in sein noch in unser Haus kam den ganzen Tag kein Mensch. Preiset den Herrn mit uns! unser Glaube wurde mächtig gestärkt durch diese wunderbare Rettung. Freylich ist die Stadt wieder in französischen Handen. Es seye eine Capitulation vorgegangen; vom nähern wissen wir noch nichts: geraubt soll nicht worden seyn. Aber, ach Gott! wie anders der Ausgang, als die Besten Frömmsten erwarteten; als besonders auch der th[eüre] Heß264
Johann Jakob Hess (1741-1828), ord. 1760, dann Vikar seines Onkels Kaspar in Neftenbach, anschliessend ausführliches Bibelstudium, Grundlage seines grossen theologischen Werks, 1777 Diakon am Fraumünster, 1777-1795 Präs. der Asketischen Gesellschaft, 1795 Antistes; HBLS IV 208f.; ZhPfrB, 334f.; ADB; G. Gessner, Blicke auf Leben und Wesen von J.J. Hess, 1829, F. Ackva, Johann Jakob Hess (1741-1828) und seine Biblische Geschichte, Bern 1992: Nachlass in ZBZ: FA Hess 1741, und StAZ: Amtsnachlass.schliessen
erwartete. Gott stärke uns mit Muth u. Ruhe zuerwarten, was Er weiter über uns beschlossen hat: Er führet uns an seiner treüen Vaterhand: Ihm lasst uns vertrauen ewig u. ewig." ––
Samstag den 28 erhielten wir von unsern Lieben in der Stadt folgendes ...
"Ja, Liebe! unsre Stadt u. alle an allen allen Orthen unsers ganzen Vaterlands sind in den Händen unsers guten treüen Gottes, der sich, ich mögte sagen, noch nie wie in diesen Tagen als unsern Schuz- u. Rettergott bewiese[n].
O ihr th[eüren] Herzen! welche Schrekens u. Angsttage vom Mittwoch Morgen 5 bis Donstag Mittag 1 Uhr, da die Franzosen hier einzogen! aber der Herr ware mit uns, ist mit uns! wird mit uns seyn!
Viele 1000 u. 1000 der zurük gezogenen Russen zogen bey uns hin u. her, lagerten sich so gar in der Stadt vom Mitwoch auf Donstag dicht vor unserm Hause u. so weit wir sahen: u. nicht eine Seele that uns was Leids: alle alle erregten unser innigstes Mitleid; die meisten, die wir auf die Pferdte steigen sahen am Donstag Morgen, betheten erst, ehe sie aufstiegen.
Mit Sturm wurde die Stadt eingenohmen, und dennoch allmächtig verschont: weder rauben noch plündern ward erlaubt.
Unser Gott hat noch nicht aufgehört, uns zuhelfen; seine Hilfe geht täglich fort mit uns: Er wird dennoch durch alles sein Werk durchführen! Er ist wunderbar verborgen u. dunkel in seinen Wegen: aber dennoch gut u. treü denen, die auf Ihn hoffen; wir schweigen, legen die Hand auf den Mund; schweigen u. bethen an, u. vertrauen fort auf Ihn – Er lässt uns gewiß nicht!
Daß Jemand von uns zu eüch kommen sollte – ist unmöglich u. viel viel zu unsicher: gestern kamen wieder bey 1000 Franzosen von der Kronenpforte265
Denkt auch, der th[eüre] Lavater266
Ach, Liebe, ich bin Todesmüd von allem allem. Alle, die eüch lieben, sind gesund, so wie mans in solcher Zeit seyn kan ..."
O ihr th[eüren] Herzen! welche Schrekens u. Angsttage vom Mittwoch Morgen 5 bis Donstag Mittag 1 Uhr, da die Franzosen hier einzogen! aber der Herr ware mit uns, ist mit uns! wird mit uns seyn!
Viele 1000 u. 1000 der zurük gezogenen Russen zogen bey uns hin u. her, lagerten sich so gar in der Stadt vom Mitwoch auf Donstag dicht vor unserm Hause u. so weit wir sahen: u. nicht eine Seele that uns was Leids: alle alle erregten unser innigstes Mitleid; die meisten, die wir auf die Pferdte steigen sahen am Donstag Morgen, betheten erst, ehe sie aufstiegen.
Mit Sturm wurde die Stadt eingenohmen, und dennoch allmächtig verschont: weder rauben noch plündern ward erlaubt.
Unser Gott hat noch nicht aufgehört, uns zuhelfen; seine Hilfe geht täglich fort mit uns: Er wird dennoch durch alles sein Werk durchführen! Er ist wunderbar verborgen u. dunkel in seinen Wegen: aber dennoch gut u. treü denen, die auf Ihn hoffen; wir schweigen, legen die Hand auf den Mund; schweigen u. bethen an, u. vertrauen fort auf Ihn – Er lässt uns gewiß nicht!
Daß Jemand von uns zu eüch kommen sollte – ist unmöglich u. viel viel zu unsicher: gestern kamen wieder bey 1000 Franzosen von der Kronenpforte265
Stadttor im Norden der Stadt auf dem Gelände der heutigen Universität. Von hier aus führte eine kleine Strasse nach Fluntern, von der kurz nach dem Tor die Hauptstrasse (Oberstrass) nach Winterthur abzweigte; in die Stadt hinein kam man von hier zuerst zum Hirschengraben, dann zum Neumarkt; vgl. Müllerplan.schliessen
her zurük, u. zogen auf die andre Seite von der Stadt: das zeügt von keiner Sicherheit; wir müssten fürchten eingeschlossen zuwerden, wenn Jemand es wagte, zu eüch zugehen. Haben wir schon lange sagen müssen, wir wissen nicht, was morgen seyn wird – so müssen wirs gewiß izt noch mehr sagen: wir müssen halt noch warten u. in der Stille auf den Herrn vertrauen. Denkt auch, der th[eüre] Lavater266
Johann Caspar Lavater (1741-1801), Sohn des Johann Heinrich, Arztes, und der Regula Escher vom Glas, verh. 1766 mit Anna Schinz; ord. 1762, 1765 Mitglied der Helvetischen Gesellschaft und Mitarbeiter am Erinnerer, 1769 Diakon, 1775 Pfr. am Oetenbach, 1778 Diakon, 1787 Pfr. an St. Peter. Mit seinen Werken, bes. den Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1783-1787) und den Aussichten in die Ewigkeit (1768/69) wurde er eine europäische Berühmtheit, unterhielt Kontakt mit u.a. Spalding, Herder, Jung-Stilling, Claudius, Goethe; HBLS IV, 636; ZhPfrB, 403; Killy VII, 181-183.schliessen
wurde von einem Streifschuß bleßirt, doch hoft man, nicht gefährlich. Im Niederdorf wurde noch mit Canonen geschossen. Ach, Liebe, ich bin Todesmüd von allem allem. Alle, die eüch lieben, sind gesund, so wie mans in solcher Zeit seyn kan ..."
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