1.5.–4.5.1804
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Dienstag den 1 May

Konnt ich meinen Lieben folgende Zeilen schreiben ...
"Um halb 10 Uhr gieng ich aus, um beym Storchen2113
Wirtshaus an der Limmat, "an der Wühri", Nähe Weinplatz, gegenüber vom Gasthaus Schwert "an der unteren Brugg".schliessen
zuschauen, wen ich von den l[ieben] Berneroffizieren noch antreffe – denn man sagte mir, Herr Oberst Kirchberger2114
Ludwig Friedrich Kirchberger (1775-1815), 1792-1785 Offizier in holländischen Diensten, als Oberstleutnant Mitglied der Militärkommission, dessen Bataillon 1804 als Hilfstruppe in den Bockenkrieg gesandt wurde, 1804-1815 Salzbuchhalter, 1807-1815 bernischer Grossrat; vgl. Hauschronik, 50f., 162f.schliessen
werde kaum mehr hier seyn. Siehe nun, da ich zur Helferey bey St. Peter2115
Wohnung des Helfers von St. Peter, Ecke St. Petershofstatt, schräg gegenüber vom Pfarrhaus; Helfer zu St. Peter war damals Johann Heinrich Breitinger (1774-1848), ord. 1796, Hauslehrer im Pfarrhaus Kilchberg bei Pfr. Wirz, 1797 Pfr. in Herbishofen, 1802 Diakon, 1830 Pfr. an St. Peter; ZhPfrB, 214.schliessen
kam – kam eben daher gegangen der, den ich ammeisten noch zusehen wünschte, der l[iebe] Kirchberger: Er schaute mich an – ich Ihn! Ha, rief er, sind sie hier! u. sprang herzlich auf mich zu: Er fragte mich so gleich eüch allen nach, u. was ihr machet, u. wie die Hirzler sich aufführen? Ich sagte ihm, daß ich ihm so eben meine Aufwart habe machen wollen: Er erwiederte, er verreise in ein paar Stunden, indem sein Batallion diesen Morgen schon von hier abmarschirt seye. Noch standen wir ein paar Minuten bey einander, u. dann sagte er: er seye pressirt, u. müsse noch einige Besuche machen; empfahl sich meinem freündschaftlichen Andenken, u. trug mir die innigsten Grüsse an eüch alle, alle auf; ich konnte ihm herzlich danken für alles, was er uns erwies, u. empfahl uns alle seinem gütigen Andenken. Und so hab ich den l[ieben] Mann noch gesehen, der uns unvergeßlich bleiben wird: ein paar Minuten früher oder späther ausgegangen, oder einen andern Weg nach dem Storchen eingeschlagen – ich hätte ihn verfehlt u. nicht mehr gesehen! Das frappierte mich allso aus der Maaßen, daß ich gerade auf diese Zeit ausgehen, u. gerade den Weg einschlagen musste, den der Theüre daher gezogen kam. Warlich der Herr leitete meinen Gang, u. führte mir den Lieben zu! U. so wäre diese wichtige Commißion zu meiner u. eürer Freüde ausgerichtet. Lebt nun alle wohl, u. die Kinder seyen gut! dann freüt sich ihrer der
Papa."
Ueber diesen meinen Stadtbesuch will ich nun folgende Bemerkungen hieher sezen.
1.
Am Mitwoch den 2 dies[es Monats] erhielt ich einen 4ten Brief von St. Gallen, von der l[ieben] Judith,2116
Judith Hess-Bernet (geb. 1762), Tochter des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, verh. mit Lorenz Hess, Waisenvater.schliessen
voll stärkender Kraft u. labendem Geiste: es scheint meine Beschreibung, die ich ihnen im vorigen Monat von unsrer Lage in der Passions- u. in der Osterwoche gemacht, habe diese 4 Schwestern sehr frappiert u. gerührt: alle sind voll Jubel u. Dank über unsre Errettung. Dieser Juditische Brief gab mir viele Nahrung in meinem Stadtaufenthalt.
2.

Alle Tage besuchte ich die liebe kranke u. schwache Nette2117
Anna Gessner-Lavater (1771-1852), Tochter von Johann Caspar Lavater u. Anna, geb. Schinz, verh. 1795 mit Hans Georg Gessner.schliessen
im Pfarrhaus, die zu ihrer Lage noch einen Gast, Herr Pfarrer Huber von Basel2118
Vermutlich Johann Rudolf Huber (1766-1806), von Basel, evang. Pfr. in Strassburg, 1794 Pfr. in Riehen, 1800 Pfr. an Elisabethen in Basel, Mitglied der Basler Christentumsgesellschaft, Mitbegründer der Traktatgesellschaft und der Basler Bibelgesellschaft, 1798-1801 Hg. des Christlichen Sonntagsblatts nach den Bedürfnissen der Zeit, engere Verbindung zu Lavater seit 1799; Ernst Stählelin, Die Christentumsgesellschaft in der Zeit von der Erweckung bis zur Gegenwart, 79.schliessen
im Haus hat. Es2119
Hier und im Folgenden mundartl. Neutrum für das Femininum; hier: Sie.schliessen
mochte es nur von 11 Uhr Vormittag bis Abends 6-7 Uhr ausser dem Beth erleiden, u. das noch [94] mit viel Schwäche: als ich an einem Abend so bey der Dämmerung allein bey seinem Bethe saß, war es aüßerst traulich gegen mich, wie es das meist gegen uns ist, wenn wir allein bey ihm sind: da fieng es mit mir von den Lieben zu Bändlikon2120
Die Cousinen Anna Margaretha (Grite) Keller und Anna Catharina (Cäther) Nägeli-Keller.schliessen
an reden, u. erzählte mir, die l[iebe] Grite2121
Anna Margaretha (Grite) Keller (1763-1820), Tochter von Elisabeth Gessner-Kellers Bruder Pfr. Heinrich Keller; vgl. auch Hauschronik, 67; Stammbaum Gessner-Keller, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
seye vor etwa 14 Tagen expreß zu ihnen gekommen, um sein Herz gegen sie zuleeren: da hab es ihm u. seinem Mann2122
Hans Georg Gessner (1765-1843), Sohn von Pfr. Caspar Gessner u. der Elisabeth, geb. Keller, Schwager von Diethelm Schweizer, verh. mit 1) 1791 Bäbe Schulthess, 2) 1795 Anna Lavater; ord. 1787, dann Vikar seines Vaters in Dübendorf, 1791 Diakon und 1794 Pfr. am Oetenbach und Diakon am Fraumünster, 1799 Pfr. am Fraumünster, 1828 Pfr. am Grossmünster und Antistes; ZhPfrB, 295; HBLS III, 500; Georg Finsler, Georg Gessner, 1862.schliessen
bekant, daß sie sich am Nägeli2123
Rudolf Nägeli, Bauer und Seckelmeister in Kilchberg, heiratete im März 1800 Anna Catharina Brunner, geb. Keller.schliessen
u. seinen Kindern sehr geirrt haben; daß sie schon in die fürchterlichsten Lagen gekommen, u. vor einem Jahr wirklich für ihns2124
Mundartl. für: es.schliessen
bis zur Verzweiflung; sie dürfens der Bäbe2125
Bäbe Gessner, geb. Hess (1754-1826), Tochter von Hans Conrad Hess, Amtmann am Oetenbach, und Anna Barbara, geb. von Orelli, verh. 1779 mit Hans Caspar Gessner; vgl. Stammbäume Gessner-Keller und Hess-von Orelli, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
auf'm Graben nur nicht ganz sagen, wie sie's haben: aber ihnen müsse es ganz sagen, in welcher Lage sie sich befinden; u. es seye ihnen leid, daß sie's dem Georg so übel aufgenohmen, daß er über die Verheürathung der Cäther2126
Anna Catharina (Cäther) Nägeli, geb. Keller (1764-1818), Schwester von Anna Margaretha Keller, verh. mit 1) 1790 Pfr. Caspar Brunner (gest. 1793), 2) 1800 Rudolf Nägeli.schliessen
mit dem Nägeli so scharf u. derb geredet habe: izt sehen sie's ein, wie recht er – wie recht die Lieben im Hirzel gehabt haben: u.s.f. Ueber dies Sündenbekenntniß freüte ich mich recht sehr: ich sagte zur Nette: wenn die Lieben es nur ganz einsehen, wie sehr sie gefehlt u. geschwärmt haben, so seye schon das eine grosse Erleichterung für sie in ihrer so fürchterlich mißlungenen Lage: u.s.f. Nachher ward ich inne, daß Grite, die sonst alle Frühling zu uns in Hirzel gekommen, nun für 10 Tage nach Elgg2127
Wahrscheinlich zu Johann Heinrich Cramer (1739-1809), evt. ein Onkel mütterlicherseits, seit 1780 Pfr. in Elgg.schliessen
wolle. Arme Seele! musste ich denken, warum auch so der Zerstreüung nachgehen, da Stille u. Traulichkeit ihm nun so nöthig wäre? Aber schon oft, wenn diese Lieben in solche Lagen gekommen, haben sie uns mehr geflohen als gesucht.
Der liebe Georg war auch gar traulich gegen mich; er aüßerte sich, es könne ihn recht freüen, daß mir in dieser Zeit so viel für meine Gemeine zuthun gegeben worden sey: die Offiziere, die bey uns gewesen, haben ihm gesagt, wie wohl es ihnen bey uns gewesen; sie freüen sich, uns kennen gelernt zuhaben, u.s.f.
3.

Auf'm Graben2128
Haus der Familie Gessner am oberen Hirschengraben; dort wohnten Kaspar und Bäbe Gessner-Hess mit ihren Kindern, nach deren Tod bezog es die mit Johann Wichelhausen verheiratete Tochter Elisabeth Wichelhausen-Gessner; nach deren Hinschied ging das Haus in den Besitz von Johann Bernhard und Johanna Spyri, geb. Heusser über.schliessen
war ich auch einige Male; aber nie kam ich zu einem traulichen Worte. Der l[iebe] Caspar Vater2129
Hans Caspar Gessner (1748-1828), Sohn von Pfr. Caspar Gessner und der Elisabeth, geb. Keller, verh. 1779 mit Bäbe Hess; Tuchpresser; Stammbaum Gessner-Keller, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
sieht wie ein armer Müdling aus; Bäbe hat Husten, Beschwerden, u. ist mit Sorgen überhaüft. Der junge Caspar2130
Der älteste Sohn Kaspar Gessner (1780-1812), Sohn des Hans Caspar Gessner und der Bäbe, geb. Hess, Tapezierer; verh. 1807 mit Anna Lavater, Tochter des Horgener Pfarrers Johann Kaspar Lavater, spätere Frau von Birch, Stiefmutter von Salomon von Birch; Hauschronik, 58.schliessen
war artig gegen mich: u. mit dem l[ieben] Jaque2131
Jakob Gessner d.J. (1782-1806), dritter Sohn von Hans Caspar Gessner und Bäbe, geb. Hess; ord. 1804, Vikar in Horgen, 1805 Katechet in Oberstrass, verfiel in Melancholie und hungerte sich zu Tode; ZhPfrB, 296.schliessen
spazierte ich einen Abend allein, wo uns recht wohl bey einander war: das Settli u. sein Wichelhausen2132
Die erst vor kurzem verheirateten Elisabeth und Johann Wichelhausen-Gessner; vgl. Tagebucheintrag vom 13.3.1804.schliessen
waren ganz kalt gegen mich; keines fragte, was die Tanten u. Kinder machen? keines gab einen Laut von Dank für die Haussteüer2133
Vermutl. im Sinne von "Aussteuer".schliessen
oder von Freüde darüber: überall2134
überhaupt.schliessen
nichts redten sie mit mir, ausser Sette das einige Wort – es scheint, es habe keines der aeltern Kinder mit eüch in die Stadt kommen könen. Woher diese Kälte weiß ich nun nicht: das aber habe ich bemerkt, daß diese jungen Eheleüte nur sich u. außer sich Niemand andern achten u. bemerken: da haben sie immer nur mit sich zuthun, u.s.f.
4.

Im Schönenhof2135
Stadthaus der Barbara Schulthess-Wolf, an der Ecke Kühegasse (heute Rämistrasse) – Stadelhofgasse gelegen. Seit seiner Heirat mit Anna Schulthess wohnte auch Jakob Gessner d.Ä. dort.schliessen
ward ich aüßerst Liebevoll u. freündschaftlich behandelt: vom l[ieben] Jaque;2136
Jakob Gessner d.Ä. (1759-1823), Schweizers Schwager, Sohn des Caspar Gessner und der Elisabeth, geb. Keller, verh. 1803 mit Anna Schulthess; Offizier in holländischen Diensten bis 1795, Oberrichter in Zürich, 1803 Stadtrat, 1805 Statthalter des Bezirks Zürich; vgl. Stammbaum Gessner-Keller, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
versteht sich das perse2137
Lat. per se: von selbst.schliessen
aber auch seine Nannette2138
Anna Gessner, geb. Schulthess (geb. 1775), verh. seit dem 18.10.1803 mit Jakob (Jaque) Gessner.schliessen
war gar herzig gegen mich u. offen: es redte so gar mit mir über seine vereitelte Schwangerschaft, was gewiß viel ist, da sie sonst vorher aüßerst scheüch gegen mich war: die Liebe war schon an die 3 Monate schwanger, u. daher betrübte es beyde gar sehr, daß es anders ward: die Liebe ist nun jedoch wieder gesund u. wohl; u. die Hofnung zu Kindern ist ihnen doch nicht ganz genohmen.
5.
Die Jgfr. Tante schien mich diesmal recht gern in ihrem Logis zu haben; sie war gar leütselig u. aufgeraümt; u. hörte es gern, wenn ich ihr von unsrer Lage u. von allem erzählte, wie wirs in der Charr- u. Osterwoche hatten: besonders freüte sie sich, daß wirs so wohl mit den Herrn Offiziers konten, u. die so zufrieden mit uns waren.
6.

Die l[iebe] Cäther Kramer2139
Anna Catharina Cramer (1765-1826), Tochter des Metzgers Caspar Cramer und der Anna Cramer-Jenny (geb. 1737), eine Nachbarin der Keller im Kleinod, verh. 1806 mit Landschreiber Johannes Fries (geb. 1755); vgl. Stammbaum der Familien Wirz, Fries, Heim, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage.schliessen
entschloß sich mit mir heim zugehen, u. ein paar Frühlingstage bey uns zuzubringen. Freytag Morgens den 4 d[es Monats] verreissten wir nach 8 Uhr, wo die Liebe auf'm Weg nach Kilchberg über vieles sehr vertraulich mit mir redete: unter anderem sagte es mir – der Revolutionair Obmann Füssli,2140
Johann Heinrich Füssli (1745-1832), "Obmann Füssli", Schwiegervater von Pfr. Hans Heinrich Wirz (1756-1834), Pfarrer in Kilchberg; Schüler Steinbrüchels und Nachfolger Bodmers, 1777 Mitglied des Grossen, 1785 des Kleinen, 1793 des Geheimen Rats, 1798 Mitglied der Landeskommission, am 17.8.1800 Mitglied des gesetzgebenden Rats der Helvetik, später Senator und am 12.4.1802 einer der Urheber des unitarischen Staatsstreiches, 1803-1829 Mitglied des Grossen Rats, 1805-1821 Redaktor der NZZ; HBLS III, 357. Seine Parteinahme für die Unitarier und seine Zustimmung zum Beschluss vom 11. September 1802, "mit Güte oder Gewalt auf dem Einlass der helvetischen Truppen in Zürich zu bestehen", hatte ihn bei den konservativen Vertretern der Stadt verhasst gemacht; seine Wahl in den Kleinen Rat wurde erfolgreich hintertrieben; vgl. Brunner, Der Kanton Zürich in der Mediationszeit, 37.schliessen
seye so verlumpet2141
Mundartlich für: bankrott.schliessen
daß er seinen Töchtern von der ersten Frau jeder nur noch 1000 fl.2142
Abk. für Florin = Gulden; Schweizers Pfrundeinkommen beläuft sich etwa auf 500 fl. jährlich.schliessen
geben könne; alles Uebrige habe er verbutzt:2143
Mundartlich für: verprasst, ausgegeben.schliessen
u. von einem andern angesehenen Bürger sagte es mir, er habe schon 70000 fl. von den Mitteln seiner reichen Frau verbraucht, u.s.f. mir schauerte ab dem u. vielem andern, das die Liebe mir entdekte. Unter diesen u. andern Gesprächen langten wir nach 10 Uhr im Pfarrhaus Kilchberg2144
Das Pfarrhaus von Hans Heinrich Wirz (1756-1834) und der Anna, geb. Füssli (1768-1842).schliessen
an, wo wir von den Lieben daselbst mit inniger Freüde empfangen wurden, u. bey ihnen zu Mittag spiesen. Unter vielen Gesprächen, die geführt wurden war die Zeit unsres Seyns daselbst bald verstriechen: nach 1 Uhr verabscheideten wir uns bey den Lieben, u. wanderten langsamen Schrittes durch den Forst dem Hirzel zu, allwo wir nach 6 Uhr anlangten, u. mit inniger Freüde von den Meinen empfangen wurden. Herzlich wohl that es mir, sie wieder zusehen u. unter ihnen zuseyn; u. meinem Gott dankte ich, daß Er sie alle so wohl bewahret hat. Nicht das mindeste Böse wiederfuhr ihnen; auch kam Niemand mit bösen Gerüchten zu ihnen: sie blieben die ganze Woche allein. Für alles sey meinem Gott Lob u. Dank gesagt!
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