1.2.–18.2.1800
Aus einem Brief an B. Bernet355
"Das beschränkt scheinende Herschen des Herrn in seinem 1000jährigen Reich wird sich nach der allerlezten Katastrophe des Weltenrevolutionirens ganz gut souteniren:363Mat. 22,14 ; damit wird das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl abgeschlossen.schliessen gegen die ungedenkbare Zahl Menschen, die diese ihre hohe Bestimmung erreichen sollten, werden nur wenige seyn, die sie durch Verleügnung ihrer selbst u. durch den Leidens u. Kreuzesweg erklimmen werden."
Anna Barbara Bernet (1757-1818), heiratet 1808 Kaspar Steinmann.schliessen
in St. Gallen. 1.
"Das Fortleben unsers unsterblichen Geistes nach dem Tode wird in der H[eiligen] Schrift nirgends Auferstehung der Todten genannt, u. kan auch nicht so genannt werden. Auferstehung sezt etwas physisches, Leibliches zum voraus, das sterben kan. Die erste u. zweite Auferstehung356 umfasst durchaus einen Leib, der aus dem Tode erwekt wird. Und da wissen wir ja, daß wir unsern zukünftigen Herrlichkeitsleib in unserm gegenwärtigen sterblichen Erdenleib haben, wie der ausgestreüte Saame das zuwerdende Aehre in sich hat: können uns dabey auch denken, daß unser Herrlichkeitsleib aus unserm verstorbnen Erdenleib heraus schleüfen357Mundartl. "schlüüffe": schlüpfen.schliessen
könne, wie aus der Puppe der bunte Schmetterling heraus schleüft. Verzeihen Sie, daß ich dies Bild schon wieder brauche: es hat etwas aüßerst Deütendes für mich: wenn in das Sichtbare das Unsichtbare, in das Irdische das Himmlische, in daß Zerbrechliche das Unzerbrechliche eingehüllet ist – wie, kan nicht auch in die Umwandlung der Rauppen in eine Puppe – der Puppe in einen Schmetterling die Auferstehung der Todten eingehüllet seyn? u. die Kürze dieser Umwandlungen uns auf eine baldige Auferstehung von dem Tode führen?"358Schweizer bezieht sich hier nicht nur auf biblische Texte v.a. aus der Offenbarung, er steht auch in der Tradition der im späten 18. Jahrhundert international geführten Unsterblichkeitsdiskussion, an der sich in Zürich Lavater prominent beteiligt hat; vgl. Lavaters Buch Aussichten in die Ewigkeit und sein Briefwechsel mit Bonnet; dazu Gisela Luginbühl, Der Briefwechsel Lavater-Bonnet und die dort angegebene Literatur.schliessen
2.
"Nicht aller u. jeder Glaube an Jesus Christus macht der ersten Auferstehung fähig u. würdig: nur der Glaube an Ihn – wie die Schrift sagt,359Vgl. Off. 20,4 : Die Stelle spricht von denen, die "um des Zeugnisses über Jesus und um des Wortes Gottes willen" enthauptet worden waren.schliessen
verschafft uns dies hohe Vorrecht. Und da schliesst dieser schriftmässige Glaube an Jesus Christus viel Hohes, Grosses u. vollkomenes in sich, daß ein H[eiliger] Paulus sehr wohl sagen konnte: "Ich hab es noch nicht, ich jag ihm aber nach, ob ichs ergreifen möge?"360Vgl. Brief des Paulus an die Philipper, Phil. 3,12 : "Nicht dass ich es schon ergriffen hätte oder schon zur Vollendung gekommen wäre; ich jage ihm aber nach, ob ich es wohl ergreifen möge, weil ich auch von Christus Jesus ergriffen worden bin."schliessen
welches Wort uns zeiget, daß der schriftmässige Glaube an Jesus Christus nach der ersten Auferstehung zu kämpfen und zu ringen habe bis auf den lezten Punkt unsers Erdenlebens. Und, wenn nur der schriftmässige, aus der Schrift hergenohmene u. aus der Schrift erleüchtete Glaube an Jesus Christus zu der ersten Auferstehung hinführet – wie auffallend ists dann, daß nur die Heiligen im Licht zu der kommen u. gelangen könen: u. daß tausend u. tausend Menschen an Jesus Christus glauben u. im Glauben an Ihn sterben könen, die aber nicht zur ersten Auferstehung gelangen werden, weil ihr Glaube an den Herrn von wahrer Schriftlichkeit nicht tingirt361Von lat. tingere: gefärbt.schliessen
ist." 3.
"Es will mich bedünken, man müsse die grosse wichtige Wahrheit von einer ersten Auferstehung der Todten nicht aus einzelnen Schriftstellen, sondern im grossen Ganzen des in der Schrift uns geoffenbarten göttlichen Plans faßen u. erfaßen. Im grossen Ganzen der Schrift stellt sich uns alles im lieblichsten Licht dar, u. einzelne sich wiedersprechen scheinende Schriftstellen einigen sich in der schönsten Harmonie. Und dann müssen wir bey dieser Schriftlehre wie bey jeder andern auch an das denken, "daß unser Wissen auf Erden nur Stükwerk seye, daß wir hier immer nur durch Spiegel sehen:"362Vgl. 1. Kor. 13,12 .schliessen
u. allso beynahe von nichts zu einer ganz deutlichen klaren vollkommnen Erkenntniß gelangen könen." 4.
"Das beschränkt scheinende Herschen des Herrn in seinem 1000jährigen Reich wird sich nach der allerlezten Katastrophe des Weltenrevolutionirens ganz gut souteniren:363
Von frz. soutenir = unterstützen.schliessen
wir werden Ihn – dem alle Reiche der Erde gehören anbethen als den Allstarken, der alle Afterstarken unter seinen Szepter bringen wird. Das 1000jährige Reich Jesu ist nicht sein ewig währendes Königreich: es ist nur Symbol von dem; anfängliche Darstellung von demselben. In dem 1000jährigen Reiche Jesu wird vieles zur Reife kommen, was auf Erden dahinten geblieben, u. was doch zum unvergänglichen Reich des Herrn in der Ewigkeit gehört. Daher auch noch viele Berufene in dem Vorreich – dem 1000jährigen werden zugeschnitten u. geformt u. gebildet werden, um zum Besiz des ewigen Herrlichkeitreiches des Herrn zugelangen. Nur in diesem Sinn kan ich zu Ihrer Idee von den Berufenen stehen: ich kan mir unter diesen keine Mittelklasse zwischen Gerechten u. Ungerechten denken: sie müssen den Saamen der Gerechten schon in sich tragen, wenn sie nachher zu denen sollen erzogen werden. U. wer unter den Menschen trägt diesen Saamen nicht in sich? auch der böseste, Gottfernste Mensch hat noch Anlage in sich, gut u. gerecht zuwerden. Daher alle Menschen berufen sind, alle Menschen zur Königs-Hochzeit364Vermutlich ist hier das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl und vom Gast ohne Hochzeitskleid gemeint; vgl. Mat. 22,1-14 ; Luk. 14,15-24 .schliessen
eingeladen, alle Menschen zur Arbeit im Weinberg365Vgl. das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Mat. 20,1-16 .schliessen
berufen u. gedungen werden: aber dennoch sind wenige auserwählt:366––
An Sabina Rietmann.367Sabine Rietmann (1774-1808), Tochter des Hans Jakob und der Sabina, geb. Huber, verh. 1801 mit Johann Jakob Bernet, vgl. die Tagebucheinträge am Ende dieses Briefes (Verlobung) und am 25.10.1801 (Hochzeitstag).schliessen
"Ich habe, m[eine] Th[eüre]! eben nicht viele Gründe, warum ich für dies Jahr Hofnung zum Frieden habe: mein Hauptgrund ist der ...
[19] Wenn es nicht ganz dem Ende der Welt zugehet, wie noch Niemand mit Gewißheit annehmen kan, so muß, wenn wir u. unser Vaterland nicht ganz zu Grunde gehen sollen, unser Gott ins Mittel tretten, u. der fürchterlichen Unordnung u. Zerrüttung, unter der alle kirchlichen u. politischen Bande zerrißen sind, ein Ende machen."
Dies ist mein Glaube u. meine Hofnung: u. ich arbeite mich mit meinem Gebeth durch allen nur allzu wahr herrschenden Leichtsinn u. durch alle nur allzu wahre Nichtdeemüthigung unsers Volkes vom Grösten bis zum Kleinsten hindurch, daß ich in meiner Hofnung nicht zu Schanden werde. Aber ja nur von Gott erfleh ich den Frieden für unser armes zerrüttetes u. ausgesognes Vaterland. Die Menschen könen da wenig machen. Der Friede, den wir u. so viele unsrer Brüder bedürfen, muß im Himmel gemacht und ratifizirt werden. O daß die Gesandten, welche die Länder u. Völker der Erde droben im Himmel haben, bald zusamen träten u. den Herrn bittend fragten: [19] Wenn es nicht ganz dem Ende der Welt zugehet, wie noch Niemand mit Gewißheit annehmen kan, so muß, wenn wir u. unser Vaterland nicht ganz zu Grunde gehen sollen, unser Gott ins Mittel tretten, u. der fürchterlichen Unordnung u. Zerrüttung, unter der alle kirchlichen u. politischen Bande zerrißen sind, ein Ende machen."
"Herr! dürfen wir für die Erde machen den Frieden??"
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Die l[iebe] S. Rietmann schrieb mir, daß sie mit dem jüngsten Bernet368Johann Jakob Bernet (1775-1874), jüngster Sohn des Ratsherrn Caspar Bernet und der Cleophea, geb. Weyermann, Gerber.schliessen
verlobt seye. ––
